Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Rechtsextremismus endlich höchste Prio-
rität hat«. Das vermisse er bislang.
Seine Parteikollegin Claudia Roth sagt,
sie als Abgeordnete habe Möglichkeiten,
sich zu wehren. Vor allem denke sie an die
Kommunalpolitiker oder an Menschen mit
Migrationsgeschichte, die nichts derglei-
chen hätten – etwa an die Anwohner der
Kölner Keupstraße. Vor dem Gedenken
zum 15. Jahrestag des Nagelbombenan-
schlags des »Nationalsozialistischen Unter-
grunds« (NSU) waren dort in der Nähe
Drohbriefe aufgetaucht, im Namen der
»Atomwaffendivision«. »Wie sollen diese
Menschen mit ihrer Angst umgehen und
dem Gefühl, sie wären in Deutschland nicht
erwünscht?«, fragt Roth. »Oder die zahl-
reichen Muslime, deren Moscheen bedroht
werden? Die Jüdinnen und Juden, deren
Einrichtungen bewacht werden müssen?«
Ob die Absender der Drohmails an die
zwei Grünenpolitiker tatsächlich zum
deutschen Ableger der »Atomwaffen Di-
vision« gehören, ist unklar. Es könnten
auch Trittbrettfahrer sein, die den Namen
verwenden, um Angst zu verbreiten. Duk-
tus und Details der Schreiben passen nach
Analyse von Experten nicht zu der bishe-
rigen Propaganda der Neonazis. Selbst die
Schreibweise des Namens unterscheidet
sich von jener, die der deutsche AWD-Ab-
leger bislang in seinen Pamphleten ver-
wendete.
Doch auch wo die internationale Nazi-
gruppe gar nicht selbst aktiv wird, hat sie
Wirkmacht. Sie findet Anhänger, die im
Sinne der Gruppe handeln. Das Prinzip
funktioniert ähnlich wie beim »Islami-
schen Staat«, der sich von einer geschlos-
senen Gruppe zu einer globalen Terror -
bewegung entwickelte.


Fest steht, dass die »Atomwaffen Divi-
sion« in Deutschland aktiv ist. Wie ein In-
sider berichtet, sollen die AWD und ein
weiterer Ableger mit dem Namen »Feuer-
krieg Division« hierzulande mindestens
ein halbes Dutzend Mitglieder zählen.
Recherchen des SPIEGELzeigen zu-
dem, dass deutsche Sympathisanten be-
reits seit 2017 in Austausch mit ihren Ge-
waltidolen in den USA stehen. Mitglieder
der Gruppe aus den Vereinigten Staaten
reisten nach England, Polen, Tschechien,
in die Ukraine – und die Bundesrepublik.
Die Ideologie des vor etwa vier Jahren
entstandenen Netzwerks könnte nicht ex-
tremer sein. Die »Atomwaffen«-Anhänger
propagieren den »Rassenkrieg« und ver-
herrlichen rechtsextreme Terroristen wie
den Oklahoma-Bomber Timothy McVeigh,
den norwegischen Massenmörder Anders
Breivik oder den Neuseeland-Attentäter
Brenton Tarrant. Gewalt, Chaos, Nihilis-
mus – das sind die Ziele der Terrorsekte.
Dutzende Anhänger soll es in den USA ge-
ben, manche vermuten gar bis zu 100.
Das Neonazinetzwerk ist in unabhän-
gigen Zellen von wenigen Mann organi-
siert, nach dem Prinzip des »führerlosen
Widerstands«, der seit Jahrzehnten von
rechtsextremen Ideologen wie etwa dem
US-Nazi James Mason gepredigt wird. In
konspirativen Chats tauschen die »Atom-
waffen«-Fans Guerilla-Handbücher und
Bombenbauanleitungen aus.
Das Schießen lernen die Neonazis in
»Hate Camps«, die etwa in der Wüste von
Nevada stattfinden, mitunter angeleitet
von Ex-Militärs. Nach SPIEGEL-Informa-
tionen soll auch ein Deutscher in die USA
gereist sein, um an einem der Hass-Lager
teilzunehmen.

Damit bestätigt sich, wovor kürzlich die
europäische Polizeibehörde Europol in ei-
nem vertraulichen Papier warnte: dass ge-
waltbereite Rechtsextremisten immer stär-
ker weltweit vernetzt sind und sich gegen-
seitig anstacheln. Wegen der »zunehmend
internationalen Natur der rechtsextremen
Szene«, so schlagen die Experten vor, soll-
ten verdächtige Gruppen und Personen
auf eine EU-weite Terrorliste gesetzt wer-
den – so wie es bei Islamisten der Fall ist.
In den USA werden Anhänger der
»Atomwaffen Division« mit fünf Morden
in Verbindung gebracht. Unter den Opfern
ist der homosexuelle jüdische Student Blaze
Bernstein aus Orange County, Kalifornien.
Der mutmaßliche Mörder, der damals 20-
jährige Samuel Woodward, verherrlichte in
einem Chat die Terrorzelle NSU, die in
Deutschland zehn Menschen ermordet hat:
»Der NSU war ziemlich cool.«
Die Verbindungen der »Atomwaffen«-
Anhänger aus den USA nach Europa ver-
deutlicht auch ein Vorfall vom 28. Dezem-
ber 2018. Kaleb James Cole, der Kopf ei-
ner »Atomwaffen«-Zelle aus dem US-Bun-
desstaat Washington, reiste von London
in die Vereinigten Staaten zurück.
Auf seinem Handy fanden US-Grenz-
beamte Fotos, die ihn und einen weiteren

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Grünenpolitiker Roth, Özdemir: »Klares Bekenntnis des Staates«

Rechter Terror
Gewalttaten mit rechtem Hintergrund
in Deutschland, Auswahl

Juli 2016
In München erschießt David Sonboly neun
Menschen aus rassistischen Gründen, bevor er
sich selbst tötet.

Oktober 2015
Der Rechtsextremist Frank S. attackiert die Ober-
bürgermeisterkandidatin von Köln Henriette Reker
mit einem Messer und verletzt vier weitere
Personen.

November 2017
Angeblich aus Frustration über die lokale Flücht-
lingspolitik greift ein Mann den Altenaer Bürger-
meister Andreas Hollstein mit einem Messer an.

April 2018
In Sachsen foltern Neonazis den homosexuellen
Christopher W. zu Tode. Das Landgericht Chemnitz
verurteilt die Täter wegen Totschlags.
Juni 2019
Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke
wird mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe
erschossen. Tatverdächtig ist der Rechtsextremist
Stephan Ernst.

Oktober 2019
Anschlag auf die Synagoge in Halle. Der Attentäter
Stephan Balliet erschießt zwei Passanten, nachdem
er nicht in die Synagoge eindringen konnte.

Oktober 2016
In Bayern tötet ein Aktivist des Reichsbürger-
milieus einen Polizisten und verletzt drei weitere.
Die Polizisten wollten sein Haus wegen illegalen
Schusswaffenbesitzes durchsuchen.

JAKOB HOFF / IMAGO IMAGES EIBNER / BEC / IMAGO
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