Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

heißt es dazu aus dem Team Draghis. Da-
gegen sprächen zu viele Argumente, vor
allem die hohen Sparquoten in nahezu al-
len Teilen der Welt. So legen allein die Chi-
nesen, die fast ein Fünftel der Weltbevöl-
kerung stellen, mehr als 30 Prozent ihres
verfügbaren Einkommens beiseite, auch
weil sie sich nicht darauf verlassen können,
dass der Staat im Alter für sie da ist. Die
steigende Lebenserwartung sorge auch im
Westen dafür, dass die Menschen mehr spa-
ren müssten, um für die Rente vorzusorgen,
die sehr viel länger dauert als früher. Das
alles seien gravierende strukturelle Verän-
derungen, so sehen sie das in der EZB, ver-
gleichbar allenfalls mit dem Klimawandel.
Der gehe ja auch nicht mehr weg.
Für die Deutschen ist das bitterer als für
andere, aber, und das machte Draghi im-
mer wieder deutlich, das sei nun einmal
der Auftrag der EZB: die Eurozone zusam-
menzuhalten, nicht Einzelinteressen zu
bedienen, etwa höhere Zinsen für deut-
sche Sparer.
Der Italiener glaubte, die Deutschen
müssten ihm zutiefst dankbar sein, dass
er die Mittel der EZB voll ausschöpfte, um
den Euro zu retten, von dem Deutschland
wohl mehr als alle anderen Volkswirtschaf-
ten der Eurozone profitierte. Weil die
schwarze Null im deutschen Bundeshaus-


halt nur so möglich war, denn der Staat
muss viel weniger Zinsen zahlen. Weil der
Exportchampion stark von der Rettung
Spaniens, Italiens, Griechenlands profitier-
te. Weil der im Vergleich zur D-Mark
schwächere Eurokurs die deutsche Wirt-
schaft profitabler und weniger rezessions-
anfällig macht.
Und so entwickelte sich in den vergan-
genen Jahren der immer gleiche Schlagab-
tausch. Die Deutschen fordern die EZB
wütend auf, endlich die Zinsen zu erhöhen,
damit sie wieder ordentlich sparen können.
Die EZB-Führung andererseits bekniete
die Bundesregierung geradezu, das mit
dem Sparen zu lassen und endlich mehr
Geld auszugeben, zu investieren. Früher
hätte der Staat nicht so sehr auf die ma-
kroökonomischen Risiken schauen müs-
sen, sagt Philip Lane, der Chefvolkswirt
der EZB, in der verschraubten Sprache der
Notenbanker. Früher, »in normalen Zei-
ten«. Aber heute, angesichts dauerhaft
niedriger Inflation und geringen Wachs-
tums, sei das anders, »da muss die Fis -
kalpolitik handeln und ihre Spielräume
nutzen«.
Den Zentralbankern wird ihre eigene
Machtfülle sichtlich unbehaglich. Die Ge-
schicke Europas werden zurzeit wesentlich
von einer Institution gesteuert, die keinem

Parlament Rechenschaft schuldig ist und
deren Führung nicht gewählt wird. Doch
die EZB hat die Macht nicht der Politik
entrissen. Sie wurde ihr aufgedrängt. Von
der Politik. Seit Jahren legen die europäi-
schen Regierungen keine klaren finanz -
politischen Konzepte vor, verweigern Re-
formen, lehnen neue Wege ab, ignorieren
sie die veränderten volkswirtschaftlichen
Rahmenbedingungen. Die politische Un-
tätigkeit hinterlässt ein Vakuum, in das die
EZB notgedrungen stieß.
Vor knapp zwei Wochen fand die Ab-
schiedsfeier von Mario Draghi statt, in der
großen Aula im Erdgeschoss des EZB-Dop-
pelturms, der wie ein Solitär einsam am
Nordufer des Mains emporragt. Die Bun-
deskanzlerin hielt eine Festrede: »Lieber
Mario Draghi, ich danke dir von Herzen.«

Boston, Washington: Larry Summers
berät erst Barack Obama und versteht
dann die Welt nicht mehr. Ein »schwarzes
Loch« bedroht die Wirtschaft.

Larry Summers ist ein Mann, der sich
durchaus zutraut, komplizierte finanzpoli-
tische Dinge zu verstehen und auch erklä-
ren zu können. Er war Finanzminister des
ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton.
Er war der oberste Wirtschaftsberater von

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 17


Titel

KEVIN COOMBS / REUTERS
Lehman-Banker in London 2008: Was, wenn der nächste Crash kommt?
Free download pdf