Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Grays liegt in der Grafschaft Essex,
40 Ki lometer östlich von London. Rote
Backsteinhäuser, gepflegte Gärten, briti-
sche Kleinstadtidylle.
In der Nacht auf Mittwoch, den 23. Ok-
tober, gegen 1.40 Uhr, fanden Sanitäter
hier in einem Industriegebiet am Stadt-
rand 39 Leichen in dem Kühlcontainer
eines Lastwagens. 31 Männer und 8 Frauen.
Es ist unklar, ob die Opfer in der isolierten
Box erstickt oder ob sie darin erfroren
sind. Im Inneren des Containers herrsch-
ten Temperaturen von bis zu minus
25 Grad. Der Fund ist einer der größten
Massentodesfälle in Großbritannien seit
dem Zweiten Weltkrieg.
Die Ermittler rekonstruierten, dass der
Container per Schiff in der Nacht aus Zee-
brugge in Belgien ins britische Purfleet
transportiert worden war. Dort hatte ihn
der nordirische Lkw-Fahrer Maurice Ro-


binson abgeholt und nach Grays gefahren.
Robinson wurde festgenommen, ebenso
drei weitere Nordiren. Ihnen wird Men-
schenhandel und 39-facher Totschlag vor-
geworfen.
Die Polizei vermutete zunächst, dass
die Insassen chinesische Staatsangehörige
waren, einige führten offenbar gefälschte
chinesische Pässe mit sich. Doch wenige
Tage nach dem Fund meldeten sich Fami-
lien aus Vietnam bei der Polizei. Sie
vermissten ihre Kinder. Ihre Töchter und
Söhne.
Eine Tochter schrieb ihrer Mutter laut
»New York Times« eine Nachricht aus dem
Lastwagen: »Es tut mir leid, Mama und
Papa. Meine Reise ins Ausland war nicht
erfolgreich. Mama, ich liebe dich und Papa
so sehr. Ich sterbe, weil ich nicht atmen
kann. Ich bin aus Nghen, Can Loc, Ha
Tinh, Vietnam.«
Am Donnerstag bestätigten die vietna-
mesischen Behörden schließlich, dass sämt-
liche Opfer aus Vietnam stammten.
Bereits einige Tage zuvor besuchten
vietnamesische Beamte die Familien und
nahmen Fotos der Vermissten mit. Sie ka-
men auch zu Hoang Thi Ai.
Tiep wurde 2001 in Dien Thinh als
jüngstes von den vier Kindern der Hoangs
geboren. Seine Mutter bewirtschaftet ein
kleines Erdnussfeld vor dem Hof, sein Va-
ter ist Fischer.
Er sei ein besonders höflicher Junge ge-
wesen, mit dunklen, fast schwarzen Augen
und pechschwarzem Haar, berichtet die
Familie. Er half auf dem Hof und spielte
gern Fußball mit den anderen Kindern im
Dorf. Er rauchte und trank nicht. »Die
Nachbarn behandelten ihn wie ihren eige-
nen Sohn, so ein guter Junge war er«, sagt
Hoang Thi Ai.
Im Sommer 2017, Tiep war 16 Jahre
alt und ging noch zur Schule, erkrankte
sein Vater an Gicht, die Fischerei wurde
schwierig. »Uns ging es immer schlechter.
Ich verdiente mit den Erdnüssen nicht viel
Geld, und wir wurden arm«, erzählt die
Mutter.
Tiep wandte sich an seine Eltern. Er sag-
te: Ich werde unserer Familie helfen. Ich
werde nach Europa gehen. Ich werde dort
arbeiten und mein Geld zu euch schicken.
So berichtet es seine Mutter. Freunde von
Tiep waren als Jugendliche nach Frank-
reich und Deutschland gezogen. »Sie
schrieben ihm, dass man dort viel Geld
verdienen könne«, sagt die Mutter. »Wir
wollten nicht, dass er geht. Aber er hat
uns überredet.«
Die Hoangs nahmen eine Hypothek auf
den Hof und ihr Land auf. Dafür lieh
ihnen die Bank 400 Millionen Dong, etwa
16 000 Euro. Tiep stand übers Internet
in Kontakt mit einem Mann, seine Freun-
de in Europa hätten ihn empfohlen. »Ein
Mann, der viele Wege kannte«, sagt

die Mutter, »ein Broker«. So nennen
die Hoangs Schleuser. Seinen richtigen
Namen kennt die Mutter nicht. Die
Hoangs verabredeten sich mit dem Broker.
Sie trafen sich im Sommer 2017. Er ver-
sprach, Tiep sicher nach Europa zu brin-
gen. Wie, sagte er nicht. Die Hoangs
gaben ihm die vollständige Summe, die
ihnen die Bank geliehen hatte. Alles, was
sie besaßen.
Einige Wochen später holte der Mann
Tiep vom Hof der Eltern ab. Es war kein
feierlicher Abschied, sagt die Mutter. Die
Großmutter habe geweint und ihn gebeten,
es sich noch einmal zu überlegen. Aber
Tiep stieg zu dem Mann in das Auto. Dann
fuhren sie davon. Es war das letzte Mal,
dass die Hoangs ihren Sohn sahen.
In dem Bezirk Hung Nguyen, wenige
Kilometer vom Dorf der Hoangs entfernt,
steht Pater Tas Phan Van Danh barfuß auf
der Terrasse vor seiner Kirche. Er sagt, vie-
le Vietnamesen glaubten, wenn sie nach
Europa gingen, wären sie dort Gleiche un-
ter Gleichen. Sie glaubten, sie würden ak-
zeptiert. »Aber das stimmt nicht.«
Pater Tas ist das Oberhaupt der katho-
lischen Kirche in Hung Nguyen. Jeden Tag
pilgerten Hunderte Menschen aus den um-
liegenden Dörfern zum Gottesdienst, sagt
er. »Wenn die Menschen Probleme haben,
kommen sie zuerst zu mir, bevor sie zu
den Offiziellen gehen.« In der Sozialisti-
schen Republik, die Religion bestenfalls
akzeptiert, nehmen die Priester eine be-
sondere Rolle ein. Sie sind oft Regierungs-
kritiker, sprechen aus, was andere ver-
schweigen.
Zwei Wege führen nach Europa, heißt
es, die VIP-Route und die Grass-Route.
Die VIP-Route ist ein individueller Service,
bei dem die Broker den Kunden gefälschte
Pässe und Flugtickets ins Wunschland be-
sorgen. Schnell und sicher, aber sehr teuer,
viele Vietnamesen, die wegwollen, können
sich das nicht leisten.
Die Grass-Route hingegen ist vergleichs-
weise günstig, der Preis für eine Tour soll
zwischen 11 000 und 25 000 US-Dollar be-

Fotos: Linh Pham für den SPIEGEL 85


Ausland

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