Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

I


n fünf Monaten, im März 2020, will
der Bauleiter Klaus Haussmann in
Rente gehen. »Nun aber wirklich«,
sagt er. Es ist sein dritter Anlauf.
Haussmann ist 71 Jahre alt. Man sieht
ihm die Jahre kaum an, wenn er mit
Schutzhelm, Arbeitsjacke und ordentlich
Tempo ins Containerbüro stiefelt. Zweimal
hat er sich überreden lassen, aus dem
Ruhestand zur Baustelle zurückzukehren.
Man braucht den Ingenieur hier, in Lubmin
bei Greifswald, wo die beiden Stränge der
russischen Erdgaspipeline Nord Stream 2
nach 1230 Kilometern die deutsche Ostsee-
küste erreichen. Keiner hat so viel Erfah-
rung mit solchen Projekten wie er.
Haussmann, gebürtiger Pfälzer, hält vor
einer Landkarte inne, sie hängt an einer
Containerwand und zeigt das deutsche
Gasnetz. An vielen Anlagen habe er mit-
gewirkt, erzählt er und fährt mit dem Fin-
ger die Leitungsrouten entlang: beim Bau
von Kraftwerken, Verdichtern, Betriebs-
gebäuden. Jetzt will der Bauleiter seinen
letzten, seinen größten Job erledigen, die
Empfangsstation für Nord Stream 2.
»Alles ist so weit vorbereitet«, sagt er.
Das Gas könnte bald strömen – wenn da
nicht die Weltpolitik wäre, dieses beunru-
higende Szenario, das derzeit die Regie-
rungen in Berlin, Kiew und Warschau, in
Moskau und in Washington beschäftigt:
Der US-Senat könnte Sanktionen verhän-
gen und damit das Milliardenprojekt noch
zum Scheitern bringen, wenige Monate
vor der geplanten Fertigstellung. Der Ge-
setzentwurf dazu ist längst formuliert.
Der Inhalt zielt ausdrücklich auf Unter-
nehmen und Mitarbeiter ab, die mithilfe
von Spezialschiffen »Röhren in Tiefen von
100 Fuß (rund 30 Metern) oder mehr« für
russische Gasexporteure verlegen. Die
Amerikaner drohen, Konten einzufrieren
und Führungskräften die Einreise zu ver-
weigern. Eine solche Strafe wäre fatal für
Firmen, die maßgeblich von US-Aufträgen
abhängen, etwa im Golf von Mexiko.
Machen die Amerikaner Ernst, werden
die Eigner der Schiffe wohl keinen Mo-
ment zögern und die Arbeit an der Pipe-
line einstellen, das haben sie bereits si -
gnalisiert. Es wäre ein Fiasko für die Rus-
sen. Weltweit gibt es nur fünf dieser
schwimmenden Verlegefabriken anzumie-
ten; Ersatz ließe sich kaum auftreiben. Das
Nord-Stream-2-Vorhaben wäre tot.
Schon in den vergangenen Monaten hat
es immer wieder gehakt. Zuletzt zögerten
die Dänen mit der Entscheidung, ob sie
die Pipeline durch ihre Hoheitsgewässer
südöstlich von Bornholm laufen lassen sol-
len; erst in der vorigen Woche stimmten
die Behörden zu. Der dänische Teil ist der-
jenige, der noch fehlt.
Genau 294 Kilometer Pipeline, pro
Strang 147 Kilometer, trennen die Leitung
von der Vollendung, der Endspurt hat be-


DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL
Bauleiter Haussmann
»Alles ist so weit vorbereitet«

