Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

ten, er trinke. Als auch Joy Milne es be-
merkte, dachte sie, Les habe einen Hirn-
tumor. Einen Tag vor seinem 45. Geburts-
tag brachte sie ihn zum Arzt, der stellte die
Dia gnose: Parkinson.
Die Milnes wussten, es geht bergab, aber
sie wussten endlich auch, woran sie waren.
Joy Milne begann Tagebuch zu führen.
Zur Zeit von James Parkinson lebten
Patienten mit motorischen Symptomen
nur wenige Jahre. »Wenn der Körper
schwächer wird und der Einfluss des Wil-
lens auf die Muskeln schwindet, wird das
Zittern vehement«, schrieb Parkinson.
»Jetzt lässt ihn das Zittern in den seltensten
Momenten in Ruhe; aber sogar wenn
die erschöpfte Natur eine kleine Portion
Schlaf ergattert, wird die Bewegung derart
gewaltig, dass nicht mehr nur die Bettvor-
hänge geschüttelt werden, sondern sogar
der Boden und die Fenster im Raum ...
Urin und Kot werden unfreiwillig ausge-
schieden; schließlich kündigen fortwähren-
de Schläfrigkeit, mit leichtem Delirium,
und andere Anzeichen äußerster Erschöp-
fung die ersehnte Erlösung an.«
Als Leslie Milne seine Diagnose bekam,
1994, hatten die Ärzte gelernt, mehrere
Parkinson-Symptome zu kontrollieren.
Der wichtigste Wirkstoff hieß und heißt
Levodopa, eine Aminosäure, die man als


Tablette oder Kapsel schluckt. Sie wird im
Gehirn in Dopamin umgewandelt. Es gibt
Präparate, die den Abbau von Dopamin
hemmen, und welche, die die Wirkung
von Dopamin nachahmen.
Leslie Milnes Hand hörte auf zu zittern,
er fuhr wieder seinen Jaguar, lachte über
sein zweites Ich, diesen unberechenbaren
Les, den er nun etwas besser im Griff hatte.
Er arbeitete fünf weitere Jahre als Anäs-
thesist. Nur seinen Körpergeruch konnten
die Pillen nicht wiederherstellen.
Les roch immer weniger nach Les.
Je länger man Parkinson-Medikamente
nimmt, desto wahrscheinlicher sind Neben-
wirkungen. Leslie Milne hatte Übelkeit,
Schwindel. Er wurde depressiv. Einige Pa-
tienten leiden unter einer Bewegungsstö-
rung, bei der sich der Körper unkontrolliert
in alle Richtungen beugt und windet. Eini-
ge werden spielsüchtig oder kaufsüchtig,
andere erleiden Psychosen, werden auf-
dringlich.
An seinem 50. Geburtstag erschien Les
zur eigenen Party in einem Slip mit schot-
tischer Flagge darauf. Eine Hose hatte er
nicht an. Er mischte sich eine Bacardi Cola
und ließ sich auf den Schoß einer jüngeren
Kollegin nieder.
Eines Nachts stieß er seine Frau aus dem
Bett. Er starrte sie an, wie im Bann einer

Halluzination. Er schlug sie auf die Brust.
Auf die Arme. Schlief wieder ein. Am Mor-
gen weinte er. Joy Milne blieb zwei Tage
zu Hause, blaue Flecken an der Brust. Bei
der Arbeit log sie, sie habe einen Auto -
unfall gehabt.
Leslie Milne kündigte seinen Job. Er
verkaufte den Jaguar, besorgte sich einen
batteriebetriebenen Buggy. Die Milnes leb-
ten damals in Macclesfield, südlich von
Manchester. 2009 zogen sie zurück nach
Schottland und kauften ein Haus in Perth,
einer Stadt unweit von Dundee.
An einem Nachmittag begleitete Joy
Milne ihren Mann zu einer Veranstaltung
im Gemeindezentrum gegenüber der Kir-
che. Ein Sozialarbeiter sollte vortragen,
welche Leistungen Parkinson-Kranken zu-
stehen. Als sie ankamen, saßen im Raum
zwei Dutzend Patienten. Jeder Einzelne
roch nach Les.
30 Jahre nachdem sie ihrem Mann vor-
geworfen hatte, er würde stinken, 15 Jahre
nach seiner Diagnose, verstand sie, was
sie die ganze Zeit gerochen hatte.
Zu Hause erzählte sie Les von ihrer Ent-
deckung. »Wir müssen da wieder hin«, sag-
te er, »wir müssen sicher sein.« Sie besuch-
ten eine weitere Veranstaltung im Gemein-
dezentrum, fuhren zu Patiententreffs nach
Inverness, Aberdeen, Fife. Joy Milne hatte

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Vater Milne mit Familie 2014: »Tee wäre schön«
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