Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

D


as Erste, was den Besucher über-
rascht, ist, wie ruhig es ist. Man
sieht Menschen auf den Straßen,
aber Geschäfte und Büros sind
geschlossen. Schulen haben zwar offiziell
geöffnet, doch die Klassenräume sind leer,
weil viele Jungen und Mädchen aus Angst
zu Hause bleiben.
Auf ein Rollgitter hat jemand den Slo-
gan »We exist to resist« gesprüht: Wir le-
ben, um uns zu widersetzen.
Die indische Regierung betont, die Situ -
ation in Kaschmir sei auf dem Weg zur
Normalität. Oder was eben als normal gel-
ten kann in einer Region, wo Sandsäcke
und Stacheldraht den Weg versperren, wo
Soldaten die Passanten aus Bunkerschlit-
zen beobachten, wo vergangenes Jahr mehr


als 400 Menschen durch Terror und staat-
liche Gewalt starben.
Es ist jetzt drei Monate her, dass Indien
seinem Teil von Kaschmir den Sonder -
status entzogen hat. Vorige Woche teilte
die indische Regierung von Premier Naren -
dra Modi den einst halb autonomen Bun-
desstaat in zwei Unionsterritorien auf, die
künftig von Neu-Delhi regiert werden.
Hunderte Politiker wurden festgenom-
men. Indien hat ihnen die Freiheit ange-
boten, allerdings nur, wenn sie im Gegen-
zug versichern, ein Jahr lang zur Abschaf-
fung der Autonomierechte zu schweigen.
Ausländern und indischen Oppositionel-
len wird der Zutritt zu Kaschmir verwei-
gert. Die ersten Ausländer, die in jüngerer
Zeit in die Region reisen durften, waren

vorige Woche 23 EU-Abgeordnete, von
denen die meisten rechten Parteien ange-
hörten, darunter Abgeordnete der AfD.
Der Kaschmirkonflikt erregt weniger
Aufmerksamkeit in Europa als die Proteste
in Hongkong, dabei ist er wesentlich ge-
fährlicher. Denn neben Indien beanspru-
chen auch Pakistan und China einen Teil
der Region, drei Atommächte, die aus ver-
schiedenen Richtungen an Kaschmir zer-
ren. Pakistan warnte vor Konsequenzen.
Der indische Verteidigungsminister sagte,
die Selbstverpflichtung, Nuklearwaffen
nicht zum Angriff zu nutzen, könne in Zu-
kunft vielleicht überdacht werden.
Wer kaum zu Wort kommt, sind die Be-
wohner von Jammu und Kaschmir. Nach
einem wochenlangen, von Neu-Delhi an-

96 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Ausland

TAUSEEF MUSTAFA / AFP
Einwohnerinnen, indische Sicherheitskräfte in Srinagar: »Der schwierigste Ort von allen«

Totenstille


IndienSeit drei Monaten ist das Kaschmirtal größtenteils von der Außenwelt abgeschnitten.
Bewohner berichten von staatlicher Gewalt und Terror.
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