Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
man gegensteuern, wie eine Depression
verhindert werden?
Den Finanzpolitikern und Zentralban-
kern fehlen gerade wesentliche Steue-
rungsinstrumente, genau so einen Kollaps
zu verhindern, eine Krise hinauszuzögern,
einen Crash abzuschwächen.
Noch mal zurück zu Larry Summers.
Er spricht von den »zunehmend toxischen
Nebenwirkungen« der dauernden Nied-
rigzinsen. Und dieses Gift sieht dem, das
die große Krise von 2009 verursachte, ver-
dammt ähnlich. Vor allem die Blasen, die
sich gerade in allen möglichen Anlagefor-
men aufblähen.
»Die Politik muss drastisch eingreifen«,
sagt Summers. »Sie muss investieren, dra-
matisch mehr als bisher.« In öffentliche
Projekte, aber auch in Altersvorsorge, so-
dass die Menschen weniger Drang zum
Sparen verspüren.
Er wisse schon, sagt Summers, dass die-
se Ratschläge gerade von den deutschen
Politikern nicht gern gehört werden, »we-
gen der veralteten Vorstellungen von fi-
nanzieller Stabilität«. Doch was früher
richtig war, sei heute eben falsch, da ist
sich Summers sicher. Finanzpolitische
Stabilität bedeute heute soziale Instabili-
tät: langsames Wachstum, Handelskonflik-
te, wachsende Arbeitslosigkeit in Krisen-
zeiten. Unsicherheit in der Bevölkerung.
Mit all ihren politischen Konsequenzen.
Ist Deutschland dafür gewappnet?
Finanziellen Spielraum, so viel ist sicher,
hat das Land. Die Bundesregierung hat
mehr als hundert Milliarden Euro in den
vergangenen zehn Jahren gespart, weil die
Zinsen nach und nach unter die Nulllinie
sanken. Aktuell zahlen die Anleger der Re-
gierung sogar Geld dafür, ihre Wertpapiere
kaufen zu dürfen.
Zugleich stieg das Steueraufkommen –
auch dank einer durch den niedrigen Euro
angefeuerten Exportwirtschaft. Seit 2009,
so zeigen die Statistiken, sind die staatlichen
Einnahmen um mehr als 250 Milliarden
Euro gestiegen, mehr als zwei Drittel eines
Jahreshaushalts. Und die Große Koalition
schüttete einen Großteil des Geldes wieder
aus: Renten für Mütter und langjährig Ver-
sicherte, Kita-Ausbau und Kinderzuschlag,
Pflegeoffensive und Baukindergeld.
Das politische Kalkül dahinter war natür-
lich auch: den Bürgern in unsicheren Zeiten
mehr Sicherheit zu geben. Doch anders als
erhofft, hat das die Stimmung in der Bevöl-
kerung kaum verbessert. Auch das scheint
nicht mehr so zu funktionieren wie früher.
Bundesfinanzminister Scholz kennt die
Argumente von Larry Summers, er kennt
die Forderungen seiner Amtskollegen in
den USA, Frankreich, England: Gebt end-
lich mehr Geld aus in Deutschland! Ihr
müsst investieren statt sparen! Nur so gehe
es aufwärts mit der Wirtschaft. Und nur
so könne man auch die vermeintliche Ohn-

macht der Zentralbanken brechen: mit
einer expansiven Finanzpolitik, die nied-
rige Zinsen und Eingriffe der Zentralbank
unnötig macht.
Doch kann das ein deutscher Politiker
laut sagen, dass Sparen schädlich ist in die-
sen Zeiten? Dass ein ausgeglichener Haus-
halt ein Ideal einer anderen Zeit war, dass
es endgültig passé ist, das Leitbild der
schwäbischen Hausfrau?
Scholz ist sichtlich bemüht, sich vom all-
gemeinen deutschen EZB-Bashing abzuset-
zen. Vor allem vom Satz seines Vorgängers
Wolfgang Schäuble (CDU), wonach die Er-
folge der AfD mit der EZB-Politik zusam-
menhingen. »Die EZB hat wesentlich dazu
beigetragen, dass die Währungsunion die
Eurokrise überwunden hat«, sagt Scholz.
»Es ist kompletter Unsinn, den Aufstieg des
Rechtspopulismus in Deutschland auf die
Politik der EZB zurückzuführen«, sagt er.
Schließlich gebe es »den rechten Populis-
mus auch in Ländern, in denen der Euro
nicht die Landeswährung ist; wie in der
Schweiz, in Dänemark, in Schweden«.
Dahinter steht auch die Frage: Was pas-
siert nun, wenn noch jahrzehntelang Nied-
rigzinsen anstehen und viele Bürger die
Schuldigen dafür bei der EZB, bei der
EU ausmachen? Wenn die Kernnation
Deutschland ernsthaft beginnt, an Europa
zu zweifeln, wird es gefährlich.
Von der alten finanzpolitischen Doktrin,
dass Sparen immer besser sei als Ausge-
ben, rückt Scholz behutsam ab. »Wir nut-
zen unsere Möglichkeiten für eine expan-
sive Finanz- und Haushaltspolitik«, sagt
er. »Wir investieren so viel wie schon lange
nicht mehr in die Infrastruktur.« Folgen
soll nun ein großes Bauprogramm. »Wenn
wir es hinbekämen, jedes Jahr 300 000 bis
400 000 neue Wohnungen zu bauen, da-
runter 100 000 Sozialwohnungen, wäre das
eine wirksame Maßnahme« – auch gegen
steigende Immobilienpreise und Mieten.
Es ist ein Anfang. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger. Und es ist eine schlichte Not-
wendigkeit. Denn Niedrigzinsen bedeuten
im Verhältnis Bürger und Staat auch eine
Machtverschiebung. Staaten sind immer
schon die größten Schuldner gewesen, sie
profitieren also überproportional von nied-
rigen Zinsen – und sie profitieren auch auf
Kosten der Bürger, die traditionell die
wichtigsten Gläubiger sind. Es wäre also
nur recht und billig, wenn der Staat die fi-
nanziellen Freiräume, die er gerade ge-
winnt, an seine Bürger zurückgibt.
Tim Bartz, Martin Hesse, Anton Rainer,
Michael Sauga, Thomas Schulz

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Titel

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019

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