Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
geordneten Blackout funktionieren Fest-
netztelefone und Handys wieder. Aber
man kann nicht mit den Leuten chatten,
ihnen keine Bilder oder Videos schicken.
Das Internet bleibt abgeschaltet.
Eine Mitarbeiterin des SPIEGELhat
mehr als ein Dutzend Menschen in Kasch-
mir getroffen. Was sie berichten, ist er-
schreckend, manchmal widersprüchlich.
Manche fürchten den indischen Staat, an-
dere erhoffen sich Schutz. Was sie eint, ist
die Angst vor dem, was nun kommen mag.
Einer von ihnen sagt: »Wir erleben die
Ruhe vor dem Sturm.«

»Ich friere, selbst wenn
die Sonne scheint«
Im Süden Kaschmirs liegt ein Dorf mit zer-
brochenen Fensterscheiben. Bewohner er-
zählen, Soldaten würden nachts Steine
durchs Fenster schmeißen. Nach Sonnen-
untergang würden die Bewohner aus
Angst das Licht löschen und sich im Dun-
keln in ihren Häusern verbarrikadieren.
Fast niemand im Ort ist bereit, offen
mit Journalisten sprechen. Es herrscht eine
Art Paranoia: ob der Fremde wirklich der
ist, der er vorgibt zu sein – und kein
Spitzel?
Auch die Frau, die schließlich in ihr
Haus bittet, will ihren echten Namen nicht
preisgeben. Sie ist 44 Jahre alt, ein Schleier
bedeckt ihr Haar, man soll sie Sakina nen-
nen. Sie fängt mehrmals an zu weinen, als
sie von ihrem Sohn erzählt. Ein Foto zeigt
einen jungen Mann von 20 Jahren mit lan-
gen schwarzen Haaren und Bart.

»Es war in der Nacht zum 8. August. Von
draußen drang Lärm herein, aber wir hat-
ten zu viel Angst nachzusehen, was los war.
Stattdessen legten wir uns schlafen, meine
Tochter und ich in der Küche, mein Vater
und mein Sohn in einem Zimmer an der
Vorderseite des Hauses. Es muss morgens
gegen drei gewesen sein, als fünf oder zehn
Soldaten an unsere Tür hämmerten.
Sie stürmten ins Zimmer meines Sohnes
und rissen ihn aus dem Bett. Wir wollten
wissen, was er getan habe und wo sie ihn
hinbrächten. Aber wir erhielten keine Ant-
wort. Die Soldaten schlossen uns ein und
feuerten zwei Schüsse ab. Ein Schuss traf
den Boden, hier gleich bei der Tür, ich kann
Ihnen die Stelle zeigen. Seitdem mein Sohn
fort ist, fühle ich mich wie betäubt. Ich friere
und zittere, selbst wenn die Sonne scheint.
Die Armee ist in mein Haus ein gedrungen
und hat mein Kind mitge nommen.«


Sakinas Sohn war nicht der Einzige, den
die Soldaten festnahmen. In den Tagen
vor und nach dem Entzug der Autonomie
ließ die Armee Männer inhaftieren, die sie
für Unruhestifter hält. Laut Berichten han-
delt es sich um mehr als 4000 Männer.
Weil die Gefängnisse vor Ort voll sind,

wurden manche ausgeflogen. Sakinas
Sohn sitzt in Agra ein, einer rund 700 Ki-
lometer entfernten Stadt in Nordindien.
Zwei Gesetze räumen den Sicherheits-
kräften weitgehend freie Hand ein. Unter
dem »Public Safety Act« können Personen
in Kaschmir zwei Jahre lang ohne Gerichts-
verfahren festgehalten werden. Der »Ar-
med Forces (Special Powers) Act« verleiht
den Truppen faktisch Immunität. Es gab
immer wieder schwere Vorwürfe gegen die
Armee. Die Anschuldigungen reichen von
Vergewaltigung und Folter bis hin zu Tö-
tungen. Aber laut der Menschenrechtsor-
ganisation Amnesty International musste
sich kein einziges Mitglied der Sicherheits-
kräfte vor einem Zivilgericht verantworten.

