Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 59


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anchmal entdeckt Jelena Schnaider die verwesten
Schädel von jungen Füchsen bei ihrer Arbeit. Meist
ist sie dann schon tagelang durch die Steppe Sibiriens
gefahren, hat Klippen an den Rändern der Hochgebirge er-
stiegen und irgendwo in der baumlosen Einöde ein Nest aus
Knochen, Steinen, Draht oder Zweigen auf dem Boden ge-
funden, in dem zwei oder drei braun gesprenkelte, flauschige
Knäule sitzen. Junge Steppenadler. Dann freut sie sich.
Schnaider beruhigt die Tiere und näht ihnen vorsichtig ei-
nen Rucksack auf dem Rücken zusammen, so klein und leicht,
nur ein paar Gramm schwer, dass er nicht stört beim Fliegen.
Es ist ein GPS-Sender mit Solar-
modul. Die Eltern, ausgewachse-
ne Steppenadler, haben eine Flü-
gelspannweite von bis zu zwei
Metern und so kräftige Klauen,
dass sie damit ohne Probleme
einen Fuchs ergreifen können,
wenn sie nicht genügend Erd-
hörnchen finden, die sie bevorzu-
gen. Schnaider aber findet Adler
vor allem wunderschön, verletz-
lich und niedlich, besonders ihre
weichen, kleinen Kopffedern.
Die Forscherin hat deutsche
Vorfahren, ist in Russland gebo-
ren und arbeitet für das sibirische
Umweltzentrum. Sie hätte nie
gedacht, dass sie diese Arbeit ein-
mal so berühmt machen würde.
Ihre Geschichte erzählt sie via
Skype aus der südlichen Negev-
Wüste in Israel. Ihr Jahr hat sie
dem Rhythmus der Vögel unter-
worfen. Im Sommer ist sie in den
Brutgebieten der Adler, in
Kasach stan und Sibirien, im Win-
ter folgt sie den Zugrouten in den
warmen Süden. Wenn Schnaider
ein Vogel wäre, dann wäre sie
sicher ein Zugvogel.
Jeden Morgen steht sie um vier Uhr auf, um noch vor Son-
nenaufgang Spezialnetze zu spannen, über mehrere Stunden
Vögel vorsichtig einzufangen und zu beringen. Danach be-
schäftigt sie sich mit dem Einfluss von Berieselungsanlagen
auf Vogelhabitate und fährt schließlich noch ein wenig in die
Wüste, um sich wiederum Vögel anzugucken.
Am Tag des Gesprächs war sie drei Stunden lang unter-
wegs, auf der Suche nach dem Einödgimpel, den sie schließ-
lich mit seinem Flugruf anlocken konnte. Einmal hat sie auch
das schwer aufzufindende Altai-Königshuhn im Gebirge ge-
sehen und war danach so gerührt, dass sie weinen musste.
Es war, erzählt sie am Telefon, als hätte sie ein Einhorn gese-
hen. Man hat das Gefühl, Jelena Schnaider hat ein sehr
erfülltes Leben.
Im Oktober dieses Jahres aber wurde ihr Alltag von einer
Nachricht unterbrochen, die sie beunruhigte. Es ging um ei-

nen jungen Steppenadler namens Min, der sich anders ver-
hielt als sie und ihr Team erwartet hatten. Steppenadler sind
hervorragende Jäger, erzählt sie, weil sie hoch fliegen, und
selten gesehen werden. Sie gleiten lautlos dahin, um sich dann
aus dem Gegenlicht überraschend auf ihre Erdhörnchen zu
stürzen. Unauffälligkeit ist für sie überlebensnotwendig. Min,
der Steppenadler, schien es allerdings mit diesem Verhalten
zu übertreiben, weil er sogar Mobilfunkmasten auswich.
Der kleine Sender auf seinem Rücken sollte eigentlich vier-
mal am Tag Mins Position übermitteln, so können die For-
scher Wanderrouten der Vögel nachvollziehen, und auf Ge-
fahren wie Strommasten oder Wilderer reagieren. Doch über
Monate hörten sie gar nichts von Min, bevor er sich überra-
schend von einer iranischen Müllkippe meldete. Er war lange
Zeit über so abgelegene Routen in Kasachstan, Usbekistan
und Turkmenistan geflogen, dass sein Signal keinen Mobil-
funkmast erreichen konnte. Nun sendete er Hunderte alte
Nachrichten auf einmal ab. Das Problem: Iran verlangt für
Textnachrichten nach Sibirien das 25-fache der russischen
Inlandsgebühren. Allein Mins Roamingkosten verschlangen
innerhalb weniger Tage den kompletten Etat, der für alle Adler
des Projekts vorge sehen war. Die Forscher mussten einen Kre-
dit aufnehmen. »Kameraden!«,
schrieb Schnaider eine eilige Nach-
richt an ihre Unterstützer, »die ses
Jahr ist etwas schiefgelaufen ...«
Russische Onlinemedien be-
richteten über den kostspieligen
Adler. Der »Daily Telegraph«
wollte sie sprechen, die »New
York Times« und die BBC, ame-
rikanische Radiostationen riefen
an, und das australische Fernse-
hen plant eine Dokumentation.
Schnell kam so viel Geld zusam-
men, dass sie nicht nur die Tele-
fonrechnung des kompletten Jah-
res zahlen konnte, sondern auch
des darauffolgenden.
Sie fragte sich, warum sich so
viele auf einmal für ihre Steppen-
adler interessierten. Vielleicht
kennt jeder das Gefühl, dass
die Telefonrechnung im Ausland
zu hoch ist, überlegte sie. Oder
vielleicht mögen Menschen auch
einfach, dass Adler anders reisen
als Menschen, dass sie frei sind,
sich nicht um Grenzen und
Mobil funk anbieter kümmern,
kein Visum brauchen oder Reise-
warnungen lesen. Sie hofft, dass
die Aufmerksamkeit den Adlern hilft. Seit ein paar Jahren
werden sie auf der Roten Liste als bedrohte Tierart eingestuft,
ihre Zahl geht zurück. Jedes Jahr, wenn Schnaider auf
ihrer Reise durch Sibirien und Kasach stan die Nester der
Steppenadler aufsucht, nimmt sie ein paar Federn mit, die
die Tiere verloren haben. Sie hofft, dass die Sammlung weiter
wächst.
Einen gibt es, der von der ganzen Aufregung völlig un -
gerührt ist: Min. Er hat mittlerweile das westiranische Za-
gros-Gebirge überquert, auch die Wüsten Saudi-Arabiens.
Manchmal denkt Schnaider darüber nach, was Min sucht,
sagt sie. Vielleicht ist es die schönste Müllkippe der Welt,
mit viel Aas und saftigen Ratten. Vielleicht ist es etwas völlig
anderes. Zurzeit hält er sich wieder an einem Ort auf, an
dem keiner der anderen Adler aus Schnaiders Projekt ist:
im Jemen.Jonathan Stock

Reisefreiheit


Wie ein junger Vogel eine russische Forscherin
erst arm und dann weltberühmt machte

Eine Meldung und ihre Geschichte

ELENA SCHNEIDER
Schnaider mit Adler

Von der Website N-tv.de
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