Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
ihrer Hilfe einen Früherkennungstest
entwickeln. Das Projekt heißt NoseTo -
Diagnose.
Gerüche bestehen aus Molekülen. Mo-
leküle lassen sich messen, erhitzen, in Röh-
ren beschleunigen. In Manchester versucht
Perdita Barran, einer Maschine beizubrin-
gen, das zu riechen, was Joy Milne riecht.
Was genau riecht Joy Milne?
Sie wusste das lange selbst nicht.
Leslies Körpergeruch liebte sie lange
Jahre. »Ein starker, maskuliner, moschus-
artiger Duft.«
Ihr erstes, holpriges Gespräch über Kör-
pergerüche hatten Joy und Leslie Milne
im Jahr 1981. Les war Anfang dreißig, ein
erfolgreicher Anästhesist, Chefarzt an ei-
nem großen Krankenhaus. Eines Abends
sei er nach Hause gekommen, erinnert sich
Joy Milne, und habe gerochen, wie Teen-
ager, die ihre Sportklamotten zu selten wa-
schen. Du solltest öfter duschen, habe sie
ihm gesagt. Komm mal ins Bett, habe er
geantwortet, Kreuzworträtsel lösen.
Joy und Les lernten sich in der Schule
kennen, in der Küstenstadt Dundee, wo der
Fluss Tay in die Nordsee mündet. Sie war
16, er 17, Kapitän der Wasserballmannschaft.
Joy wollte eigentlich Französisch lernen in
Paris. Wegen Les blieb sie in Dundee.
Dundee roch damals nach Jute. Nir-
gendwo in Großbritannien wurde mehr
Jute angebaut als in Dundee. Joy Milne
führt gern auf den Law Hill, einen grünen,
170 Meter hohen Hügel in Dundee, mit
Blick auf den Tay. »Les und ich waren öfter
hier oben«, sagt sie. »Nun riecht es hier
nach Wiesenprimel.«

Schließt Joy Milne die Augen,riecht sie
in Farben. Wenn sie sich eine Blume an
die Nase führt, dreht sich in ihrem Kopf
ein »Kaleidoskop«, wie sie sagt. Der Fach-
begriff für dieses Überlagern von Sinnen
heißt Synästhesie. Die Farbe des Geruchs
hat dabei selten mit der Farbe des Gegen-
stands zu tun. Kaffee riecht für sie »aufge-
wirbelt grau«, die Nordsee smaragdgrün.
Auch Menschen haben Farben. Perdita
Barran in Manchester – Joy Milne nennt
sie Perdi – riecht für sie grün, manchmal
orange, fast rot, wenn Perdi lache. Les sei
»deep purple« gewesen. Dunkellila.
Sie roch ihren Les, wie andere ein Ge-
mälde betrachten oder eine Symphonie
hören. Les selbst roch nichts. Bereits mit
Ende zwanzig hatte er seinen Geruchssinn
verloren. Nicht bei jedem, der seinen Ge-
ruchssinn verliert, wird später Parkinson
diagnostiziert; eine Kopfverletzung, Tumo -
ren, eine schwere Erkältung können den
Geruchssinn schwächen. Aber hat jemand
Parkinson, kann er sich auf seine Nase
meist nicht mehr verlassen. Inzwischen
gilt das als ein Frühzeichen von Parkinson.
Ein weiteres Warnzeichen, von dem sie
nichts wussten, waren Verstopfungen. Joy


Milne kochte ihrem Mann deshalb Gemü-
seeintöpfe. Er schlief unruhig, träumte von
Jagdausflügen, schoss im Schlaf auf Brom-
beerbüsche, schreckte im Bett auf, richtete
sein imaginäres Gewehr auf seine Frau.
Einmal verlor sie dabei eine Zahnkrone.
Auch Schlafstörungen, das weiß sie heute,
sind ein mögliches Symptom.
Was im Körper eines Parkinson-Patien-
ten vor der Diagnose abläuft, ist bei jedem
anders, es hängt von der Genetik ab, von
der Ernährung, davon, ob und wie viel
Sport man treibt.
Joy Milne glaubt heute, dass vieles, was
aus ihrem Les einen anderen Les machte,
an Parkinson lag. Sein Mundgeruch ab 30.
Das Ohrenschmalz auf dem Kissen. Die
talgige Haut auf dem Rücken, im Gesicht.
Seine Beschwerden, das Essen schmecke
fad. Damals dachten sie nicht an Parkin-
son. Les wusch sich die Ohren, putzte sich
die Zähne, streute immer mehr Salz auf
sein Essen, immer mehr Pfeffer.
Sie bekamen drei Kinder.
Nach einer Hypothese beginnt Parkin-
son nicht im Kopf, sondern im Bauch: Al-
pha-Synuklein mutiert demnach im Darm
und wandert über Verästelungen des Va-
gusnervs in Richtung Hirn. Wie es sich
dann im Hirn ablagert, beschrieb der deut-
sche Anatom Heiko Braak. 2003, zwölf
Jahre vor Leslie Milnes Tod, veröffentlich-
te Braak sein Sechsstufenmodell. Er hatte
dafür Hunderte Gehirne seziert.
Als Erstes wird der Vagusnerv im Hirn-
stamm befallen, der zehnte Hirnnerv, der
die meisten inneren Organe versorgt. Hier

