Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

nicht die ewige Oppositionelle sein«, sagt
sie heute. »Für mich saßen auf der anderen
Seite keine Feinde. Die Regierenden haben
uns verachtet, sie waren nicht da für uns,
aber man kann und sollte mit ihnen reden.«
Der Großteil der Bewegung aber, über
die inzwischen ganz Frankreich redet und
aus der neben Ingrid Levavasseur auch an-
dere Protagonisten hervorgehen, sieht das
anders. Der Dialog mit den Medien, mit
dem politischen Establishment in Paris,
kommt für sie einem Verrat gleich. Sie wol-
len keine offiziellen Sprecher. Die Gelb-
westen werfen Levavasseur vor, die Seiten
gewechselt zu haben. Sie wird massiv an-
gefeindet, vor allem im Netz.
Jérôme Rodrigues ist eine andere be-
kannte Figur der Bewegung, spätestens seit
er am 26. Januar bei einer Demonstration
in Paris durch Polizeigewalt ein Auge ver-
loren hat. Er gilt als eher moderat, doch er


sagt: »Ingrid hat sich damals irgendwie ver-
laufen, sie ist vom Weg abgekommen.« Er
kann den Hass auf Levavasseur nicht nach-
vollziehen, die Kritik aber schon: »Sie hat
sich nicht der Logik der Bewegung gebeugt.
Seit 50 Jahren gibt es diese Politik der Per-
sonalisierung. Das ist genau das, was wir
nicht wollten. Sie ist sehr willig auf die
Lockrufe der Medien eingegangen.«
Ende Dezember ist Levavasseur in das
mondäne Pariser Stadthaus des französi-
schen Unternehmers und Millionärs Ber-
nard Tapie eingeladen. Sie schreibt in ih-
rem Buch, dass sie nicht darüber hinweg-
kommt, dass Tapie in allen Räumen die
Lampen brennen lässt. »Wo ich zu Hause
doch so auf meinen Verbrauch achte.«
Eine Zeit lang überlegt sie, für die Eu-
ropawahlen zu kandidieren, aber der Hass
auf sie wird immer größer. Sie erhält Dro-


hungen und wird im Internet übel be-
schimpft: »Dreckige Hure« steht da.
Am 10. Dezember reagiert Emmanuel
Macron und kündigt Maßnahmen in Höhe
von acht bis zehn Milliarden Euro an, da-
runter eine Anhebung des Mindestlohns.
Die Proteste gehen trotzdem weiter und
werden immer gewalttätiger. Die extreme
Rechte wie die extreme Linke versuchen,
die Bewegung zu kapern. Mitglieder des
schwarzen Blocks mischen sich unter die
Demonstranten. Die Sympathiewerte der
Franzosen für die Bewegung liegen trotz-
dem bis Ende des Jahres bei um die 70 Pro-
zent. Vielleicht weil sich viele in den For-
derungen wiedererkennen?
»Heute denke ich, dass wir so viel hätten
bewirken können. Wir hätten uns organi-
sieren und zu einer gemeinsamen Linie
finden müssen«, sagt Levavasseur. »Die
Unterstützung, die wir aus der Bevölke-

rung erfuhren, war unglaublich. Wir hät-
ten Großes erreichen können. Aber wir
haben unsere Chance vertan, es wird nie
wieder so wie damals.«
Am 17. Februar wird Levavasseur auf
einer Gelbwestendemonstration auf den
Champs-Élysées massiv von Anhängern
ihrer eigenen Bewegung bedroht und
physisch angegriffen. Sie kann nur ent -
kommen, weil eine CRS-Polizeieinheit sie
rettet. Am nächsten Tag kesseln »Gilets
Jaunes« sie nahe ihrem Heimatort ein. Am
Abend verspricht sie ihrem Sohn, keine
Gelbweste mehr zu sein; auf Facebook
teilt sie mit, dass sie die Bewegung verlässt.
Seither schaut Ingrid Levavasseur sich
die Dinge aus der Distanz an: das bren-
nende Bankgebäude auf den Champs-Ély-
sées am 16. März, das Abflauen der Pro-
teste. Sie kandidiert für die Kommunal-

