Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

N


ico Semsrott will eine Bürgerini-
tiative ins Leben rufen, was fehlt,
ist der passende Name. Wie wäre
es mit »Mondays for Misery«?,
fragt er. Nach dem Vorbild von »Fridays
for Future« nun also Montag für die Misere.
Semsrotts Mitarbeiter sind angetan. »Das
passt gut zu deiner Figur«, sagt einer.
Semsrott sitzt an einem breiten Konfe-
renztisch, er trägt eine dunkel umrandete
Brille und einen Kapuzenpulli, so kennt
man ihn von der Kleinkunstbühne und aus
der »heute-show«. Auf den Kopf hat er
sich ein grünes Geburtstagshütchen mit
goldenem Bommel gesetzt.
Auch seine Mitarbeiter tragen Hütchen,
Plastikbrillen in Form von Flamingos oder
Fellohren. Semsrotts Pressereferentin hat
die Kopfbedeckungen zu Beginn des Tref-
fens in einem ansonsten keimfreien Bespre-
chungsraum des Europaparlaments ver-
teilt. Warum schließlich soll man nur an
Kindergeburtstagen lustige Hüte tragen?
Eine Europäische Bürgerinitia-
tive also, Semsrott will erreichen,
dass die EU das Thema Depres-
sion endlich ernst nimmt, das ist
die Idee. Ein Mitarbeiter, er trägt
die pinke Brille mit den Flamin-
gos, referiert, wie aufwendig der
Prozess ist. Um die EU-Kommis-
sion zu zwingen, sich mit dem
Thema zu beschäftigen, muss
Semsrott eine Million Unter-
schriften in mindestens sieben
EU-Ländern sammeln.
»Deine Follower sind die per-
fekte Basis dafür«, sagt Doris
Dialer, Semsrotts Büroleiterin.
Knapp 200 000 Menschen fol-
gen Semsrott auf Twitter, deut-
lich mehr als dem Präsidenten
des Europaparlaments. Auch bei
Instagram dürfte es wenige Poli-
tiker geben, die MEP Semsrott,
Mitglied des Europaparlaments
seit Juli 2019, zahlenmäßig ab-
hängen. Angela Merkel ist eine.
Erst machte Semsrott, 33, aus
seiner Depression Satire, jetzt
soll daraus Politik entstehen. Frü-
her trat er bei Poetry Slams in
Kellerklubs auf oder als »Demo-
tivationstrainer« im Fernsehen,
2017 bekam er den Deutschen
Kleinkunstpreis. Seit Juli ist nun
das Europäische Parlament seine
Bühne. Gemeinsam mit Martin


Sonneborn, dem ehemaligen Chefredak-
teur der »Titanic«, wurde er für die Satire-
partei »Die Partei« nach Brüssel gewählt.
Satiriker auf der Abgeordnetenbank –
kann das gut gehen? Oder nimmt da je-
mand ernsthaften Politikern den Platz weg?
Natürlich kann man den Auftritt der Spaß-
politiker als überzogene Selbstdarstellung
abtun, als weitere, sinnlose Komplikation
in einem ohnehin schon chaotischen Parla-
ment. Doch es geht auch um eine große Fra-
ge: Lassen sich mit Mitteln der Satire Men-
schen für Europa begeistern, die die tradi-
tionelle Politik längst nicht mehr erreicht?
Auffällig ist, dass sich das Phänomen
nicht auf das Europaparlament beschränkt.
In Italien ist die Fünf-Sterne-Bewegung
des Komikers Beppe Grillo an der Regie-
rung beteiligt. Und in der Ukraine wählten
die Bürger zuletzt den Komiker Wolody-
myr Selenskyj zum Präsidenten. Auch
Semsrott glaubt, dass er gerade junge Men-
schen mit seiner Art, Politik zu machen,

gewinnen kann. »Vieles von dem, was im
Europaparlament geschieht, ist viel zu
weit weg vom echten Leben«, sagt er, »wir
experimentieren, wie wir Europa an die
Leute heranbringen können.«
Mitte September spricht Semsrott im
Plenum über den EU-Haushalt für 2020.
Mit »Sehr geehrter Hochadel« beginnt er
seine Rede, dann tadelt er den Budgetplan
im Stile eines mittelalterlichen Hofnarren.
45 Prozent von knapp 50 000 abgegebe-
nen Stimmen auf Twitter wollten es so,
Semsrott hat seine Follower darüber ab-
stimmen lassen, mit welchen Worten er
die Rede beginnen soll. Seine Kapuze hat
er dabei tief ins Gesicht gezogen.
»Vielen Dank«, bescheidet ihn Katarina
Barley nach dem Auftritt knapp. Die Par-
lamentsvizepräsidentin macht nicht den
Eindruck, als sähe sie in Semsrotts Beitrag
eine Bereicherung der Debatte.
Ein Video der Rede stellt Semsrott ins
Netz, er nennt es »Nico Semsrott und die
Finanzkammer des Schreckens«.
Bei seinen Followern kommt es
gut an. »Der einzige Politiker
mit Hirn«, kommentieren sie,
»endlich jemand, der für uns
spricht.« Über 200 000-mal wur-
de der kurze Film bis heute an-
geklickt. Nicht schlecht für einen
Parlamentsneuling, dessen Büh-
nenfigur so sehr ins Scheitern
verliebt ist.
Semsrotts Erfolg liegt darin
begründet, dass er sich nicht ver-
stellen muss – im Europaparla-
ment genauso wenig wie auf der
Kleinkunstbühne. Mit der Figur
des depressiven Jugendlichen
spielte er viele Jahre sich selbst:
Nachdem er sein Studium ab -
gebrochen hatte, wusste der
ehemalige Schüler eines katho -
lischen Privatgymnasiums nichts
mit sich anzufangen. Lange war
er bei einem Therapeuten in Be-
handlung. Heute sagt er: »Die
Deckungsgleichheit zwischen
mir und meiner Figur hat zum
Glück abgenommen.«
Zuletzt war er sogar zum ers-
ten Mal vor neun Uhr früh im
Büro – Semsrott wertet das als
gutes Zeichen. »Ich gehe grund-
sätzlich negativ an die Dinge he-
ran«, sagt er, »dann kann ich nur
positiv überrascht werden.«

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Deutschland

Schluss mit lustig


KarrierenAls Kabarettist spielte Nico Semsrott einen depressiven Jugendlichen.
Jetzt macht er Politik im EU-Parlament. Ernsthaft.

FRANCOIS GOUDIER / GAMMA-RAPHO / LAIF
Satiriker Semsrott: »Sehr geehrter Hochadel«
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