Deutschlands
Erdgasquellen
Anteil an den
Importen 2017
Norwegen in Prozent
21

Niederlande
29

Russland
45

Sonstige
5

RUSSLAND

POLEN
DEUTSCHLAND

UKRAINE

Nord Stream 1 und 2

Greifswald

Wyborg
St. Petersburg

Abkürzung
in den Westen
Die wichtigsten Pipelines
für russische Gaslieferungen

Quellen: DIW,
Forbes, McKinsey

71

gonnen. Schaffen die Russen den Anschluss,
oder gelingt es den Amerikanern, das Me-
gaprojekt auf den letzten Kilometern noch
zu stoppen?
Die Stahlröhren, jede gut zwölf Meter
lang und 24 Tonnen schwer, ummantelt
mit elf Zentimeter Beton, werden an Bord
des Verlegeschiffs »Solitaire« zusammen-
geschweißt und auf den Ostseegrund
abgesenkt. Rund drei Kilometer legt das
Ungetüm, 300 Meter lang, 70 000 PS stark,
am Tag zurück.
Die Nord-Stream-2-Gesellschafter – die
russische Gazprom sowie fünf europäische
Energiekonzerne, aus Deutschland Win -
tershall und Uniper – drücken aufs Tempo.
Sie wollen alle rund 200 000 Einzelstücke
verlegt haben, bevor sie der Bannstrahl
aus Washington treffen könnte.
Der Schlagabtausch zwischen den USA
und Russland erinnert an die Konstellation
zwischen 1945 und 1989, der Zeit des Kalten
Krieges. Damals drohten die Großmächte
damit, den Konflikt mit militärischer Gewalt
zu eskalieren, SS-20-Raketen standen Per-
shing-II-Flugkörpern gegenüber. Diesmal
führen Amerikaner und Russen die Aus -
einandersetzung subtiler, mit wirtschaft -
lichen Mitteln: Sie kämpfen um die Herr-
schaft im globalen Energiegeschäft – mit

Tricks, Bluffs und jeder Menge Einschüch-
terung. Und wie im Kalten Krieg tragen die
Kontrahenten den Kampf in Deutschland
aus, der Energiedrehscheibe für Europa. Nir-
gendwo prallen ökonomische und geopoli-
tische Interessen derart aufeinander.

Amerika gegen Russland – und
dazwischen die Deutschen
Die Amerikaner: Sie suchen neue Absatz-
märkte für ihr LNG (»Liquefied Natural
Gas«), für verflüssigtes Erdgas, auf minus
162 Grad Celsius heruntergekühlt, das sie
auch nach Europa verschiffen. Da stört ein
Wettbewerber, der den Kontinent per
Pipeline zuverlässig und günstig mit Ener-
gie versorgt.
US-Präsident Donald Trump will die
Marktmacht der Russen in Europa brechen.
Trumps Zorn richtet sich gegen Moskaus
Hauptabnehmer Deutschland, er argumen-
tiert in Logik und Diktion originalgetreu
wie ein Kalter Krieger. »Wir beschützen
Deutschland vor Russland, und Russland
bekommt Milliarden von Dollars von
Deutschland«, schimpft er. Die Pipeline
mache Berlin erpressbar und die Bundes-
regierung zur »Geisel Russlands«.
Die Russen: Sie wollen das Geschäft mit
Energieexporten ausbauen, es ist ihr wich-
tigster Devisenbringer. Rund 55 Milliar-
den Kubikmeter Erdgas sollen via Nord
Stream 2 jährlich nach Europa gelangen,
etwa so viel, wie die Russen bereits durch
die 2011 fertiggestellte erste Nord-Stream-
Leitung transportieren. Zusammen deckt
das einen Großteil der Kapazität, die bis-
lang für den Landweg durch die Ukraine
zur Verfügung steht. Das ist kein Zufall.
Mit der Ostseeroute will Russlands Prä-
sident Wladimir Putin auch die Ukraine
umgehen. So könnte er den Staat schwä-
chen, in dessen Ostteil die Russen seit fast
sechs Jahren die Separatisten militärisch
unterstützen; und er würde Milliardensum-
men an Transitgebühren sparen, die Mos-
kau widerwillig an Kiew zahlt.
Und die Deutschen? Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU), öffentlich auf
Distanz zu Putin, steht hinter dem Ost -
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