Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Rezeption. Umgerechnet 450 Euro ver-
dient sie dort im Monat. Wenn sie bald in
Rente geht, sagt sie, bekomme sie nur noch
120 Euro. »In diesem Land herrscht Barba-
rei«, sagt sie. »Die Leute da draußen sind
müde. Sie wollen nur ein bisschen Würde.«
Ariel Flores deutet auf den Kühlschrank
und den Flachbildfernseher. »Wir haben
jetzt ein paar Sachen, die wir früher nicht
hatten«, sagt er, »aber im Grunde hocken
wir im selben Mist.«
Chile war auf dem Kontinent in den ver-
gangenen Jahren wie eine Insel. Während
andere Länder in der Region immer wieder
von Unruhen erschüttert wurden, erlebte
Chile nach dem Ende der Diktatur weitge-
hend friedliche Jahre. In einer stabil wach-
senden Wirtschaft fiel die Armutsrate seit
1990 um fast 30 Prozentpunkte. Als Mus-
terknaben Südamerikas bezeichnete der
»Economist« das Land, das seit den Achtzi-
gerjahren als neoliberales Versuchslabor gilt.
Pinochet, der sich von einer in Chicago
ausgebildeten Ökonomengruppe beraten
ließ, hatte eine Verfassung ausarbeiten las-
sen, die den Staat so klein wie möglich
hält. Fast alles liegt in privater Hand. Wer
für seine Kinder eine gute Bildung will,
schickt sie auf private Schulen. Wer nicht
riskieren will, Ewigkeiten auf eine Opera-
tion in einem öffentlichen Krankenhaus
zu warten, schließt eine private Kranken-
versicherung ab. Die Wasserversorgung
ist privatisiert, die Stromversorgung, die
Autobahnen sind es auch.
Für eine kleine Oberschicht, die ihren
Reichtum in den Wachstumsjahren verviel-
facht hat, gibt es keinen Grund, an diesem
Modell etwas zu ändern. Der große Rest
aber kämpft ums Überleben.
Mehr als die Hälfte aller Chilenen ver-
dient, wie Ariel Flores’ Mutter, weniger
als 500 Euro im Monat. Rentner bekom-
men im Schnitt 275 Euro von ihren priva-
ten Versicherungen ausbezahlt. Das ist ein
Problem, weil Lebensmittel, Strom oder
Telefon gebühren oft kaum billiger sind als
in Europa. In einem Land, in dem viele
ärmere Familien bis zu ein Drittel ihres
Lohns allein für den Transport zur Arbeit
aufwenden, ist eine Fahrpreiserhöhung
um drei Cent keine Bagatelle.
Auf zahllose U-Bahn-Stationen und öf-
fentliche Gebäude in Santiago haben die
Demonstranten in den vergangenen Tagen
den Satz »Chile ist aufgewacht« gesprüht.
»Die Menschen verstehen langsam, wie die
Dinge zusammenhängen«, sagt Mónica
González, die als Journalistin Dutzende
Skandale aufgedeckt hat. Begonnen, glaubt
sie, habe dieser Prozess des Aufwachens
2011, als herauskam, welche obszönen Ge-
winne die privaten Universitäten machten.
Zehntausende Studenten gingen damals
auf die Straße. Dann enttarnten die Medien
Rentenfonds, die gewaltige Summen in Steu-
erparadiese schleusten, oder berichteten


über Absprachen, die Pharmaunternehmer
oder Toilettenpapierfabrikanten trafen, um
die Preise hochzuhalten. Staatsanwälte er-
öffneten zahllose Korruptionsverfahren ge-
gen Politiker, aber nur wenige wurden für
ihre Vergehen zur Rechenschaft gezogen.
»Heute wissen die Chilenen, dass ihr
Land von einer abgehobenen Kaste regiert
wird, für die andere Gesetze gelten«, sagt
González. Für viele Chilenen hatte es et-
was Symbolisches, dass ihr Präsident, der
durch den Verkauf von Kreditkarten zum
Mil liardär geworden ist, beim Ausbruch
der Proteste gerade bei einem teuren Ita-
liener feierte. Piñeras Wirtschaftsminister
erklärte, dass die Leute doch vor sieben
Uhr zur Arbeit fahren sollten, dann zahl-
ten sie den günstigen Tarif.

»Was sie uns jetzt anbieten, ist Machia-
velli pur«, sagt González. »Sie ändern et-
was, um nichts zu ändern.«
Das ist der Punkt, an dem Chile inzwi-
schen angekommen ist. Anders als in Ecua-
dor, wo die Regierung den Aufruhr der
vergangenen Wochen beruhigen konnte,
indem sie die Benzinpreise nun wieder
subventioniert, geht es den Chilenen nicht
um eine Handvoll Dollar mehr. Sie fordern
einen Staat, der Verantwortung für seine
Bürger übernimmt und den Wohlstand ge-
recht verteilt. Der die Grundrechte auf Bil-
dung und Gesundheit nicht nur anerkennt,
sondern für die Erfüllung dieser Rechte
bürgt. Sie wollen eine Verfassung, die das
Leben mehr wertschätzt als das Eigentum.
»Wir stehen an einem Wendepunkt, der
unsere Geschichte in ein Davor und ein
Danach teilt«, sagt die junge Menschen-
rechtsanwältin Paz Becerra. Auch Becerra
arbeitet in diesen Tagen daran, ihrem Land
den Geist der Diktatur auszutreiben. Seit

Ausbruch der Proteste klappert sie jeden
Morgen die Notaufnahmen der Kranken-
häuser ab und nimmt die Fälle der Verletz-
ten auf. Sie hat Männer gesprochen, in de-
ren Körper bis zu 14 Projektile steckten.
Einen Medizinstudenten, dem man in den
Rücken schoss, als er Erste Hilfe leistete.
Jugendliche berichteten ihr davon, nach
ihrer Festnahme gefoltert und vergewaltigt
worden zu sein.
Mehrere Hundert dieser Fälle hat Be-
cerra gemeinsam mit ihren Kollegen mitt-
lerweile angezeigt. Sie will erreichen, dass
die Verwundeten eine Entschädigung er-
halten. Vor allem aber geht es ihr darum,
dass die Repression des Staates von einem
Gericht als Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit anerkannt wird.

»Was wir erleben, sind keine zufälligen
Gewaltexzesse einzelner, überforderter
Polizisten«, sagt Becerra. »Sie folgen einer
brutalen Einschüchterungslogik, mit der
der Staat schon während der Diktatur das
Volk diszipliniert hat.«
Nicht nur sie fühlte sich an die Ver -
gangenheit erinnert, als während der
mehrtägigen Ausgangssperre erstmals seit
30 Jahren wieder Panzer durch die Stra-
ßen rollten. Die jungen Leute aber, sagt
sie, fürchteten sich nicht. Sie haben nichts
zu verlieren. »Die Zeiten, in denen Täter
straffrei davonkamen und Bürger bloß
Konsumenten waren, sind vorbei«, sagt
Becerra.
Während sie in einem Café gegenüber
dem Salvador-Krankenhaus sitzt, leuchtet
eine Nachricht auf dem Display ihres
Handys auf: 50 Verwundete in die Notauf-
nahme eingeliefert. Marian Blasberg
Mail: [email protected]

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Ausland

JEREMIAS GONZALEZ / DER SPIEGEL
Verletzter Student Flores: »Ich wusste, das war’s«
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