Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Nach den ersten Tagen der Proteste
schwollen die Demonstrationen immer
mehr an, im ganzen Land. Die Gelbwesten -
bewegung brachte die Regierung in Be-
drängnis. Die Geschichte der Proteste ist
auch eine Geschichte des Scheiterns. Heu-
te ist von den Gelbwesten kaum etwas
übrig: Nur ein paar Hundert Menschen de-
monstrierten an den vergangenen Wochen-
enden in den Städten des Landes.
Levavasseur ist noch immer da.
Sie ist jetzt vor dem großen Glasgebäu-
de an der Seine angekommen, in dem der
TV-Sender LCI seine Studios hat. Den ver-
schlungenen Weg zur Maske findet sie
selbst, sie war im vergangenen Jahr oft
hier. Die Moderatorin fragt sie im Studio,
wie sie die Lage einschätzt. »Die Wut ist
noch da, die Leute leben ja in derselben
Situation wie zuvor«, sagt sie, es habe sich
nicht viel geändert. »Es braucht nicht viel,
damit es wieder losgeht.«
Ob sie sich nach diesem Jahr nicht als
Gewinnerin sehe, wirft eine andere Mo-
deratorin ein, nach ihren TV-Auftritten
und dem Buch? Sie sei doch so etwas wie
der Star eines neuen sozialen Reality-Fern-
sehens? »Ich mag dieses Wort nicht: sozia-
les Reality-Fernsehen«, sagt Levavasseur
und schaut die Fragestellerin an. »Es klingt
für mich fast verächtlich.« Ihr Leben sei
keine Show, sondern Wirklichkeit – »auch
wenn man den Eindruck haben kann, dass
viele hier diese Wirklichkeit erst sehr spät
entdecken«. Kawumm.
Später, im Taxi zurück, regt sie sich im-
mer noch über die Frage auf. Ihr Presse-
sprecher ruft an, gratuliert zur gelungenen
Replik. Auf ihrem zerkratzten Handy
schaut sie sich die Reaktionen in den so-
zialen Medien an. Überwiegend positiv
an diesem Tag, das ist nicht immer so.
»Machen Sie bitte weiter, Ingrid«, sagt
der Taxifahrer beim Aussteigen zu ihr. Sie
hat sich ihm nicht vorgestellt, wie viele
Leute nennt er sie einfach beim Vornamen.
Wildfremde grüßen sie auf der Straße und
vertrauen ihr ihre Sorgen an. Über hun-
dert Fernsehauftritte hat sie seit November
2018 absolviert. Sie ist als Teil der Gelb-
westenbewegung zur Stimme jener gewor-
den, die so lange ungehört blieben.
Für Journalisten und Politiker ist sie der
sanfte Zugang zu einer Welt, in der die meis-
ten Leute anders reden als Levavasseur.
Lauter, wütender, weniger differenziert. Es
ist für alle einfacher, Ingrid Levavasseur
in den Pariser TV-Studios zu ertragen als
den zornigen Leuten an den Kreisverkeh-
ren dieser Republik zuzuhören. Auch das
erklärt ihre permanente Medienpräsenz.
Die Kindheit, die Levavasseur in ihrem
Buch beschreibt, erinnert in vielem an den
Romanhelden des jungen französischen
Schriftstellers Edouard Louis, der mit sei-
nen autobiografischen Schilderungen aus
dem Prekariat berühmt geworden ist. Sei-


