Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

A


m 22. Oktober um 13.15 Uhr
schickt Hoang Van Tiep seiner
Mutter Hoang Thi Ai eine Text-
nachricht. »Ich bin auf dem
Weg.« Es ist sein letztes Lebenszeichen.
Hoang Thi Ai sitzt an einem Novem-
bernachmittag in der Stube ihres Hofes in
Dien Thinh, einem Dorf in Nordvietnam.
Es ist der Tag vor Allerseelen, auf einer
Kommode brennt eine Kerze, und auf


dem Tisch vor ihr liegt ein Foto von Papst
Franziskus. Hoang Thi Ai ist Erdnuss -
farmerin, Katholikin, 48 Jahre alt. Ihre
Augen schimmern rot und haben dunkle
Ränder. Sie sagt, sie habe seit Tagen
nicht geschlafen. »Ich kann nicht. Ich kann
auch nicht essen. Ich kann nur beten. Es
schmerzt so.«
Im Dorf machen seit Tagen Gerüchte
die Runde. Der Sohn der Erdnussfarmerin

Hoang Thi Ai sei tot, heißt es, gestorben
Tausende Kilometer entfernt, in Grays,
England.
Hoang Thi Ai wiegt ihren Oberkörper
vor und zurück. Sie presst ihr Handy an
die Brust. »Es kann nicht stimmen«, sagt
sie. »Tiep muss am Leben sein.« Hoang
Thi Ai starrt noch einmal auf die Nach-
richt. Sie liest sie laut vor: »Ich bin auf
dem Weg.« Sie weint.

84 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Tiep ist fort


MigrationDer Vietnamese Hoang Van Tiep schafft es mithilfe von Schleppern nach Europa. Seine
Eltern sind stolz. Dann wird in England ein Lkw mit 39 Toten gefunden. Von Max Polonyi

Mutter Hoang: »Wir wollten nicht, dass er geht«
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