Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

D


ie Geschichte der Grundrente be-
ginnt mit einem Unfall. Im Januar
2018 sitzt Annegret Kramp-Karren-
bauer in ihrem Dienstwagen auf dem Weg
nach Berlin. Noch ist sie Ministerpräsi -
dentin des Saarlandes, sie pendelt in die
Hauptstadt zu den Sondierungsgesprä-
chen für die Große Koalition. Es ist spät
in der Nacht, Kramp-Karrenbauer schläft
auf dem Rücksitz. Als ihr Fahrer in einer
Baustelle auf einen Lkw auffährt, erwacht
sie von ihrem eigenen Schrei, so erzählt
sie das später in einem Interview. Zur Be-
handlung muss sie ins Krankenhaus.
In Berlin übernimmt Unionsfraktions-
vize Carsten Linnemann jetzt die Verhand-
lungen in Sachen Rente. Der Wirtschafts-
experte ist Chef der Mittelstandsver -
einigung der CDU, er hält wenig davon,
Sozialleistungen allzu freigebig auszu -
weiten. Mit der SPD-Politikerin Andrea
Nahles sucht er eine Lösung für eines der
wohl heikelsten Themen: einen Renten-
aufschlag für Kleinverdiener.
Schon zwei Bundesregierungen haben
sich zuvor vergebens an dem Projekt ver-
sucht. Nahles und Linnemann wollen es
besser machen. Sie vereinbaren, dass Rent-
ner zehn Prozent mehr als die Grundsi-
cherung erhalten sollen, wenn sie mindes-
tens 35 Jahre in die Rentenkasse einge-
zahlt haben. Es ist Linnemann, der dafür
sorgt, dass sich in Zeile 4256 des Koali -
tionsvertrags eine zweite Hürde findet:
»Voraussetzung für den Bezug der Grund-
rente ist eine Bedürftigkeitsprüfung ent-
sprechend der Grundsicherung.«
Ohne diese Kostenbremse, argumen-
tiert der CDU-Politiker, könne die Union
das Projekt nicht mittragen, von dem die
SPD behauptet, es sei entscheidend für
eine Neuauflage der Großen Koalition.
Nahles und Linnemann besiegeln ihre Ver-
einbarung per Handschlag.
Fast zwei Jahre später ist von der Einig-
keit nichts geblieben. Nahles hat sich aus
der Politik zurückgezogen, Union und
SPD zerreiben sich in ihrem Regierungs-
bündnis, und die Tiefe ihres Zerwürfnisses
zeigt sich ausgerechnet am Gezerre um
die Rente. Dabei begann das Desaster mit
dem Koalitionsvertrag.
Bereits im Bundestagswahlkampf hat-
ten die Sozialdemokraten versprochen,
kleine Renten anzuheben. Für sie war es
eine Frage der Glaubwürdigkeit, Senioren
den beschämenden Gang zum Sozialamt


zu ersparen. Daher schrieb auch die SPD
einen wichtigen Satz in den Koalitionsver-
trag. Er findet sich in Zeile 4259, gleich
hinter Linnemanns Einschub zur Bedürf-
tigkeit: »Die Abwicklung der Grundrente
erfolgt durch die Rentenversicherung.«
Das Problem ist nur, dass beide Vorga-
ben nicht zusammenpassen. Schon wäh-
rend der Sondierungsgespräche bat die
Rentenversicherung um Korrekturen. Sie
verfüge nicht über die Daten und das Per-
sonal, um die Bedürftigkeit Hunderttau-
sender Empfänger zu prüfen. Um einen
Grundrentenbescheid zu erstellen, brauch-
ten ihre Sachbearbeiter Zugriff auf Unter-
lagen der Grundsicherungsämter, die aber
Sache der Länder sind. Mit Blick auf die
Verfassung könnte das heikel sein.
Auch inhaltlich haben beide Welten
nichts miteinander zu tun. Das Rentensys-
tem sieht eine Prüfung von Vermögen
oder Partnereinkommen nicht vor. Die ge-
setzliche Alterskasse folgt einem einfachen
Prinzip: Je mehr jemand während seines
Berufslebens an Beiträgen eingezahlt hat,
desto mehr bekommt er später heraus.
Anders ist das bei der steuerfinanzierten
Grundsicherung. Ihr Regelsatz von 424
Euro für Singles ist für alle gleich, es geht
darum, schlimmste Armut zu verhindern.
Der Staat greift nur ein, wenn die Betroffe-

nen ohne Hilfe nicht über die Runden kom-
men. Daher ist eine Bedürftigkeitsprüfung
nötig: Wer die Grundsicherung beantragt,
muss Kontoauszüge, Sparbücher und sei-
nen Miet vertrag auf den Tisch legen.
Die leistungsorientierte Rente aber von
einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig zu
machen wäre ein Systembruch. Das hat
nach fast zweijährigem Gezerre nun auch
die Bundeskanzlerin bemerkt. Am Diens-
tag sagte Angela Merkel in der Sitzung der
CDU/CSU-Fraktion, die Union habe keine
Antwort darauf, wie die Grundrente »nach
den Vorgaben des Koalitionsvertrages ad-
ministriert« werden könne. Linnemann
widersprach heftig.
Tatsächlich waren die Beamten im Bun-
desarbeitsministerium über Wochen ratlos,
wie sich aus den widersprüchlichen Sätzen
ein Konzept basteln ließe. Im Herbst 2018
berief Arbeitsminister Hubertus Heil eine
Expertenrunde ein. Nach vier Monaten, in
denen der Kreis sogar die Gründung neuer
Behörden erwogen und verworfen hatte,
empfahl er eine unbürokratische Lösung.
Heute müssen Senioren, die auf die
Grundsicherung angewiesen sind, ihre
Rente mit der Stütze vom Amt verrechnen.
Schlimmstenfalls haben langjährige Bei-
tragszahler keinen Cent mehr als jemand,
der nie gearbeitet hat. Mit einem Freibe-
trag könnten sie in Zukunft einen Teil ihrer
Rente behalten. Nach Berechnungen des
Ministeriums könnten 130 000 Senioren
auf ein monatliches Plus von um die hun-
dert Euro hoffen. Der Vorteil: Das Modell
wäre mit der Union machbar, auch Linne-
mann schwebte bereits Ähnliches vor. Wer
die Grundsicherung bezieht, hat seine Be-
dürftigkeit ja bereits bewiesen. Es wäre
die einzig logische Lösung.

(^40) DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019
Deutschland
Beschämender Gang
SozialpolitikSeit Monaten verhaken sich Union
und SPD im Streit um die Grundrente. Wie konnte es so
weit kommen? Chronik eines Desasters.
SEBASTIAN GOLLNOW / DPA
Senioren in Stuttgart: Heil ließ es krachen

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