Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

A


ndreas Kalbitz sitzt vor der blauen
Wand der Bundespressekonferenz
und ist schlecht gelaunt. Es ist der
Tag nach der Landtagswahl in Branden-
burg im September, die AfD ist zweit-
stärkste Kraft geworden. Spitzenkandidat
Kalbitz könnte zufrieden sein, doch ihm
passen die Fragen nicht, die man ihm stellt.
Vor der Wahl hatte es viele Berichte
über Kalbitz und seine Vergangenheit in
der rechtsextremen Szene gegeben, in der
er mehr als sein halbes Leben verbrachte.
Der AfD-Mann ist genervt: »Ich habe kei-
ne rechtsextreme Biografie«, sagt er. Er sei
lange Jahre in der Jungen Union und der
CSU gewesen, dann habe er zwölf Jahre
lang Dienst als Soldat geleistet: »Ich habe
mehr Einsatz für diese Demokratie ge-
bracht, praktisch, als viele andere«, sagt er.
Einsatz für die Demokratie? Daran gab
es schon bei der Bundeswehr, wo Kalbitz
zwischen 1994 und 2005 Soldat auf Zeit
war, offensichtlich Zweifel.
Nach Informationen des SPIEGELwar
Fallschirmjäger Kalbitz im Visier des
Mi litärischen Abschirmdienstes (MAD).
Mindestens drei Gespräche führte der Ge-
heimdienst mit ihm, 2001 baten ihn auch
Bundeswehrleute zum Personalgespräch.
Sie thematisierten die »MAD-Erkenntnis-
se über die Beteiligung an extremistischen
Bestrebungen« und packten einen MAD-
Vermerk in Kalbitz’ Stammakte. Das be-
legen interne Bundeswehr-Unterlagen.
Demnach befragte der Geheimdienst Kal-
bitz zu einer nationalistischen Wallfahrt
in Belgien, an der er sich beteiligt hatte.
Außerdem interessierten sich die Ermittler
für Kalbitz’ Mitgliedschaft in einer rechts-
extremen Organisation. Deren Nachfolge-
organisation steht heute auf der Unverein-
barkeitsliste der AfD.
Der 46-Jährige ist nicht irgendwer in der
AfD, er sitzt im Bundesvorstand, ist Lan-
des- und Fraktionschef in Brandenburg
und Strippenzieher des völkischen »Flü-
gels«, der radikalsten parteiinternen Platt-
form. Dank seines dichten Netzwerks ist
er neben Parteichef Alexander Gauland
der mächtigste Mann der AfD.
Auch deswegen haben ihm die vielen
Berichte über seine rechtsextremen Ver-
bindungen kaum geschadet. Wenn es eng

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Deutschland

sche UdSSR war letztlich ein einheitlicher,
streng zentralisierter Staat. Auch unsere
Verbündeten, die Länder Osteuropas, stan-
den unter strenger Kontrolle Moskaus.
Während der Jahre der Perestroika haben
wir die »Doktrin der beschränkten Souve-
ränität« aufgegeben. Als ich den Führern
dieser Länder sagte, dass sie in ihren Ent-
scheidungen unabhängig seien, glaubten
mir viele zunächst nicht. Aber wir haben
den Worten Taten folgen lassen. Deshalb
haben wir uns auch nicht in die Wieder-
vereinigung Deutschlands eingemischt.
SPIEGEL:Sie haben den Deutschen die
Vereinigung geschenkt, verloren aber bald
darauf Ihren Posten. Die UdSSR zerfiel.
Wie sehen Sie das heute?
Gorbatschow: Fragen Sie mich doch
gleich, ob ich die Perestroika bereue. Nein,
das tue ich nicht. Es war unmöglich, so
weiterzuleben wie zuvor. Und ein wesent-
licher Bestandteil der Perestroika war das

