Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

60 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Reporter

A


m Strand von St Andrews an der
Ostküste Schottlands kann man
gelegentlich eine einsame Frau
sehen, die dicht am Wasser spa-
ziert, auf dem feuchten, festen Sandstrei-
fen. Sie trägt ihr Haar grau, der Nordsee-
wind weht es ihr um die Ohren. Die Frau
schließt die Augen und hält ihre Nase in
den Wind. Die Nase zuckt und hebt sich,
als würde die Frau gleich niesen.
Die Frau heißt Joy Milne. Sie hat 26 Jah-
re lang als Krankenschwester gearbeitet,
drei Söhne großgezogen, ihren Mann ge-
pflegt. Nun ist sie verwitwet. Sie reist viel,
spaziert viel. Sie ist 69 Jahre alt.
Ihre Nase ist etwas gekrümmt, nicht son-
derlich groß und nicht klein, an der Na-
senwurzel, wo die Brille sitzt, sieht man
Druckstellen, wenn Joy Milne ihre Brille
abnimmt, was sie tut, um aufs Meer zu bli-
cken. Joy Milne hat eine besondere Nase:
Sie nimmt Gerüche stärker wahr, als die
meisten Nasen es tun.
Sie riecht Kaffee, bevor sie die Tür zu
einem Café öffnet, den Duft ihrer Enkel,
bevor die Kinder sie umarmen. Anderer-
seits riecht sie im Alltag Dinge, die sie
nicht riechen will. Abgase, Metzgereien,
Parfumgeschäfte, Kabinenluft; Joy Milnes
Nase läuft und blutet, wenn ihr die Welt
stinkt. Unangenehme Gerüche lassen sie
frieren. Sie flieht dann an die Nordsee.
Der Fachbegriff für ihre gesteigerte
Riechwahrnehmung heißt Hyperosmie,
von griechisch: osme, »Geruch«. Hyper-
osmie kommt bei Epilepsie vor, bei Psy-
chosen, in der Schwangerschaft. Joy Milne
hat diesen Geruchssinn seit ihrer Kindheit.
Sie sagt über sich: »Was Gerüche an-
geht, bin ich irgendwo zwischen Mensch
und Hund.«
Seit einigen Jahren interessieren sich
Wissenschaftler für ihre Nase.
Joy Milne riecht Krankheiten. Men-
schen mit Alzheimer riechen für sie nach
Roggenbrot. Diabetes riecht nach süßem
Nagellack, Krebs nach Pilzen, Tuberkulo-
se nach feuchtem Karton. Sie hat in ihrem
Leben Tausende Kranke gepflegt.
Am besten kennt Joy Milne den Geruch
von Parkinson. Ihr Mann Leslie starb da-
ran. Dessen Mutter starb daran. Auch sie
hatte Joy Milne gepflegt.
Alle paar Wochen rasiert sie sich Här-
chen von der Oberlippe, die sie beim Rie-


chen stören. Sie steigt in ihren weißen
Honda Jazz und fährt vom schottischen
Perth, wo sie in einem kleinen Haus mit
Garten lebt, nach Manchester. Die Fahrt
dauert fünf bis sechs Stunden, und jedes
Mal, wenn Joy Milne die Drehtür zum
Manchester Institute of Biotechnology auf-
schiebt, 131 Princess Street, fühlt sie sich
als Teil von etwas Großem.
Die Schüttellähmung gibt es vermutlich
seit Menschengedenken, bereits ein ägyp-
tischer Papyrus aus dem 12. Jahrhundert
vor Christus beschrieb die Leiden eines
sabbernden Herrschers. Bis heute gibt es

