Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

W


enn Ariel Flores seine Sonnen -
brille absetzt, blickt man in ein
waches linkes Auge und auf der
anderen Seite in ein verkrustetes Loch.
Am Mittwochmorgen dieser Woche sitzt
Flores in der Augenklinik des Salvador-
Krankenhauses in Santiago de Chile und
wartet darauf, dass er endlich aufgerufen
wird, ein 21-jähriger Student in Jogging-
hose, der noch immer kaum begreift, was
mit ihm geschehen ist.
Wie an den Tagen zuvor, sagt Flores,
war er auch an jenem 29. Oktober mit ein
paar Freunden auf der Plaza Baquedano
in Santiago, um seiner Wut auf eine kor-
rupte Elite Luft zu machen, die sich »einen
Scheißdreck« darum schere, dass sich Leu-
te wie er das Leben kaum noch leisten kön-
nen. Dann flogen Steine, es brach Panik
aus, in Flores’ Augen brannte Tränengas.
Er sei gerannt, erzählt er, ohne genau zu
wissen, wohin, und als er sich umdrehte,
stand drei Meter vor ihm ein Polizist.


Flores blickte in den Lauf der Waffe.
Dann wurde es dunkel. »Als das Projektil
einschlug, habe ich gleich gewusst: Das
war’s«, sagt er.
Flores ist einer von mehr als 150 Chile-
nen, die bei den Protesten schwere Augen-
verletzungen erlitten haben. Tausende an-
dere, die für mehr Demokratie in Chile
demonstrierten, wurden von den Gummi -
geschossen der Sicherheitskräfte getroffen –
an den Beinen, am Bauch. 22 Menschen
starben, etliche werden vermisst. Es ist fast
wie im Bürgerkrieg.
Der Aufstand begann, nachdem die
Regierung Mitte Oktober die Preise für
U-Bahn-Tickets in Santiago erhöhen woll-
te. Seither gehen Hunderttausende Men-
schen auf die Straße. Chiles Präsident
Sebastián Piñera hat zwar inzwischen
angekündigt, Spitzenverdiener höher zu
besteuern. Er hat einen Mindestlohn ein-
geführt und die Grundrente um 20 Pro-
zent angehoben.

Den Bürgern aber reicht das nicht. Es
geht ihnen um Grundsätzlicheres: um eine
Neuverhandlung ihrer Demokratie, eine
moderne Verfassung. Was sie wollen, ist
die Abschaffung eines Systems, das unter
der Herrschaft des Diktators Augusto Pi-
nochet ersonnen wurde – und in ihren
Augen nach dessen Absetzung vor 29 Jah-
ren weitgehend unverändert fortbestand.
»Es ist ein System, das Ungleichheiten
produziert«, sagt Flores, als er am Nach-
mittag in dem engen, dunklen Wohnzim-
mer seiner Mutter im Vorort El Bosque
auf einem Sofa sitzt. Auf seiner Wunde
trägt er jetzt ein dickes Pflaster. Sie haben
sie gereinigt, sagt er. Die Schmerzen wer-
den langsam schwächer, aber er fragt sich,
wie es in Zukunft weitergehen soll.
Flores studiert Businessmanagement.
Ein Jahr fehlt ihm bis zum Abschluss. Sein
Studium finanziert er durch ein Stipen -
dium, das er irgendwann zurückzahlen
muss. Aber er ist sich nicht sicher, ob er
mit seinem Gesicht noch einen gut bezahl-
ten Job bekommt.
An einem Tisch im Raum sitzt seine
Mutter, eine rundliche Frau namens Patri-
cia, die nicht weiß, wohin mit ihren Ge-
fühlen. Eigentlich, sagt sie, unterstütze sie
den Aufstand. Sie hat vier Kinder groß -
gezogen. Seit 26 Jahren arbeitet sie in
der Verwaltung ihres Stadtbezirks an der

88 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Ein Land steht auf


ChileDie Rebellion gegen Präsident Piñera verschärft sich.
Sicherheitskräfte gehen immer brutaler gegen Demonstranten vor.

JEREMIAS GONZALEZ / DER SPIEGEL
Wasserwerfer, Protestierende (teils mit Laserpointern) in Santiago: »Wir stehen an einem Wendepunkt«
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