Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Allerdings identifizierten die Experten
einen entscheidenden Nachteil: Es handle
sich um die »kleinste« Lösung. Der Begriff
»Grundrente« wecke bei den Bürgern eine
»andere Erwartungshaltung«.
Auch Sozialdemokrat Heil sah das so.
In der SPD war die Nervosität gestiegen.
Jeder lautlose Kompromiss, fürchtete die
Partei, würde nur der Union nutzen. Wolle
die SPD endlich wieder als Partei sozialer
Gerechtigkeit wahrgenommen werden, so
die Theorie, müsse es krachen.
Und Heil ließ es krachen. Anfang Feb-
ruar legte er ein Konzept vor, das mit dem
Koalitionsvertrag nur am Rande zu tun
hatte. Die Grundrente blies er zur »Res-
pekt-Rente« auf. Heil sah nicht nur einen
Freibetrag vor. Er plante, sehr kleine Ren-
ten sehr weit aufzustocken, wovon Teil-
zeitkräfte überproportional profitieren
würden.
In der »Bild am Sonntag« konnten Fri-
seurinnen mit langem Berufsleben nach -
lesen, dass der Sozialminister von der SPD
ihnen 447 Euro mehr Rente monatlich zu-
gestehen wolle. Nur die Union wusste von
nichts, sie wertete Heils Vorstoß als feind-
lichen Akt. Noch heute ätzt CSU-Landes-
gruppenchef Alexander Dobrindt über die
»Hubertus-Heil-Konfettikanone«, mit der
der Sozialdemokrat das Geld verteile.
Auf die vereinbarte Bedürftigkeitsprü-
fung verzichtete Heil gleich ganz. Auf
diese Weise sollten mehr als drei Millionen
Rentner profitieren, die Kosten schätzten
Experten auf rund fünf Milliarden Euro
jährlich. Zu viel, empörte sich die Union
und brachte die Zahnarztgattin ins Spiel:
Es dürfe nicht sein, dass gutsituierte Paare
profitierten, die auf Sozialleistungen nicht
angewiesen seien.


Von nun an war klar, dass es
eine schnelle Einigung nicht ge-
ben würde. Dabei hätte Kanz-
lerin Merkel das leidige Thema
gern abgeräumt, auch mit Heil
beriet sie sich. Der signalisierte
im Spätsommer Verhandlungs-
bereitschaft, nur müsse eine
Lösung ohne das Wort »Be-
dürftigkeit« auskommen.
Im September beauftragte
der Koalitionsausschuss den
Sozialminister, gemeinsam mit
Kanzleramtschef Helge Braun
(CDU) eine neue Vorlage zu
schmieden. Die Idee der Ein-
kommensprüfung entstand,
eine abgespeckte Variante.
Heil und Braun vereinbarten,
dass die volle Grundrente nur
jene Versicherten erhalten sol-
len, deren Arbeitseinkommen
unter einer Grenze von 1200 Euro liege.
Die SPD kam der Union entgegen. Doch
die klagte, wie Braun nur einen Vorschlag
akzeptieren könne, der noch immer 2,8 Mil-
liarden Euro pro Jahr kosten würde.
Von September an mühte sich eine Ar-
beitsgruppe von Union und SPD, aus dem
Papier einen neuen Vorschlag zu destillie-
ren. Die Stimmung in der Runde war bes-
ser als erwartet. Bei einem ersten Treffen
stellte die Union amüsiert fest, dass Vize-
kanzler Olaf Scholz den Sozialminister ge-
legentlich mit einem strengen »Hubertus«
zur Ordnung rief. Die SPD wiederum be-
merkte wohlwollend, dass Thüringens
CDU-Chef und Verhandlungspartner
Mike Mohring vor seiner Landtagswahl
nur zu gern Plakate geklebt hätte mit dem
Slogan: »Die Grundrente kommt«.

Doch die Grundrente kam
bis heute nicht. Erst am Sonn-
tag könnte sich ihr Schicksal
entscheiden.
Dann beugt sich der Koali-
tionsausschuss voraussichtlich
über die Kompromisslinien
der Arbeitsgruppe. Am Don-
nerstag vergangener Woche
hatten die Unterhändler bis
kurz nach Mitternacht getagt.
Sie schlugen vor, dass es keine
Bedürftigkeits-, wohl aber
eine »strenge Einkommens-
prüfung« geben solle. Vermö-
gen bleiben damit außen vor,
genauso wie die Frage, wie
viel Geld eine Seniorin wirk-
lich braucht.
Am Ende ging es um Se-
mantik, und CSU-Politiker
Dobrindt fragte die Runde ein
letztes Mal, ob sich nicht doch das Wort
»Bedürftigkeit« unterbringen ließe. Ver-
gebens. Letztlich formulierten die Unter-
händler einen Satz, der so vage blieb, dass
er niemandem wehtat: »Um den Bedarf
für die Grundrente zielgenau festzustellen,
findet eine Einkommensprüfung statt.«
Was gemeint ist: Künftig sollen die Fi-
nanzämter das Einkommen von Senioren
automatisch an die Rentenversicherung
melden, die dann berechnet, wer An-
spruch auf die Grundrente hat.
Politisch scheint dies die einzig mög -
liche Lösung zu sein, um SPD und Union
zu befrieden. Am Sonntag könnten die
Spitzen von Parteien und Fraktionen die-
ser Vorlage zustimmen, einige Abge -
ordnete halten das inzwischen für wahr-
scheinlich.
Doch sonderlich praktikabel wäre auch
diese Lösung nicht, im Gegenteil: Exper-
ten aus der Rentenversicherung sind be-
sorgt. Der Vorschlag, an dem Union und
SPD über Monate strickten, führt in neues
Chaos. Es dürfte mindestens zwei Jahre
dauern, einen Datenaustausch aufzubau-
en – die Grundrente soll aber schon 2021
ausgezahlt werden.
Auch Ungerechtigkeiten zeichnen sich
ab, sogar bei den Zahnarztgattinnen. Part-
nereinkommen sollen zwar auf die Grund-
rente angerechnet werden. Das Finanzamt
erkennt aber nur Verheiratete automatisch
als Paar – und auch nur dann, wenn sie
ihre Steuern gemeinsam veranlagen.
Die Kanzlerin selbst warb in der Sitzung
der Unionsfraktion am Dienstag dennoch
dafür, dem Grundrentenkompromiss zu-
zustimmen. Dabei übte sie sich im neuen
Vokabular. Immerhin solle es eine »Be-
darfsprüfung« geben, sagte sie.
Das Wort »Bedürftigkeit« verkniff sie
sich. Cornelia Schmergal
Mail: [email protected]

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2003 2018

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Altersarmut
Empfänger von Grund-
sicherung nach
Erreichen des Renten-
eintrittsalters

jeweils am
Jahresende

Quelle:
Statistisches
Bundesamt

GREGOR FISCHER / PICTURE ALLIANCE / DPA
Koalitionäre Scholz, Merkel, Seehofer 2018: Widersprüchliche Vorgaben
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