Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
Quelle: Europäischer Drogenbericht 2019

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Jahre ist das Durchschnittsalter beim
Erstkonsum. Zur ersten Behandlung
kokainbedingter Probleme kommt es
im Schnitt mit 34 Jahren.

handel organisieren, mit Tütchen und
Fläschchen und Kügelchen.
Kokain zu schnupfen, so die Prognose
von Joao Matias, Analyst der EU-Anti -
drogenbehörde, wird zunehmend den An-
schein von Normalität bekommen. Die
Hemmschwelle wird sinken, der Konsum
steigen. Wozu das hierzulande führt, wird
man frühestens in ein paar Jahren wissen.
»Die Auswirkungen der Koksschwemme
rollen erst noch auf uns zu«, warnt der
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.
So viel kann er aber jetzt schon sagen:
»Kokain ist billiger, besser und damit viel
gefährlicher als früher. Wir haben in Zu-
kunft mit mehr Toten zu rechnen.«


Die Konsumenten


Lissabon ist die Stadt, die alles weiß über
Koks. In der Theorie und in der Praxis. Es
gibt hier so eine Art Kokainlehrpfad; er
startet unten am Fluss Tejo, bei der EU,
dort bekommt man tagsüber die Zahlen.
Den Schnee selbst kann man dann nach
Büroschluss weiter oben in der Stadt kau-
fen, im Kneipenviertel Bairro Alto; jede
Menge und an jeder Ecke.
Unten, in einem modernen Bürobau aus
Glas und weißem Stein, sitzt die europäi-
sche Antidrogenbehörde, die versucht,
die Kokainwelle zu erfassen, zu erklären.
3,9 Millionen Europäer, so die Statistiken,
haben 2017 Kokain genommen, im vergan-
genen Jahr waren es 4 Millionen. Eine
leichte Steigerung also, nicht dramatisch,
aber der Trend hält an.
Von den Jungen, den 15- bis 34-Jähri-
gen, die für den Kokskick besonders emp-
fänglich sind, griffen 2017 knapp über
2 Prozent zu der Droge. Deutschland
kommt nur auf 1,2 Prozent Kokser in der
jungen Bevölkerung, deutlich weniger als
Holland (4,5), Dänemark (3,9) oder Frank-
reich (3,2). Das spricht auf den ersten Blick
dafür, dass Kokain in anderen Ländern ein
größeres Problem ist. Allerdings stammt
die deutsche Zahl noch von 2015, vor der
großen Welle.
Was die EU-Beamten europaweit alar-
miert: die Abwasserproben. »Wasser lügt
nicht«, sagt Laurent Laniel, Chefanalyst
der Behörde. Von 38 Städten, die 2017 und
2018 ihr Abwasser untersuchen ließen, mel-
deten 22 steigende Kokainrückstände, die
mit dem Urin ausgeschieden werden und
sich im Abwasser messen lassen. In Berlin
lagen die Werte 2018 fast doppelt so hoch
wie 2014; auch in Dortmund. Vor allem
am Wochenende gehen sie nach oben.
Ob es daran liegt, dass mehr Leute kok-
sen, wie etwa die Berliner Polizei sagt, die-
selben Leute öfter koksen oder der Stoff
viel reiner auf die Straße kommt, das wis-
sen sie unten am Tejo auch nicht so genau.
Fakt ist aber: Kein anderer Drogenkonsum
endet in Europa so oft in der Notaufnah-

