Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
Wenn sich heute die Kokslinien von den
Anbaufeldern in Südamerika bis in die
deutsche Provinz ziehen, wenn ein Fami-
lienvater zum Kleindealer wird, wenn sich
der Stoff des Jetsets am Telefon bestellen
lässt wie eine Margherita vom Pizza -
service, dann sind das die Ausläufer einer
Lawine, die durchs Land rollt.
Noch nie, sagen Ermittler, sei so viel Ko-
kain auf dem Markt gewesen, in Deutsch-
land, in Europa, weltweit. Schon gar nicht
in dieser Reinheit auf der Straße, 70 Pro-
zent und mehr. Nie war es einfacher, an
den Stoff heranzukommen, nie wurde des-
halb so viel geschnieft wie heute. Und

noch nie stellte sich die Frage so drängend,
was Kokain mit einer Gesellschaft macht,
in der es ohnehin schon diesen Drang und
Zwang zur Selbstoptimierung gibt. Mit im-
mer mehr Menschen, die sich perfekt füh-
len wollen, klar, überlegen, großartig.
Eben wie auf Koks.
Von einem »Big boom« sprechen sie in
Lissabon, wo die Drogenbeobachtungs -
stelle der EU sitzt; einen »dramatischen
Anstieg« seit 2016 bescheinigt auch das
Bundeskriminalamt (BKA). So was habe
er noch nicht erlebt, staunt ein Interpol-
Fahnder, der seit 14 Jahren dabei ist. Und
es soll so weitergehen: »Die weltweite Ko-
kainschwemme hat ihren Höhepunkt noch

Polizisten mit beschlagnahmtem Kokain
aus dem Hamburger Hafen

D


er 4. März dämmerte heran wie
einer dieser grau verschleierten
Tage im Winter, die nichts vor-
hatten mit Herzfelde; so still
und ruhig, dass die Dorfchronik
hinterher nur das Übliche notiert hätte: im
Osten nichts Neues. Dann kamen sie. Die
Schneeräumer. Ein ganzer Trupp aus Berlin,
der raus aufs Land gefahren war.
Gegen elf Uhr pflügte er durch Herzfel-
de, die Hauptstraße hoch, die Rüdersdor-
fer Straße runter. Denn obwohl die Tem-
peratur in der Nacht nicht unter fünf Grad
gefallen war, lag ziemlich viel Neuschnee.
12,8 Gramm im zweiten Stock über dem
Treppengeschäft. Und 214,3 Gramm in der
Garage drüben an der Rüdersdorfer.
Der Schnee steckte in Klarsichtbeuteln
und Plastikfläschchen, die Art von Schnee,
um die sich nicht der Bauhof kümmerte,
sondern das Landeskriminalamt Berlin.
Koks für die Partypisten der Hauptstadt.
Polizisten drückten ihr Brecheisen in
eine Haustür, ließen Drogenhunde durch
die Garage schnüffeln, flöhten einen VW-
Bus, einen Chevrolet Camaro. Sie stießen
auf Tüten mit Kokain, Feinwaagen, einen
Schuhkarton, vollgepackt mit Geldschei-
nen. Und an der Star-Tanke am Ortsaus-
gang räumten sie gleich noch einen
Schneemann ab, der hier gerade so herum-
stand. René F., 42, Automobilkaufmann.
Zumindest hatte er das mal gelernt. Ir-
gendwann muss er wohl gedacht haben,
dass es mehr bringen würde, aus dem Auto
heraus zu verkaufen, als Autos zu verkau-
fen. Er lieferte Koks, so wie Mike, sein Sohn,
Natalia, seine Ex-Frau, und Otto, der Sohn
seiner neuen Freundin. Ein florierender Fa-
milienbetrieb; Anruf genügte, schon fuhr
einer den Stoff zum Käufer. »Koks taxi«
nennt sich das in der Szene. Bis zu elf Tou-
ren machten sie am Tag, ein halbes Jahr
lang ging das gut. Dann kam der 4. März.
Die Geschäftsaufgabe wegen Festnahme.
Kokain, das Schnupfpulver der Schicke-
ria. Diesmal rieselte der Stoff in eine Ge-
gend herab, die noch nie schick war. In
Brandenburg, Rüdersdorf bei Berlin, in
den Ortsteil Herzfelde. In ein Nest mit
1750 Menschen, wo der Grillimbiss zuge-
macht hat und die größte Attraktion des
Nachtlebens der Kondomautomat an der
Hauptstraße war, »Taste 1 x kräftig durch-
drücken«.
Für ein halbes Jahr war Herzfelde nun
einer der Orte, aus denen das große »C«
auf die Straße kam, Kokain, in der Szene
auch bekannt als »Charlie«, »Puder«,
»Staub«. Der Stoff für die atemlose Groß-
stadt, ihre gestressten Manager, ihre rastlos
kreativen Hipster. Und das durchtanzende
Partyvolk.
Skurril? Eher symptomatisch.


