Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
Gorbatschow war Generalsekretär des Zen-
tralkomitees der Kommunistischen Partei
und Staatspräsident der Sowjet union. Er
reformierte sein Reich durch die Politik von
Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offen-
heit) und leitete das Ende des Kalten Kriegs
mit ein. 1990 wurde er mit dem Friedens-
nobelpreis geehrt.
Heute lebt Gorbatschow, 88, in einer
Datscha in einem Vorort von Moskau. Er
mischt sich nach wie vor in politische De-
batten ein. Gerade ist sein neues Buch
in Deutschland erschienen*. Gorbatschow
empfängt den SPIEGELim Büro seiner
Stiftung in Moskau. Er grüßt auf Deutsch.
Wegen seines Gesundheitszustands wurde
ein Teil des Interviews in seinem Büro ge-
führt, der andere schriftlich.

SPIEGEL:Herr Gorbatschow, am 9. No-
vember 1989 fiel die Berliner Mauer. Wie
blicken Sie heute, 30 Jahre später, auf die-
ses Ereignis?
Gorbatschow:Mein Blick auf die deutsche
Einheit ist heute der gleiche wie damals.
Die Vereinigung ist eine meiner wichtigs-
ten Taten gewesen. Sie hat große
Bedeutung im Leben vieler Men-
schen. Ich schätze diesen Tag
sehr. Und ich bewundere alle, die
daran beteiligt waren.
SPIEGEL:Kam der Mauerfall für
Sie überraschend?
Gorbatschow:Nein. Wir ver-
folgten die Ereignisse in der
Deutschen Demokratischen Re-
publik sehr genau. Die Forde-
rung nach Veränderung war im
Land allgegenwärtig. Anfang
Oktober 1989, während der
Feierlichkeiten anlässlich des


  1. Jubiläums der DDR, sah ich,
    wie die jungen Mitglieder der
    Regierungspartei in Kolonnen
    marschierten, ihre Sympathien
    für unsere Perestroika zum Aus-
    druck brachten und skandierten:
    »Gorbatschow, hilf uns!« In den großen
    Städten der DDR fanden spontane De-
    monstrationen statt, die mit jedem Tag
    massiver wurden. Und man sah zuneh-
    mend Transparente mit der Aufschrift
    »Wir sind ein Volk!« Am 18. Oktober
    musste Erich Honecker seinen Posten räu-
    men, er wurde von Egon Krenz abgelöst.
    Doch die Reformen kamen zu spät. In der
    Sitzung unseres Politbüros am 3. Novem-
    ber, eine Woche vor dem Mauerfall, bei
    der Besprechung der deutschen Angele-
    genheiten, sagte der Vorsitzende des Ko-
    mitees für Staatssicherheit: »Morgen ge-
    hen 500 000 in Berlin und in anderen
    Städten auf die Straße ...«


* Michail Gorbatschow: »Was jetzt auf dem Spiel
steht«. Aus dem Russischen von Boris Reitschuster.
Siedler; 192 Seiten; 18 Euro.

SPIEGEL:Welche Handlungsoptionen hat-
ten Sie in Betracht gezogen?
Gorbatschow:Niemand bezweifelte, dass
die Deutschen das Recht hatten, über ihr
eigenes Schicksal zu verfügen. Die Inte-
ressen der Nachbarstaaten und der Welt-
gemeinschaft mussten jedoch auch berück-
sichtigt werden. Meine Hauptaufgabe war
es auszuschließen, dass es zu Gewalt
kommt. Wir verhandelten intensiv mit Hel-
mut Kohl, Krenz, mit den Amerikanern
und Europas Führungsfiguren. Es musste
verhindert werden, dass der Wunsch der
Deutschen nach einer Wiedervereinigung
den Kalten Krieg neu belebt.
SPIEGEL: Forderten die Militärs der
DDR oder der Botschafter der UdSSR in
Ost-Berlin von Ihnen eine Militärinter -
vention?
Gorbatschow:Wir haben mit der politi-
schen Führung der DDR kommuniziert.
Direkte Kontakte zum Militär habe ich nie
gepflegt. Die Aufgabe unseres Botschafters
war es, uns so genau wie möglich über die
Geschehnisse im Land zu informieren und
keine Forderungen zu stellen.

