Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

tragen. Das sagen die Hoangs und weitere
Opferfamilien, mit denen der SPIEGELge-
sprochen hat.
Der Begriff »Grass« bedeutet in Viet-
nam so viel wie »billiger Dreck«. Die
Route führt meist über China nach Russ-
land, von dort nach Osteuropa und bis
Deutschland oder Frankreich. Eine mo-
natelange Tour, Staatsgrenzen werden
zu Fuß überschritten, ansonsten reist
man in Zügen, oft in Güterzügen. Und in
Lkw-Containern. Man erzählt sich, dass
Kühlcontainer besonders sicher seien,
weil die Röntgengeräte der Grenzer die
isolierten Wände nicht durchdringen
könnten.
Nach seiner Abreise aus Dien Thinh
meldete sich Tiep wochenlang nicht
bei seinen Eltern, »wir waren in großer
Sorge um ihn«, erzählt seine Mutter.
Sie hatten ausgemacht, so oft es geht über
die Chat-Plattform Zalo zu kommuni -
zieren.
Schließlich, im Frühjahr 2018, rief
er an. »Ich bin in Paris«, habe er gesagt, so
erinnert sich die Mutter. »Ich
habe es geschafft! Ich arbeite
in einem guten Restaurant.«
Die Menschen seien freund-
lich zu ihm, schwärmte er,
er sei Kellner und Teller -
wäscher und würde schon
bald das erste Geld nach Hau-
se schicken. »Wir waren so
stolz«, sagt seine Mutter.
So verging ein Jahr, ein
glückliches Jahr, in dem Tiep
regelmäßig Geld schickte,
insgesamt rund 8000 Euro.
Die Hoangs konnten die
Hälfte ihrer Schuld bei
der Bank damit begleichen.


»Doch dann wurde es schlimm«, sagt
Hoang Thi Ai.
Französische Zollbeamte erwischten
Tiep bei einer Razzia in einer Restaurant-
küche, sie nahmen ihm die Papiere ab. Das
Restaurant feuerte ihn. »Er war arbeitslos
und konnte kein Geld mehr schicken«,
sagt die Mutter. Tiep schlug sich durch,
fand neue Arbeit, Gelegenheitsjobs als Tel-
lerwäscher, dann wurde er wieder gefeuert.
Er lernte kein Französisch, das musste er
nicht, sagt die Mutter. Die Vietnamesen in
Paris hielten zusammen.
Ab Sommer 2018 sei er immer wieder
bei Zollkontrollen erwischt worden, be-
richtet Hoang Thi Ai. »Er konnte kein
Geld mehr nach Hause schicken.« Mehr
als ein Jahr ging das so, auf und ab. Im
Herbst 2019 rief er seine Mutter an und
sagte: »Ich habe gehört, in England ver-
dient man viel besser als in Frankreich. Ich
will da hin und in einem Nagelstudio ar-
beiten.«
Die nordvietnamesischen Provinzen
Quang Binh, Ha Thinh und Nghe An,
in der das Dorf der Hoangs
liegt, gelten als eine
der ärmsten Regionen des
Landes. Rund 300 Kilo -
meter südlich von Hanoi
ist wenig von der quirligen
Atmosphäre der Hauptstadt
zu spüren. Es gibt hier keine
hippen Bars und Klubs
wie in Hanoi, Touristen
verirren sich nur selten
hierher.
Reisfelder reihen sich an-
einander, Bauern treiben
Wasserbüffel über die Stra-
ßen, Gummi brennt in rußi-
gen Feuern. Das Land ist

fruchtbar, doch Überflutungen und Stürme
ermöglichen den Bauern meist nur eine
Ernte im Jahr. 2016 wurde bekannt, dass
eine taiwanische Stahlfabrik Chemikalien
ins Meer leitete. Eine Katastrophe, viele
Tonnen tote Fische trieben an die Strände.
Das Meer erholt sich langsam, aber seit-
dem ist auch die Fischerei kein gutes Ge-
schäft mehr.
»Wir haben viele Probleme«, sagt Pries-
ter Tas. Die Auswanderer wollten nicht
reich werden. Sie wollten lediglich der Ar-
mut entkommen. Wer Geld aus dem Wes-
ten nach Hause schickt, gilt in Vietnam als
Held.
Für die Familien lohnt sich die Investi -
tion: Im Dorf Do Thanh etwa, nicht weit
von Dien Thinh entfernt, stehen Beton -
villen mit mannshohen goldfarbenen Zäu-
nen und schwarz getönten Fenstern zwi-
schen überfluteten Äckern und Erdnuss-
feldern. Das Geld für die Häuser komme
aus Europa, sagt der Priester. Mindestens
drei der Opfer aus dem Lkw in Grays sol-
len aus Do Thanh stammen.
Die Hoangs freuten sich zunächst, als
Tiep ihnen mitteilte, dass er aus Frankreich
nach England ziehen wolle. »United King-
dom heißt mehr Geld«, sagt seine Mutter.
Sie hatten vereinbart, dass die Eltern ih-
rem Sohn 15 Millionen Dong überweisen,
etwa 600 Euro.
Die Mutter weiß nicht, wofür Tiep das
Geld brauchte, sie vermutet, für den Bro-
ker. »Ich habe nur gehofft, dass er nicht
die Grass-Route nach England nimmt«,
sagt sie. »Ich dachte, bevor er die Grass-
Route nimmt, soll er lieber zurück nach
Vietnam kommen.«
Am 22. Oktober dann die Nachricht:
»Ich bin auf dem Weg.« Hoang Thi Ai ant-
wortete nicht.
Samstag, 2. November, Allerseelen. Am
Morgen sind die Gläubigen in Hung
Nguyen in die Kirche gepilgert, um ihrer
verstorbenen Angehörigen zu gedenken.
Manche trugen weiße Bänder um den
Kopf, als Zeichen des Respekts vor den
Toten. Auch Hoang Thi Ai war bei der
Messe. Sie hat für Tiep gebetet. Jetzt ist
sie wieder zu Hause.
Am Abend zuvor habe eine Offizielle
bei ihr angerufen, erzählt sie. »Es war eine
vietnamesische Frau von unserer Botschaft
in England.« Die Frau habe gesagt, dass
die Botschaft ein Foto von Tiep ausgewer-
tet habe. Die Botschaft vermute, dass Tiep
in dem Lastwagen war.
Hoang Thi Ai ist zur Polizei gefahren,
um den Beamten Haare ihres Sohnes für
einen DNA-Abgleich zu geben. Sie will
weiter daran glauben, dass er lebt, dass er
in England ist, dass er in einem Nagel -
studio arbeitet, dass er bald wieder Geld
nach Hause schickt. Sie hat ihn angerufen,
auf Zalo. Tiep ist nicht rangegangen.

86 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Ausland

Pater Tas beim Gottesdienst in Hung Nguyen: Der Armut entkommen

VIETNAM

Hanoi

CHINA

KAMBOD-
SCHA

THAILAND

LAOS

Dien Thinh
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