keine Heilung. Niemand weiß, wie genau
Parkinson entsteht.
Forscher warnen vor einer »Parkinson-
Pandemie«: Bis 2040 soll sich die Zahl der
Patienten weltweit auf etwa 14 Millionen
verdoppeln. Die Lebenserwartung steigt
und mit ihr das Risiko, an Parkinson zu er-
kranken.
Parkinson tötet Hirnzellen. Der Kranke
verliert schleichend die Kontrolle über sei-
nen Körper, seine Bewegungen, seine Spra-
che. Es ist ein langer Abschied.
Die letzten drei Nächte, bevor ihr Mann
starb, lag Joy Milne neben ihm im Dunkeln.
Sie redeten, so offen, sagt sie, wie noch nie
in 42 Jahren Ehe. Les, so nannte sie ihn,
entschuldigte sich bei ihr, vor allem dafür,
was die Krankheit aus ihm gemacht hatte.

Der Feind heißt allem Anschein nach
Alpha-Synuklein: ein Eiweiß, das sich bei
Parkinson-Kranken aus rätselhaften Grün-
den darauf verlegt, Schaden anzurichten.
Alpha-Synuklein reguliert normalerweise
die Ausschüttung des Botenstoffs Dopa-
min. Ohne Dopamin könnte der Mensch
wohl kaum eine Kaffeetasse halten: Die
Signale, die das Hirn an die Hand schickt,
würden die Hand gar nicht erreichen.
Erkrankt jemand an Parkinson, beginnt
das Eiweiß offenbar ausgerechnet jene
Nervenzellen zu töten, die Dopamin her-
stellen. Das Ganze spielt sich im Mittelhirn
ab, in der Region mit dem Namen Sub-
stantia nigra, die schwarze Substanz. Sie
ist dunkler als der Rest des Gehirns und
sieht auf Hirnschnitten aus wie eine
schwarze Schleife um einen hellen Hut.
Parkinson frisst sich im Verborgenen vo-
ran. Bis die motorischen Symptome auf-
treten – Verlangsamung der Bewegungen,
Zittern, Muskelsteifheit –, bis ein Arzt die
Diagnose stellen kann, sind 50 bis 70 Pro-
zent der Zellen zerstört.
Seit der britische Arzt James Parkinson
im Jahr 1817 »Eine Abhandlung über die
Schüttellähmung« veröffentlichte, haben
Generationen von Patienten die gleiche Er-
fahrung gemacht: »So leicht und so
beinahe unmerklich sind die Einbrüche die-
ser Krankheit«, schrieb Parkinson, »und
so extrem langsam deren Fortschritt, dass
es selten vorkommt, dass der Patient sich
an die genaue Zeit ihres Beginns erinnert.«
In Manchester geht ein Forscherteam
der Frage nach, ob man Parkinson nicht
früher erkennen kann. Pharmaunterneh-
men arbeiten seit Jahren an Medikamen-
ten, aber was bringen die besten Medika-
mente, wenn man sie erst einsetzen kann,
wenn die Hirnzellen schon tot sind?
Das Team in Manchester wird geleitet
von Perdita Barran. Die Professorin trägt
Jeans und Sneakers und eine Sonnenbrille
im Haar, sie könnte Joy Milnes Tochter
sein. Wenn Joy Milne nach Manchester
kommt, übernachtet sie bei ihr zu Hause.
Barran ist Chemikerin, keine Parkinson-
Forscherin, aber seit Joy Milne vor acht
Jahren der Fachwelt mitteilte, sie könne
Parkinson riechen, beschäftigt sich Barran
sehr viel mit Parkinson.
Joy Milne sagt, sie rieche Parkinson
bereits in frühen Stadien. Barran will mit

Der Geruch von Moschus


SinneParkinson ist bislang unheilbar. Wenn die Krankheit ausbricht, kann man nur die Symptome
lindern. Eine Krankenschwester aus Schottland leistet einen ungewöhnlichen Beitrag

zur Forschung: Sie kann Parkinson riechen. Von Timofey Neshitov und Daniel Etter (Fotos)


Geruchsprobe in Manchester
15 000 Euro für eine E-Nase
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