»Dann schießt du irgendwann«
In der 90 Feet Road, einer gehobenen
Wohnlage in Srinagar, Kaschmirs Sommer-
hauptstadt, steht ein Mann in Kampf -
montur. Er trägt eine schusssichere Weste,
eine AK-47, einen Schlagstock und einen
Schild. Er gehört zur CRPF: der Central
Reserve Police Force, einer paramilitäri-
schen Einheit, die dem Innenministerium
in Delhi untersteht. Mehr als eine halbe
Million Sicherheitskräfte sollen derzeit in
Kaschmir stationiert sein, die Region zählt
zu den am stärksten militarisierten Gegen-
den der Welt.
Kaschmirer sagen, sie würden lieber am
Straßenrand durch den Verkehr laufen,
als sich auf dem Bürgersteig an den Trup-
pen vorbeizudrücken. Der CRPF-Mann
stammt aus der Nähe von Delhi. Jedes
Mal, wenn ein Passant vorbeigeht, span-
nen sich seine Schultern.

»Als ich hörte, dass der Region die Autono-
mie entzogen werden soll, überkam mich
eine dunkle Vorahnung. Ich habe Kasch-

mirs schlimmste Zeiten miterlebt. Ich bin
überrascht, wie friedlich es derzeit ist.
Kaschmir gehört zu den schwierigsten Or-
ten von allen. Binnen Sekunden kann sich
eine Menschenmenge zusammenrotten,
und bevor du weißt, was passiert, rennen
250 Menschen auf dich zu. Wir können den
Menschen hier nicht trauen. Selbst die
Alten und die Jungen neigen zur Radi -
kalisierung.
Wir geben unser Bestes, niemanden zu
verletzen. Wir setzen Schrot nur als letztes
Mittel ein und sind darauf trainiert, auf
den Bereich unterhalb der Knie zu zielen.
Aber wenn dich ein wütender Mob umzin-
gelt, dann schießt du irgendwann.
Selbst diese zwei Jungs hier auf ihrem
Moped können eine Gefahr darstellen.
Sie könnten Steine werfen oder eine Gra-
nate. Wie soll man da nicht wütend wer-
den oder Vergeltung üben wollen? Wir
machen unsere Arbeit, und die werfen
Steine auf uns. Wir stehen immer zu zweit
beieinander, um uns gegenseitig zu be-
schützen, aber nie in Gruppen, damit wir
keine Ziele abgeben.«

Kaschmir gehört zu den großen ungelös-
ten Konflikten der Gegenwart, ein kom-
plizierter Streit. Es fängt damit an, dass
der ehemalige Bundesstaat genau genom-
men in drei Teile zerfällt: in das mehrheit-
lich hinduistische Jammu mit sechs Mil -
lionen Bewohnern sowie die buddhis tisch
geprägte Bergregion Ladakh mit rund
300 000 Menschen. Aber wenn von
Kaschmir die Rede ist, dann ist meist – wie
auch in diesem Text – das Kaschmirtal ge-
meint, das Epizentrum des Konflikts, wo
mit acht Millionen Menschen die muslimi-
sche Mehrheit lebt.
Hier begann 1989 der Kaschmir-Auf-
stand. Die Demonstranten forderten die
Unabhängigkeit von Indien, andere den
Anschluss an Pakistan. Die Sicherheits -
kräfte schossen mit Tränengas, auch mit
scharfer Munition. Je härter Indien vor-
ging, desto mehr Zulauf erhielten militante
Gruppen, auch dank Unterstützung aus
Pakistan, das ebenfalls einen Teil kon -
trolliert und Anspruch auf das gesamte
Gebiet erhebt. Der pakistanische Geheim-
dienst bildete Kämpfer aus und gab ihnen
Waffen. Insgesamt starben mehr als
40 000 Menschen.
Ältere Kaschmirer erzählen, sie seien
damals überzeugt gewesen, dass ihre Pro-
teste etwas bewegen würden. 30 Jahre spä-
ter ist von dieser Hoffnung wenig übrig.
Stattdessen wurde der Aufstand immer
brutaler und auch extremistischer. Islamis-
ten vertrieben die hinduistische Minder-
heit im Tal: Von einst Hunderttausenden
Hindus leben heute noch rund 3000 dort.
Ein Extremist erklärte vor drei Jahren
per Video, er kämpfe für ein Kalifat. Sein
Tod löste Massenproteste mit vielen Toten

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KUMAR SUNAINA / DER SPIEGEL
Mutter Sakina
»Ein Schuss traf den Boden«
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