Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 65


keine Zweifel mehr. Aber an wen sollte sie
sich wenden?
Bei einem Vortrag lernte sie Tilo Kunath
kennen, Gruppenleiter am Zentrum für Re-
generative Medizin der Universität Edin-
burgh. Kunaths Fachgebiet sind Stamm -
zellen. Joy Milne fragte ihn: »Warum nut-
zen wir nicht den Geruch von Parkinson,
um die Diagnose früher zu stellen?« Kunath
hörte höflich zu. Ob sie womöglich den Ver-
lust des Geruchssinns bei Patienten meine?
Joy kontaktierte keine Forscher mehr.
Sie pflegte Les.
Er war inzwischen dement. Vergaß sei-
ne Medikamente. Am Ende musste er
19 Tabletten am Tag schlucken.
Um seinen Mangel an Dopamin auszu-
gleichen, kaufte Les für 50 Pfund Schoko-
lade, setzte sich in seinen weißen Senio-
rensessel und hörte Dolly Parton.
Er unterschrieb eine DNR-Anordnung,
do not resuscitate. Nicht wiederbeleben.
Wenn Joy Milne an ihm roch, roch sie
nur noch Parkinson, kastanienbraun.
Les stützte sich auf einen Stuhl und jä-
tete Unkraut in der Hauszufahrt. Die Söh-
ne kamen immer öfter zu Besuch, dabei
die Enkelkinder. Im April 2013 machten
sie ihren letzten Urlaub und reisten zu Joys
Schwester nach Dubai. Auf dem Flug
sperrte sich Les in der Toilette ein, bekam
die Tür nicht mehr auf.
Monate nach ihrem Besuch in Edin-
burgh meldete sich Tilo Kunath bei Joy
Milne. Ob sie für ihn an ein paar T-Shirts


riechen würde, fragte er. Sie bekam zwölf
T-Shirts vorgelegt. Sechs waren von Par-
kinson-Patienten getragen worden, sechs
von gesunden Menschen. Die T-Shirts wa-
ren in jeweils zwei Teile zerschnitten. Joy
Milne setzte die 24 Teile richtig zusammen.
Dann sollte sie sagen, welche T-Shirts nach
Parkinson rochen. Es waren sieben.

Treffsicherheit 92 Prozent.Tilo Kunath
erzählte Joy Milne von einer Bekannten
in Manchester, der Chemikerin Perdita
Barran, die im Labor Geruchsmoleküle
messe. Monate vergingen. Es meldete sich
der siebte Teilnehmer, der gesunde.
Auch er hatte nun Parkinson.
Am Morgen des 2. Juni 2015 sagte Joy
Milne zu ihrem Mann: »Les, ich mache
uns Tee.« Les hatte eine Harnblasenent-
zündung, an diesem Tag sollte er ins Kran-
kenhaus gebracht werden. Er hatte Angst,
dass er die Operation nicht überleben wür-
de. Er sagte: »Tee wäre schön.«
Von der Küche aus hörte sie, wie er von
seinem Ledersessel aufstand und hinfiel.
Sie versuchte, ihn wiederzubeleben.
Leslie Milne starb am Nachmittag im
Krankenhaus. Zu seiner Beerdigung ka-
men Spieler seiner Wasserballmannschaft.
Im März dieses Jahres erschien in einer
Fachzeitschrift der American Chemical So-
ciety eine Studie, die nachwies, dass der
Geruch von Parkinson eine eigene mole-
kulare Signatur hat. Unter den zwölf Au-
torennamen war auch der von Joy Milne.

Chemiker beschreiben Gerüche, indem
sie deren Moleküle benennen. Bei Parkin-
son kommt es offenbar auf vier organische
Verbindungen an: Perillaaldehyd, Hippur-
säure, Eicosan, Octadecanal. Es sind, un-
ter anderem, diese vier Verbindungen, die
Joy Milne riecht, wenn sie Parkinson
riecht.
Für eines der Experimente in Manchester
wurden Teilnehmern Talgproben vom obe-
ren Rücken genommen. Die Proben wurden
erhitzt, die freigesetzten Moleküle aufge-
trennt und durch ein Rohr der Nase von Joy
Milne zugeführt und zeitgleich mit einem
anderen Gerät ausgemessen. Joy Milne
drückte einen Knopf, sobald sie den Parkin-
son-Geruch erkannte. So signalisierte sie den
Forschern, auf welche Moleküle es ankam.
In Zukunft soll der Parkinson-Test zwei
Minuten dauern, so plant es das Team in
Manchester: Der Arzt wischt dem Patien-
ten mit einem Wattestäbchen über den Rü-
cken, überträgt die Probe auf einen Papier-
streifen, schiebt diesen in einen Kasten,
eine sogenannte elektronische Nase. Sie
soll 15 000 Euro kosten.
Joy Milne sagt, zehn Jahre vor der Dia -
gnose roch ihr Mann anders als drei Jahre
vor der Diagnose.
Im Juli saß sie wieder mit Perdita Barran
in Manchester und roch an Prodromalpro-
ben aus einer Klinik in Innsbruck. Bei
Prodromalpatienten sind keine motori-
schen Symptome sichtbar, sie klagen aber
über Verstopfungen oder den Verlust des

Ehemalige Krankenschwester Milne, Forscherinnen in Manchester: »Wir sollten deine Nase versichern«
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