wahlen im kommenden Frühjahr, auf einer
unabhängigen, demokratisch-grünen Liste
in der Normandie. Außerdem hat sie einen
Verein gegründet, mit dem sie alleinerzie-
hende Mütter und Väter unterstützen will.
Sie hat darüber neulich mit der zuständi-
gen Staatssekretärin gesprochen.
Es sieht zum ersten Mal so aus, als ob
sie durch ihre Bekanntheit der Welt entrin-
nen kann, in der sie so lange gefangen war.
Im April hat sie noch mal einige Tage im
Krankenhaus gearbeitet, an ihrem ehema-
ligen Arbeitsplatz, den sie im Januar gekün-
digt hatte. Sie wusste nicht, ob sie das noch
kann: nackte, alte Menschen waschen. Sie
konnte. Aber sie will es nicht mehr.
Am Abend vor dem Termin im Minis-
terium hat sie erfahren, dass ihre Autobio-
grafie als »Politisches Buch des Jahres«
vorgeschlagen wurde. Ehemalige Premier-
minister haben diesen Preis schon be -
kommen. Levavasseur ist euphorisch. Am
selben Tag hat sie noch einen Vorstellungs-
termin in Paris. Sie würde gern in der Kom-
munikationsabteilung einer NGO oder
eines Unternehmens arbeiten.
Doch sechs Wochen später, Ende Okto-
ber, wirkt Ingrid Levavasseur zum ersten
Mal abgekämpft und müde. Sie ist umge-
zogen nach Louviers, in den Ort, in dem
sie kandidiert. Ihr winziges Häuschen liegt
im Schatten einer großen Siedlung von
Sozialwohnungen, in der bis vor Kurzem
mit Drogen gehandelt wurde. Noch ist der
Gasherd nicht angeschlossen. Falls es im
März klappen sollte, könnte sie hier Vize-
bürgermeisterin werden. Sie würde dann
600 Euro pro Monat bekommen.
Am Wochenende ist sie zum ersten
Mal in einem Von-Tür-zu-Tür-Wahlkampf
durch die Nachbarschaft gezogen. Am
Abend näht sie jetzt kleine Gemüsebeutel,
die ihre Liste im Wahlkampf verteilt, da-
mit die Leute weniger Plastik verwenden.
Aus den Bewerbungen ist nichts gewor-
den. Sie hatte einzelne Vorstellungsgesprä-
che, die freundlich verliefen, aber ergeb-
nislos blieben. Sie will nicht die ewige
Gelbwestenerklärerin bleiben. Sie weiß,
jetzt müsste eigentlich der nächste Schritt
kommen. Aber welcher könnte das sein?
Noch ist sie optimistisch, aber sie hat
Angst, dass ihre Herkunft ihr erneut Gren-
zen auferlegt. Was soll sie schicken, wenn
nach Abschlüssen gefragt wird – das Zeug-
nis aus ihrer Zeit bei der freiwilligen Feu-
erwehr? In Frankreich ist es noch wichtiger
als in anderen Ländern, die richtigen Di-
plome vorweisen zu können.
Sie hat sich sogar wieder als Kranken-
pflegerin beworben. Auch da kommen nur
Absagen. »Ich glaube, es liegt an meinem
Namen«, sagt sie. Sie hat schon überlegt,
ob sie auf dem Lebenslauf wieder den Na-
men ihres Mannes eintragen soll. Aber sie
bringt es nicht über sich.

94 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Ausland

JULIEN DANIEL / DER SPIEGEL

Talkshowgast Levavasseur (2. v. l.): »Viele hier entdecken die Wirklichkeit zu spät«

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