ne Figur Eddy Bellegueule ist hochintelli-
gent, wächst in der Picardie in ärmsten
Verhältnissen auf, irgendwann gelingt ihm
die Flucht.
Ingrid Levavasseur lebt noch immer
dort, wo sie herkommt. Der Ort, in dem
sie als Kind mit ihrer Mutter beim Roten
Kreuz um Lebensmittel anstand und große
Angst hatte, dass Schulkameraden sie dort
sehen könnten, ist nicht weit weg. Ebenso
wenig die Wohnung, in der ihr Stiefvater
sie misshandelte, und das Haus, in dem
ihr Mann sie schlug.
Mit 18 bekam sie ihr erstes Kind, vier
Jahre später kam das zweite. Später trenn-
te sie sich vom Vater und ernährte ihre Fa-
milie allein, weil ihr Mann kaum Unterhalt
zahlte. Ihre Mutter, einst Fabrikarbeiterin,
unterstützte sie. Die Turnschuhe für den
Sportunterricht ihres Sohnes konnte sie
sich trotzdem nicht immer leisten.

Einen Monat vor der ersten großen De-
monstration schreibt Ingrid Levavasseur
auf Instagram einen Kommentar an Präsi-
dent Emmanuel Macron und nimmt darin
viele Fragen vorweg, die die Gelbwesten-
bewegung später stellen sollte: Ob es nor-
mal sei, dass sie 900 Kilometer pro Monat
fahre, um zur Arbeit zu kommen, und nur
1300 Euro verdiene, von denen sie Kin-
derbetreuung, Benzin, Arbeitslosenversi-
cherung und 700 Euro Miete zahle.
Am 17. November des vergangenen Jah-
res geht sie zum ersten Mal in ihrem Leben
demonstrieren: Sie zieht sich eine gelbe
Schutzweste an, setzt eine Wollmütze auf
und fährt an eine Autobahnzahlstelle an
der A 13 bei ihr in der Nähe. Auf Facebook
hatte sie den Aufruf der »Gilets Jaunes«
gesehen. Als Levavasseur an der Mautstel-
le aussteigt, trifft sie überrascht auf ehe-

malige Kollegen, auf Nachbarn und einsti-
ge Klassenkameraden. »Ich dachte immer,
ich bin die Einzige, der es so geht. Die
Scham war auf einmal weg.« Die Demons-
tranten, die dem Aufruf zu diesem ersten
nationalen Aktionstag der »Gilets Jaunes«
folgen, gehören der unteren Mittelschicht
an oder sind Arbeiter. Kaum einer von ih-
nen war bisher politisch aktiv.
Wahrscheinlich hätte nie jemand von
Levavasseur erfahren, wenn dem Journa-
listen Maxime Darquier nicht ausgerech-
net an der Mautstelle, an der sie nun re-
gelmäßig demonstrierte, der Reifen ge-
platzt wäre. Eigentlich wollte Darquier,
der für den Fernsehsender France 5 arbei-
tet, weiter gen Norden, um eine Gruppe
Gelbwesten zu porträtieren. Doch nun
fällt ihm diese Frau mit den roten Haaren
auf. Er fragt sie, warum sie hier ist. Leva-
vasseurs Antwort ist acht Minuten lang.

»Das Erstaunliche war, dass man diese
Antwort in einem hätte senden können«,
sagt Darquier, »sie hat schon bei ihrem aller -
ersten Interview so geredet wie heute.«
Einen Tag später lädt er sie zu einer Diskus -
sionsrunde auf France 5 ein.
Levavasseur fährt hin und erzählt aus
ihrem Leben. Es ist der Moment, der alles
verändern wird. Danach steht ihr Telefon
nicht mehr still, auf Facebook hat sie nach
der Sendung 3000 Freundschaftsanfragen.
Auf Demonstrationen wird sie von allen
erkannt; France 2 will eine Dokumenta -
tion über sie drehen. Die Linken von der
Partei »La France insoumise« versuchen,
sie für sich zu gewinnen. Die französische
Ministerin für Gleichstellung ruft an, weil
sie Levavasseur gern treffen würde.
Sie sagt den Linken ab, aber der Minis-
terin und dem Fernsehen zu. »Ich wollte

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 93


FRANCOIS MORI / DPA
Aktivistin Levavasseur im Januar in der Normandie: »Wir haben unsere Chance vertan«
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