Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

A


n einem sonnigen September -
morgen steht Ingrid Levavasseur,
32, ungeduldig am Pariser Bahn-
hof Saint-Lazare und wartet seit
15 Minuten auf ein vorbestelltes Taxi. Sie
ist früh aufgestanden; ihre beiden Kinder, 9
und 13 Jahre alt, schliefen noch, als sie sich
in ihrem kleinen Heimatort in der Norman-
die auf den Weg in die Hauptstadt machte.
Wenige Tage zuvor ist Levavasseurs
Buch herausgekommen, in dem sie be-
schreibt, wie aus ihr, die die Schule nur be-
suchte, bis sie 14 Jahre alt war, eine Prota-
gonistin der Gelbwestenbewegung wurde.
Bei Amazon stand ihre Autobiografie in der
Rubrik Politik innerhalb kurzer Zeit auf den
vorderen Plätzen. Sie gibt fast täglich Inter-
views, der Tag in Paris ist durchgetaktet,
aber nun kommt das Taxi nicht. »Ich kann
nicht länger warten«, sagt Levavasseur. Sie
ruft ihren Pressesprecher an. Gemeinsam
entscheiden sie, ein Treffen mit der Staats-
sekretärin im Familienministerium um
9.30 Uhr abzusagen, um pünktlich beim
Fernsehsender LCI sein zu können.
Vor einem Jahr hatte Ingrid Levavas -
seur noch nie in ihrem Leben ein Taxi ge-
nommen. Sie war eine unbekannte Kran-
kenpflegerin, die für eine Zwölf-Stunden-
Schicht im Krankenhaus nach Abzug aller
Steuern 97 Euro bekam und sich fragte,
wie lange das so weitergehen sollte. Jetzt
hat sie einen renommierten Verlag, einen
Pressesprecher, wichtige Termine.
Vor einem Jahr ahnte auch noch nie-
mand, dass Menschen in gelben Westen
Frankreich monatelang mit landesweiten
Protesten überziehen würden. Dass sie die
Regierung herausfordern würden wie
kaum eine soziale Bewegung vor ihnen.
Am 17. November 2018 zogen die Gelb-
westen zum ersten Mal über die Champs-
Élysées; fast 300 000 Franzosen protes-
tierten an diesem Tag landesweit.
Die Wut kam aus der Provinz – aus ent-
legenen Dörfern und kleinen Orten, aus
mittelgroßen Städten. Der Anlass war die
Ankündigung einer Benzinpreiserhöhung
durch die Regierung, tatsächlich ging es
um viel mehr. Die Wut richtete sich gegen
Paris und seine Eliten. »Es war ein Auf-
stand der Unsichtbaren«, sagt Levavasseur,
»all jener Menschen, die wie meine Mutter
seit Jahrzehnten jeden Tag zur Arbeit ge-
hen, aber so wenig verdienen, dass sie am
Ende des Monats in einen leeren Kühl-
schrank schauen.«


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Ausland

Die Kämpferin


FrankreichDie Gelbwestenbewegung wird ein Jahr alt. Eine ihrer prominenten Figuren war die


Pflegerin Ingrid Levavasseur. Nun versucht sie allein ihren Weg in die Politik. Von Britta Sandberg


JULIEN DANIEL / DER SPIEGEL
Autorin Levavasseur: »Es war ein Aufstand der Unsichtbaren«
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