nicht erreicht«, warnt Kevin Scully, obers-
ter Drogenjäger im Europa-Hauptquartier
der U.S. Drug Enforcement Administra -
tion. Die Mengen werden »gegenüber dem
Rekordjahr 2018 noch mal hochgehen«.
Auch in Deutschland.
Für die Prognose braucht es keine hö-
here Mathematik, nur simple Logik: In
Kolumbien, Koksland Nummer eins, sind
die Hektarzahlen der Kokafelder hochge-
schossen, ebenso in Peru, Nummer zwei,
und Bolivien, Nummer drei. Sagt die Uno.
Irgendwo muss das Zeug ja hin; da passt
es gut, dass Angebot auf Nachfrage trifft
und die Lust auf Kokain hierzulande
»stark gestiegen ist«, wie Niema Movassat
feststellt, der drogenpolitische Sprecher
der Linkspartei im Bundestag. Außerdem
sucht die Rendite ihresgleichen: Der Preis
für das Kilogramm liegt in Südamerika bei
1000 Dollar. Mit der Überfahrt nach
Europa steigt er auf 25 000 Dollar, auf der
Straße auf 70 000. Es gibt kaum ein Ge-
schäft, das sich für Kriminelle mehr lohnt.
Die ziehen den Kokshandel heute so
professionell auf, als hätten sie dafür
McKinsey im Haus gehabt. Zwar gehören
die typischen Auftragsmorde, etwa die Hin-
richtung eines Anwalts kürzlich in Amster-
dam, weiter zum Narco-Geschäft. Doch
das Gewerbe setzt nun auch auf Skalen -
effekte im Großeinkauf, hochgradige Ar-
beitsteilung, Just-in-time-Lieferketten. Und
natürlich auf Innovation, die nächste, noch
raffiniertere Schmuggelmasche. Am Ende
können sich die Kartelle auf die Macht der
schieren Masse verlassen: Je größer die La-
wine, umso weniger kommt es noch darauf
an, was sich ihr in den Weg stellt.
Die Eilmeldungen, dass den Drogen -
jägern schon wieder ein Riesenkoksfund
geglückt ist – immer gleich in Tonnen, vier-
einhalb im Juli in Hamburg, eineinhalb ein
paar Tage später –, sind deshalb nur
Scheinsiege der Statistik. In Wahrheit wis-
sen die Fahnder kaum etwas über die Tä-
ter, ihre Strukturen. Was sie dagegen ziem-
lich sicher wissen: dass die Rekordmenge,
die sie 2018 entdeckt haben, ein zuverläs-
siges Indiz für eine Rekordmenge ist, die
nicht gefunden wurde. Für jene 95 Pro-
zent, die ihnen, so vermutet Interpol, mal
wieder durchgegangen sind.
Und so wächst die Sorge: bei Politikern,
die das Drogenproblem lange aus den Au-
gen verloren hatten. Bei Fahndern, die sich
offen zu ihrer Ohnmacht bekennen. Und
bei Ärzten, die wissen, wie gefährlich Ko-
kain sein kann.
Der SPIEGELund seine Partner im eu-
ropäischen Rechercheverbund EIC haben
für diesen Report über Gründe und Folgen
des Booms mit Kokabauern in Kolumbien
und Konsumenten in Deutschland gespro-
chen. Akten liefern Einblicke, wie Groß-
dealer ihr Milliardengeschäft aufziehen –
und wie die Kleindealer ihren Ameisen-

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Quelle: Europäischer Drogenbericht 2019

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Millionen EU-Bürger zwischen
15 und 64 Jahren konsumieren im
Laufe ihres Lebens Kokain. Das
sind 5,4 Prozent der Bevölkerung.

DEDMITYAY / GETTY IMAGES / ISTOCKPHOTO; ZIVIANI / GETTY IMAGES / ISTOCKPHOTO

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