me. In Berlin ist Kokain inzwischen die
Droge mit den meisten Toten nach Heroin:
35 Opfer im ganzen Jahr 2018, schon 25
bis Ende Juli 2019.
Und damit nun in den Bairro Alto, zum
praktischen Teil.
Dealer tippen sich lässig mit dem Finger
an die Nase, stellen sich in den Strom der
Partytouristen, fragen ungeniert: »Cocaine,
Cocaine?« Oder sie machen es wie der Di-
cke, der den Arm um Flaneure legt, sich
als »Pablo Escobar« vorstellt, so wie der
legendäre und längst tote Kartellboss, und
»the best stuff in town« verspricht. Alles
ganz entspannt, ist doch nur Kokain. Das
Gramm kostet 50, 60 Euro, man kann gern
probieren, schließlich verkaufen Senhor
Escobar und die anderen »no shit«, ver-
sprochen.
Hier oben trifft man Lukas, 27 Jahre alt,
den Namen kann man aber gleich wieder
vergessen, weil einer, der gerade seinen
Doktor macht, lieber nicht mit richtigem
Namen als Schniefer auftauchen möchte.
Sein erstes Mal war vor zwei Jahren,
Freunde aus dem Studium hatten etwas
mitgebracht. Seitdem zehn, fünfzehn Na-
sen im Jahr, immer wenn es mit seiner Cli-
que etwas zu feiern gibt, einen Geburtstag,
die Freundschaft, das Leben. Wenn die
Stimmung so High End sein soll, wie es der
perfekte Abend verdient. Jeder 0,2 oder
0,3 Gramm, schnell mit dem Strohhalm
oder Geldschein hochgezogen, mehr nicht.
»Man fühlt sich klar, weiß genau, was man
tun, was man sagen muss, alles frei heraus,
man hat das Gefühl, man hat alles unter
Kontrolle«, beschreibt Lukas den Flash.
Für ihn ist Koks »sehr kontrollierbar«,
er glaubt nicht, dass er süchtig werden
könnte. Ihm sei auch klar, dass der Stoff
ihn nicht cleverer mache, es fühle sich aber
so an. Gut eben. Darum: alles im Griff, al-
les nur Spaß, einfach ein paar Megaperls
für den kurzen Gehirnwaschgang. Er ver-
stehe deshalb auch nicht, warum Kokain
gesellschaftlich verpönter sei als Alkohol
oder Nikotin. Wenn es um Koks gehe, wür-
den die Leute geradezu »hysterisch«.

Kann sein, dass Lukas auch in Zukunft
mit Kokain zurechtkommt. Vielleicht aber
auch nicht. Es hängt viel an der Psyche,
ob einer abhängig wird, an der »Suchtper-
sönlichkeit«, wie Mediziner das nennen.
Kann also sein, dass Lukas mit 50 immer
noch alles im Griff hat. Kann aber auch
sein, dass er dann einfach tot umfällt.
Infarkte zählen zu den möglichen Spät-
folgen, weil Kokain anders als Marihuana
oder Hasch nicht beruhigt, sondern auf-
putscht, den Puls zum Rasen bringt, Herz-
und Hirngefäße angreift. Offiziell starben
2018 zwar nur 93 Menschen in Deutsch-
land an Kokainkonsum – selten an einer
Überdosis, häufiger an einem Zusammen-
bruch des Herz-Kreislauf-Systems. Bei vie-
len Infarktopfern ahnt aber niemand, dass
sich hier gerade das Koksen nach Jahren
gerächt hat.
Für Experten wie den Drogenkritiker
Rainer Thomasius vom Hamburger Uni-
versitätskrankenhaus Eppendorf ist Ko-
kain deshalb eine Wundertüte; für jeden
kann etwas anderes dabei herauskommen.
Thomasius bescheinigt dem Stoff ein
»hohes psychisches Abhängigkeitspoten-
zial«. Wer seinem grauen Alltag entkom-
men will, in eine Welt, in der ihm alles zu
gelingen scheint, für den sei Kokain ein
verführerisches Fluchtmittel, bestätigt sein
Kollege Georg Juckel, Direktor für Psy-
chiatrie und Psychotherapie am Uniklini-
kum Bochum. Ein »schnelles Hol-mich-
hier-raus-Erlebnis«, das man immer wie-
der haben will.
Trotzdem gelten höchstens zehn Pro-
zent als harte Kokser – jene, die mehr als
50-mal im Jahr schnupfen. Die meisten
sind Gelegenheitskonsumenten, die im Le-
ben stehen, im Beruf, in ihren Familien.
Manager, Politiker, Professoren, Kreative,
denen man auf den ersten Blick nichts an-
merkt. Auf den zweiten auch nicht, dazu
müsste man schon ihre Nasenscheidewand
auf Löcher untersuchen.
Dass sie anscheinend die Droge beherr-
schen, nicht umgekehrt, liegt auch daran,
dass Kokain ein teurer Problemlöser ist;
viele können ihn sich erst leisten, wenn
sie Geld verdienen, ab 20, 25 Jahren.
Dann, so erklärt Thomasius, sei die Per-
sönlichkeit schon gefestigter, das Sucht -
risiko niedriger. Und doch gibt es immer
wieder Schnupfer, die nach kurzer Zeit auf
Koks in Wahnvorstellungen abrutschen
oder sich nach ein paar Jahren nicht mehr
konzentrieren können. Höchstens auf ei-
nes: die nächste Linie.
Es fehlte nicht viel, dann wäre auch Flo-
rian so weit gewesen, Student aus Berlin.
Wieder einer, der in Wahrheit anders heißt.
Er fing an mit knapp 20 Jahren, landete in
der Berliner Klubszene, wo vor den Toi-
letten die Dealer stehen und fragen, ob
man aufs Klo gehen muss oder gehen will.
Um was zu ziehen. Drei Jahre lang war er

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