* Tuesday 17th December. I have let it all go AGAIN.
IT IS STUPID. He will never think of me, care for
me and I punish myself by eating. IT HAS TO
STOP. 1: A book / record of what I eat. 2: Times for
drinking – phone / watch. 3: INJECTION. 4: TABLETS.
5: HOUSEWORK. 6: IRONING. 7: EXERCISE. ALL
ME THINGS. Lift yourself out of this JOY.

treten die ersten Verklumpungen auf, von
hier breitet sich die Krankheit über den
Hirnstamm im gesamten Gehirn aus. Die
für Dopamin wichtige Region Substantia
nigra wird erst im dritten Stadium ange-
griffen. Diese Stufe ist kritisch.
Heiko Braak schrieb: »Wäre es möglich,
die Parkinson-Krankheit bereits in den frü-
hen, vorsymptomatischen Stadien 1 und
2 zu diagnostizieren, und gäbe es eine kau-
sale Therapie, könnte die anschließende
Zerstörung der Substantia nigra abgewen-
det werden.«
Bei Leslie Milne muss der Prozess mit
Ende dreißig unumkehrbar geworden sein.
Der fremde Geruch, für den Joy Milne kei-
ne Erklärung fand, wurde stärker, cremiger,
fettiger. Sie hatte aufgehört, Les darauf an-
zusprechen. Les bekam Erektionsstörungen.
Von da an gab es zwei Leslies, wie bei
Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Der eine war auf-
merksam, fleißig, ein guter Vater. Der an-
dere launisch, unnahbar, schwach. Sein
Körpergeruch wurde Joy Milne immer
fremder. Sein schönes Dunkellila bekam
braune Töne.
Krankheiten greifen in den Stoffwechsel
ein. Bereits Hippokrates und Avicenna setz-
ten zur Diagnostik ihre Nasen ein. Bei Cho-
lera riecht der Kot fischig, bei Diabetes der
Urin süßlich. Heute muss kein Arzt mehr
an Kotproben riechen.
Wenn Joy Milne versucht, den Geruch
von Parkinson in Worte zu fassen, muss
sie nachdenken: »moschusartig ... talgig«.
Moschus ist aber ein begehrter Geruch,
Grundnote von Parfums. Hat sie nicht den
Körperduft ihres Mannes vor der Krank-
heit so beschrieben? Joy Milne sagt, sie
werde weiter darüber nachdenken.
Es ist nicht leicht, einen Geruch zu be-
schreiben, den das Gegenüber nicht rie-
chen kann. Das liegt am komplexen Ge-
ruchssystem des Menschen, im Gegensatz
etwa zu unserem Geschmackssinn. Der
Mensch schmeckt süß, bitter, salzig, sauer,
umami (fleischig-herzhaft). Unsere Nase
kann etwa 400 Gerüche unterscheiden.
Da in unserem Wortschatz die Adjektive
dazu fehlen, beschreiben wir Gerüche
durch Vergleiche: Etwas riecht nach Jas-
min, nach Moschushirsch.
Unsere Geruchsrezeptoren befinden
sich in der Schleimhaut der Nasenhöhlen;
es sind Proteinkomplexe, die jeweils für
nur ein Geruchsmolekül zuständig sind.
Sie werden aktiv, wenn ihr Molekül durch
die Nase kommt und sich passend andockt.
Geruchsmoleküle unterscheiden sich in
Größe und Form. Das System funktioniert
nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Ein
Hund hat 800 Geruchsrezeptoren.
Etwa vier Jahre vor der Diagnose be-
gann Leslie Milnes rechte Hand zu zittern.
Er verbarg es vor seiner Frau, indem er
die Hand in die Hosentasche steckte. Seine
Kollegen bemerkten das Zittern und dach-

62 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019

Reporter

Milne-Tagebucheintrag*
Les roch immer weniger nach Les
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