neue außenpolitische Denken. Es umfasst
sowohl universelle Werte und nukleare
Abrüstung als auch Wahlfreiheit. Wir
konnten den Nachbarländern, den Deut-
schen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, die
Rechte und Freiheiten, die wir unserem
Volk einräumten, nicht verweigern. Als
wir mit der Perestroika begannen, wussten
wir, dass wir ein Risiko eingingen. Aber
die gesamte Staatsführung war sich einig,
dass Veränderungen notwendig waren.
Das Ende der Perestroika und der Zerfall
der Sowjetunion liegen in der Verantwor-
tung derjenigen, die den Putsch im August
1991 organisiert und nach dem Putsch die
geschwächte Position des Präsidenten der
UdSSR ausgenutzt haben.
SPIEGEL:Ist die Welt heute eine bessere
als jene zur Zeit des Kalten Kriegs?
Gorbatschow:Ich verspüre keine Nostal-
gie, wenn es um den Kalten Krieg geht.
Und wünsche niemandem, dass diese Zei-
ten zurückkehren. Wir müssen eingestehen,
dass es neuen Führungspersönlichkeiten
nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht ge-


  • Mit der Redakteurin Anna Sadovnikova in Moskau.


lungen ist, eine moderne Sicherheitsarchi-
tektur zu schaffen, insbesondere in Europa.
Infolgedessen entstanden neue Trennlinien,
und die Nato-Osterweiterung verlagerte
diese Linien an die Grenze Russlands.
SPIEGEL:Sind die Beziehungen zwischen
Russland und dem Westen heute nicht ge-
nauso schlecht wie während des Kalten
Kriegs?
Gorbatschow:Wenn man die immer glei-
chen Forderungen gebetsmühlenartig wie-
derholt, kann daraus nichts Gutes entste-
hen. Es gibt Anzeichen, dass sowohl der
Westen als auch Russland verstehen, dass
Kommunikationskanäle aktiviert werden
müssen. Die Rhetorik ändert sich langsam.
Vielleicht ist das der erste Schritt. Natür-
lich haben wir noch einen weiten Weg vor
uns, bis Vertrauen wiederhergestellt ist.
Ich bin überzeugt, dass wir mit den Fragen
der nuklearen Abrüstung beginnen müs-
sen. Ich habe kürzlich alle Atommächte
aufgefordert, eine gemeinsame Erklärung
gegen einen Atomkrieg abzugeben. Dem-
nach müssen die Verhandlungen zwischen
Russland und den USA wieder aufgenom-
men und Konsultationen mit anderen
Atomstaaten begonnen werden.
SPIEGEL:In Europa verfolgen viele Men-
schen die Ereignisse in Russland mit Sorge.
Es scheint, als hätte Moskau die Prinzipien
der Perestroika aufgegeben.
Gorbatschow:Ich glaube nicht, dass die
Lage so dramatisch ist, wie Sie das be-
schreiben. Die Menschen verstehen sehr
wohl, das zu schätzen, was es im Land an
Fortschritt gegeben hat. Jetzt stehen wir
vor einer neuen Herausforderung, der Glo-
balisierung.
SPIEGEL:Welche Haltung sollte das wie-
dervereinigte Deutschland gegenüber
Russland einnehmen?
Gorbatschow:Es ist wichtig, dass die Deut-
schen, einschließlich der Politiker, die Rus-
sen verstehen. Russland ging durch Auto-
kratie, Leibeigenschaft und das repressive
stalinistische Regime. Es ist eine schwierige
Geschichte. In den Achtzigerjahren haben
wir den Weg der Reformen eingeschlagen.
Es gab Fehler und Fehlschläge. Man kann
darüber streiten, wie weit wir auf dem Weg
zur echten Demokratie vorangeschritten
sind. Aber wir werden nicht zum totalitä-
ren System zurückkehren. Heute müssen
wir, basierend auf dem Erreichten, weiter-
machen. Im Geiste des Vertrags, den wir
während der Wiedervereinigung Deutsch-
lands unterzeichnet haben.
SPIEGEL:Herr Gorbatschow, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch.

YURIY CHICHKOV / DER SPIEGEL
Gorbatschow beim SPIEGEL-Gespräch*
»Es gab Fehler und Fehlschläge«

Video
Zu Besuch bei
Michail Gorbatschow
spiegel.de/sp462019gorbatschow
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Wallfahrt


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AfDBundesvorstand Andreas
Kalbitz geriet als Soldat
ins Visier des Bundeswehr-
Geheimdienstes.
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