SPIEGEL:Gab es Kräfte, die nach dem


  1. No vember forderten, dass die Mauer
    wiederaufgebaut werde?
    Gorbatschow:Davon ist mir nichts be-
    kannt. Ich schließe aber nicht aus, dass
    einige verantwortungslose Personen oder
    Randgruppen solch eine lächerliche Idee
    diskutiert haben. Wer einen historischen
    Prozess auf diese Weise verlangsamen will,
    handelt wie jemand, der sich auf ein Gleis
    legt, um einen Zug zu stoppen.
    SPIEGEL:Wurden Sie aufgefordert, die
    Grenze zu schließen und Truppen zu
    schicken?
    Gorbatschow:Welche Grenze sollte ge-
    schlossen werden? Wohin sollten die Trup-
    pen marschieren? Auf dem Gebiet der
    DDR befanden sich damals 380 000 sow-
    jetische Soldaten. Sie folgten der Anwei-
    sung, sich nicht einzumischen.


SPIEGEL:Warum haben Sie zugelassen,
dass mit der DDR ein enger Verbündeter
Moskaus fällt? An anderen Orten, wie
etwa 1991 im Baltikum, sind Sie deutlich
härter vorgegangen. Demonstrationen der
Litauer für die Unabhängigkeit des Landes
wurden blutig niedergeschlagen.
Gorbatschow:Wir sahen in der BRD ein
Land, das nach dem Zusammenbruch des
Hitler-Regimes den Weg zur Demokratie
eingeschlagen hat. Und die Wiederver -
einigung wird heute, genauso wie vor
30 Jahren, als die Erfüllung lang geheg -
ter Wünsche der Bürger in Ost- und
Westdeutschland verstanden. Soweit ich
das aus vielen Briefen ersehen kann,
sind sie Russland noch immer für die
Unterstützung dankbar. Sie schieben
mir die Schuld für das Blutvergießen in
Lettland und Litauen zu. Natürlich war
ich als Präsident für all das verantwortlich,
was dort vor sich ging. Aber wenn Sie
die Dokumente aus dieser Zeit stu die-
ren, werden Sie feststellen, dass es mir
stets darum ging, Konflikte politisch zu
lösen.
SPIEGEL:Als Sie 1985 an die
Macht kamen, haben Sie den
Ostblockstaaten signalisiert, dass
sie in der Lage sein müssten, un-
abhängig von Moskau zu existie-
ren. Haben Sie damals schon ge-
ahnt, dass eines Tages die Mauer
zwischen Ost und West fallen
würde?
Gorbatschow:Glauben Sie wirk-
lich, dass die Mauer zwischen
Ost und West unser Idealbild
war? Ein Modell für die Zukunft?
Wir haben die Perestroika ins Le-
ben gerufen, um das Land aus ei-
ner Sackgasse zu führen. Damit
Staat und Wirtschaft florieren,
brauchten wir gute Beziehungen
nicht nur zu unseren Nachbarn,
sondern zur ganzen Welt. Wir
brauchten den Eisernen Vorhang
nicht. Wir wollten die Mauer des Misstrau-
ens zwischen Ost und West beseitigen,
überhaupt jede Mauer zwischen Staaten,
zwischen Völkern, zwischen Menschen.
SPIEGEL:Sie haben Ideen des Marxismus-
Leninismus studiert. Wie kam es, dass Sie
für das Recht der Nationen auf Selbstbe-
stimmung gekämpft haben? Warum hat
ausgerechnet ein Marxist den Fall der Ber-
liner Mauer zugelassen?
Gorbatschow:Wie ich sehe, haben Sie
längst vergessen, was Marx, Engels oder
Lenin geschrieben haben. Oder gar nicht
gelesen? Hier ist ein berühmtes Zitat: »Ein
Volk, das andere unterdrückt, kann sich
nicht selbst emanzipieren.« Lenin schrieb
1914 eine Abhandlung Ȇber das Selbst-
bestimmungsrecht der Nationen«. Dann,
nach der Oktoberrevolution, stritt er mit
Stalin über dieses Thema. Die stalinisti-

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 37

THOMAS IMO / PHOTOTHEK.NET
Jubelnde nach Grenzöffnung 1989: »Noch immer dankbar«
Free download pdf