Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

kanerin, »schaue ich ständig über die
Schulter, wenn ich auf der Straße unter-
wegs bin« – deshalb darf der echte Name
der Frau auch nicht genannt werden. Der
Staatsschutz bestätigt den Vorgang.
Obwohl es bereits seit mehr als einem
Jahr Hinweise auf einen deutschen Able-
ger der ultraextremen Gruppe gibt, war
die »Atomwaffen Division« lange nur
Fachleuten ein Begriff. Nun ließ Bundes-
innenminister Horst Seehofer (CSU) ver-
künden, die Sicherheitsbehörden verfolg-
ten das Treiben der Truppe »intensiv«.
Anlass für die Aufmerksamkeit des Mi-
nisters: Die grünen Bundestagsabgeordne-
ten Cem Özdemir und Claudia Roth ha-
ben am 27. Oktober E-Mails erhalten, in
denen ihnen mit Mord gedroht wird.
»Auch Sie linke Türkensau haben es nun
auf unsere Todesliste geschafft«, schrieb
der Verfasser mit dem Namen »atom11«
an Özdemir. In der E-Mail an dessen Par-
teikollegin Roth stand: »Sie sind zurzeit


Platz zwei auf unserer Abschussliste.« Die
Drohungen endeten »mit freundlichen
Grüßen Atomwaffen Division Deutsch-
land«.
Die E-Mails sind Teil einer rechtsextre-
men Hasswelle, die seit Monaten durchs
Land schwappt. »Es geht ein Sturm durch
die Szene«, berichtete Verfassungsschutz-
chef Thomas Haldenwang kürzlich vor Ab-
geordneten des Bundestags. »Wir haben
die Feindeslisten. Wir haben Morddrohun-
gen. Wir haben Bedrohungen. Was soll ich
Ihnen noch alles aufzählen?« Neue An-
schläge seien nicht auszuschließen. Die Si-
cherheitsbehörden hätten mehrere poten-
zielle Terroristen »unter Wind«.
Nur wenige Tage nach dem Auftritt des
Behördenchefs erhielt Michael Roth, SPD-
Staatsminister im Auswärtigen Amt, eine
Mail, in der ihm angedroht wurde, »mit
einem schönen scharfen Messer ein Kreuz
in dein Gesicht zu ritzen. So wegen Ha-
kenkreuz, Du verstehst schon«. Der mut-
maßliche Grund: Roth hatte die AfD als
»politischen Arm des Rechtsterrorismus«
bezeichnet.
Längst haben ähnliche Bedrohungen
auch die Rathäuser erreicht. Jeder fünfte
Bürgermeister berichtet in Umfragen von
Hassmails an ihn oder seine Mitarbeiter.
Oft aber bleibt es nicht dabei: Jeder fünf-
zigste Bürgermeister sagt, er sei auch
schon körperlich angegriffen worden.
Manche überlebten die Attacken nur
knapp.
Henriette Reker lag im Koma, als sie im
Herbst 2015 die Wahl zur Kölner Ober-
bürgermeisterin gewann. Ein Rechtsextre-
mer hatte sie niedergestochen. Immer wie-
der erhält Reker seither Hassschreiben, im
Sommer drohten Unbekannte in einer
Mail mit »Genickschüssen« gegen sie und
andere, die brutalen Zeilen endeten auf
»Heil Hitler«.
Im Juni dann wurde der Kasseler Regie-
rungspräsident Walter Lübcke auf der Ter-
rasse seines Wohnhauses erschossen. Tat-
verdächtig ist der 46-jähri-
ge Stephan Ernst. Es war
der mutmaßlich erste
Mord an einem deutschen
Politiker aus rechtsextre-
men Motiven seit 1945.
Und es war der tragische
Beweis dafür, dass Worten
auch Taten folgen können.
Hunderte rechtsextre-
mer Drohmails erreichen
seit Monaten Politiker, Ge-
richte, Rechtsanwälte, Ak-
tivisten und Journalisten.
Die Absender der Pam-
phlete nennen sich »Wehr-
macht«, »Staatsstreich -
orchester« oder »National-
sozialistische Offensive«.
Zum Teil sind die Schrei-

ben gespickt mit Rechtschreibfehlern, zum
Teil enthalten sie groteske Forderungen:
dass sich die Angeschriebenen für ihre Ta-
ten oder Worte öffentlich entschuldigen
sollen. Dass die Polizei »endlich unter Kon-
trolle« gestellt werde. Mancher Absender
fordert auch die Überweisung von Bit-
coins.
Die Hinterleute der anonym verschick-
ten Hetze sind schwer zu ermitteln. Im
April wurde ein Verdächtiger aus dem
Kreis Pinneberg verhaftet, der sich im In-
ternet als Rechtsextremist präsentiert und
bereits längere Zeit in der Psychiatrie ver-
bracht hat. Doch auch nach der Festnahme
ebbte die Flut an Drohmails nicht ab.
Politik und Behörden stehen der neuen
deutschen Hasswelle teils ratlos gegenüber.
»Beschleunigt durch soziale Medien und
das Internet«, so eine aktuelle Polizei -
analyse, sei zu befürchten, dass Hetze und
die Androhung von Gewalt »als zuneh-
mend hinnehmbar oder gar mehrheitsfä-
hig« erscheinen könnten.
Innenminister Seehofer, Justizministe-
rin Christine Lambrecht und Familienmi-
nisterin Franziska Giffey (beide SPD) stell-
ten vor einer Woche ein Neun-Punkte-Pro-
gramm gegen Rechtsextremismus vor. Be-
treiber sozialer Netzwerke sollen künftig
gezwungen werden, Morddrohungen und
Volksverhetzung bei einer neuen Zentral-
stelle innerhalb des BKA anzuzeigen.
Schärfere Gesetze sind geplant. Ein besse-
rer Schutz für Kommunalpolitiker. Mehr
Polizisten und Verfassungsschützer. Mehr
Geld für Rechtsextremismus-Prävention.
Vieles davon ist sinnvoll, manches über-
fällig. Aber mit schnellen Erfolgen ist
kaum zu rechnen. Bis die Pläne umgesetzt
sind, werden Monate ins Land gehen.
Cem Özdemir bekommt nicht nur Droh-
mails von Rechtsextremisten, sondern
auch von türkischen Nationalisten und
früher von Aktivisten, die der verbotenen
kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe -
stehen. Er kritisiert die Informationspolitik
der Behörden: Von kon-
kreten Bedrohungen ge-
gen ihn erfahre er häufiger
durch Journalisten als
durch Staatsschützer. Als
vor Jahren mutmaßlich
türkische Nationalisten sei-
ne Wohnung ausspionier-
ten, seien es die Nachbarn
gewesen, die sie am Ende
vertrieben hätten.
Informationen für Be-
troffene seien der erste
Schritt, sagt Özdemir, der
bei öffentlichen Veranstal-
tungen Personenschutz be-
kommt. Das Wichtigste
aber sei ein »klares Be-
kenntnis des Staates, dass
der Kampf gegen den

31

Deutschland

gewaltorientierte
Rechtsextremisten
zählte der
Verfassungsschutz
2018 in Deutschland

Rechtsextremistische
Zusammenschlüsse
Beispiele:
Atomwaffen Division (AWD)
Oldschool Society (OSS)
Combat 18
Gruppe Freital

12700


rund
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