Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
67

sei normal gewesen, wendeten sich die Ermittler anderen
Verdächtigen zu.
Höchel und sein Partner stellten vieles infrage, was 40 Jah-
re zuvor ermittelt worden war, auch die Aussage von R.s
Frau. Sie hatte sich mittlerweile von R. getrennt. »Er hat sie
geschlagen, hat sie vergewaltigt.«
Höchel irritierte besonders die Lage, in der Carmen Kampa
gefunden worden war. Sie war ungewöhnlich für ein Verge-
waltigungsopfer. Sie lag im Gras, als wäre sie von einer Schul-
ter abgelegt worden. Als Soldat hatte Höchel gelernt, wie
eine verletzte Person über der Schulter zu tragen ist. Höchel
warf eine Kollegin mehrere Male von seinen Schultern auf
eine Turnmatte. Das Ergebnis: Carmen Kampa hatte auf der
rechten Schulter gelegen, auf der Schulter, die ein Rechtshän-
der auswählen würde. Hermann R. war Rechtshänder.
An der Leiche waren fremde Haare gefunden worden. Ein
DNA-Vergleich mit den Haaren von R.s Schwester legte nahe,
dass R. tatsächlich der Täter gewesen war. Etwa ein halbes
Jahr nach der Wiederaufnahme der Ermittlungen präsentier-
ten die Staatsanwaltschaft und die Polizei gemeinsam ihre
Ergebnisse.
Für seine Tat musste sich Hermann R. nicht mehr ver -
antworten. Er war acht Jahre zuvor gestorben, allein, in
sei ner Wohnung. Seine Leiche wurde erst nach Tagen ge-
funden. Uwe Buse

Auf dieser Brachfläche an den Bahngleisen legte
Hermann Richter die Leiche von Carmen Kampa ab.

Mein Fall


Kay-Christian Höchel, 52,
studierte Biologie und trat 1991 in den Polizei -
dienst ein. Nach elf Jahren beim Mobilen
Einsatzkommando kam er zur Kripo.
Heute ist er im Kommissariat K33 für Kapital -
delikte zuständig.

Der dritte


Mann


sich mit dem Tod der 17-jährigen Frau befassten. Höchel war
gerade zum Mordkommissariat gewechselt, sein neuer Chef
hatte ihm vorgeschlagen, er könne sich zum Einarbeiten
mit einem der alten, ungelösten Fälle beschäftigen, einem
Cold Case.
Der Name Carmen Kampa sagte Höchel nichts. Erst als er
sich mit einem Kollegen durch die Akte arbeitete, erkannte
er, dass sein Chef ihn nicht nur gebeten hatte, einen Todesfall
aufzuklären, der fast ein halbes Jahrhundert zurücklag.
Höchel sollte außerdem einen Skandal, der die Bremer Justiz
bundesweit in die Schlagzeilen gebracht hatte, zu einem
erträglichen Ende bringen.
Carmen Kampa starb am 1. Mai 1971 gegen 23.25 Uhr an
einer Böschung nahe dem Bahnhof Bremen-Oslebshausen.
Sie war auf dem Heimweg von einer Diskothek. Den Mann,
der ihr begegnete, kannte sie nicht. Möglich, dass sie keinen
Verdacht schöpfte, weil er eine Uniform trug, die der eines
Polizisten ähnelte. Ein Zeuge sah den Täter und sein Opfer
aus einem Zug, der gerade aus dem Bahnhof herausfuhr. Er
hörte die Frau um Hilfe rufen, er sah, wie der Mann sie zu
Boden drückte. Schon zehn Minuten später suchten drei
Beamte das Gebiet ab, ergebnislos.
Drei Tage später wurde Carmen Kampas Leiche gefunden,
auf einem unbebauten Grundstück, nicht weit vom Tatort
entfernt: die Bluse hochgeschoben, die Hose verrutscht. Einer
der Ersten, der sie dort liegen sah, war ihr Vater. Er arbeitete
beim zivilen Bevölkerungsschutz und hatte über Funk gehört,
dass eine junge Frau gefunden worden war.
Fast vier Jahre dauerte es, bis der vermeintliche Täter ver-
urteilt werden konnte, ein Arbeiter namens Otto B., der an-
hand von Indizien schuldig gesprochen wurde. Sein Vertei-
diger erreichte wegen eines Verfahrensfehlers die Aufhebung
des Urteils. Während der neuen Verhandlung wurde nachge-
wiesen, dass zumindest eine zweite Person, Helmut H., ein
Dieb und Einbrecher, auch verdächtig war. Otto B. wurde
freigesprochen.
Gegen Helmut H. wurde keine Anklage erhoben. Die Akte
landete im Archiv. Carmen Kampas Vater starb, ohne zu wis-
sen, wer seine Tochter ermordet hatte.
Das alles las Kay-Christian Höchel, als er sich 2011, ge-
meinsam mit einem Kollegen, die Akte ansah. Mehr als tau-
send Spuren waren nach der Tat abgearbeitet worden.
Spurenakte 135 beschäftigte sich mit dem Wachmann
Hermann R., der nachts in der Nähe des Tatorts auf einem
Mofa seine Runden gedreht hatte. Gegen Mitternacht ver-
säumte er es, nicht weit vom Tatort entfernt, eine Kontroll-
uhr zu bedienen. Am Tatort wurde außerdem ein Stoff -
taschentuch gefunden, das R.s Frau wiedererkannte. Als sie,
nach den Sexualpraktiken ihres Mannes befragt, sagte, alles


40 Jahre nachdem Carmen Kampa ver-


gewaltigt und erdrosselt worden


war, nahm der Kriminalhauptkommis-


sar Kay-Christian Höchel die erste von


sehr vielen Akten in die Hand, die

Free download pdf