Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

E


s begann so schön, auf einer Tanzpar-
ty in Bielefeld. Dort lernte die damals
22-jährige Verlagsassistentin Hatice
Yıldırım* im Herbst 2013 einen charmanten
Mann aus Berlin kennen. Er schrieb ihr
über Facebook, sie verliebte sich. Im Som-
mer 2014 zog sie zu ihm in die Hauptstadt.
Doch nach wenigen Wochen habe sich
Özkan S., heute 37, von einer anderen Sei-
te gezeigt, sagt Hatice Yıldırım. »Ich war
für ihn sein Eigentum«, erzählt sie am Te-
lefon. Er sei immer wieder wütend gewor-
den, ausgerastet, auf sie losgegangen. Er
habe sie geschlagen und vergewaltigt.
Zweimal habe er ihr die Nase gebrochen.
Schließlich alarmierten Yıldırıms besorg-
te Eltern die Polizei. Beamte eskortierten
die verängstigte junge Frau im Juni 2015
aus der gemeinsamen Wohnung. Danach
fasste sich die Deutsch-Türkin ein Herz
und zeigte Özkan S. an.
Die Polizei ermittelte, die Staatsanwalt-
schaft Berlin erhob Anklage, Özkan S.


  • Name geändert.


Eine Sprecherin des Amtsgerichts sagt,
aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen
könne sie zu dem Gutachten keine Stel-
lung nehmen. Grundsätzlich sei ein medi-
zinisches Gutachten nur ein Puzzlestück
bei der Entscheidungsfindung des Richters.
Anwältin Lang vermutet, dass Bödeker
»eine schnelle Erledigung« angestrebt
habe. Wegen des Verdachts auf Rechtsbeu-
gung hat sie den Richter vor wenigen Ta-
gen angezeigt. War Bödeker das Verfahren
schlicht zu aufwendig? Die Sprecherin des
Amtsgerichts sagt: »Ganz generell spielen
Zeitgründe bei der Bearbeitung eines Ver-
fahrens keine Rolle.« Außerdem betont
sie, die Entscheidung sei nicht endgültig.
Richter Bödeker übernahm den Fall
Özkan S. zum Jahreswechsel 2018 und be-
raumte drei Verhandlungstage im April an.
Zum ersten Termin erschienen alle – bis
auf den Angeklagten. Der ließ seinen Ver-
teidiger ein am Vortag erstelltes Attest vor-
legen, er leide unter Pa-
nikattacken. Ohne ihn
konnte nicht verhandelt
werden. Ein psychiatri-
scher Gutachter kam
zum Schluss, Özkan S.
sei für vier Wochen nicht
verhandlungsfähig.
Der nächste Verhand-
lungstermin wurde für
den 17. Oktober anbe-
raumt: Wieder legte der
Verteidiger von S. kurz-
fristig ein Attest über Pa-
nikattacken vor. Wieder
konnte nicht verhandelt
werden.

56 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019

Deutschland

Schlag ins


Gesicht


JustizEin Berliner Richter stellt
ein Verfahren wegen
Ver gewaltigung vorläufig ein.
Der Angeklagte sei zu
krank – aber das stimmt nicht.

Kriminalgericht in Berlin-Moabit, Angeklagter Özkan S.: Atteste über Panikattacken vor Verhandlungsbeginn

GEORG MORITZ / ACTION PRESS

schwieg zu den Vorwürfen. Der Fall lan-
dete 2017 vor dem Schöffengericht des
Amtsgerichts Berlin-Tiergarten. Doch was
danach passierte, hat das Vertrauen von
Hatice Yıldırım in den deutschen Rechts-
staat nachhaltig erschüttert.
Im Mai dieses Jahres stellte Richter
Arnd Bödeker das Verfahren gegen Özkan
S. vorläufig ein. S. sei für längere Zeit nicht
verhandlungsfähig. Diese Begründung ist
im Einstellungsbeschluss des Gerichts
schriftlich festgehalten.
So etwas gehört zum Rechtsstaat: Wenn
ein Angeklagter zu krank ist, gibt es keinen
Prozess, kein Urteil, keine Strafe. Auch
nicht für mutmaßliche Vergewaltiger.
Doch dann verweigerte Richter Böde-
ker der Nebenklägeranwältin die Einsicht
in das psychiatrische Gutachten, mit Hin-
weis auf schutzwürdige Interessen des An-
geklagten. Die Juristin, Christina Lang aus
Bielefeld, legte dagegen Beschwerde ein –
und bekam recht. Was sie
dann las, macht sie bis
heute fassungslos. Denn
laut der Expertise, die
Richter Bödeker in Auf-
trag gab, ist Özkan S. sehr
wohl verhandlungsfähig,
wenn auch nur höchstens
zweimal pro Woche je-
weils zwei Stunden lang.
Was zu der entschei-
denden Frage führt: Wa-
rum ignorierte der Rich-
ter das Gutachten und
stellte das Verfahren wo-
möglich zu rasch vorläu-
fig ein?

Amtsrichter Bödeker
Schlicht zu aufwendig?

WOLFGANG MROTZKOWSKI
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