Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
98

Ausland

KUMAR SUNAINA / DER SPIEGEL (2)

CHINA

PAKISTAN

INDIEN
200 km

Islamabad

Neu-Delhi

zwischen Indien, Pakistan
und China umstrittene
Region Kaschmir

Srinagar

Kaschmirtal

aus – auch angeheizt durch soziale Me-
dien. Die indische Regierung argumentiert:
Wenn wir nicht hart durchgreifen, sterben
erneut Menschen.

»Indien ist ein gutes Land«
Der Großmarkt in Drabgam liegt wie aus-
gestorben da. Nur ein Armeefahrzeug
parkt in der Nähe. Der Landwirt Tanveer
Ahmed Dar sitzt im Schatten eines Bau-
mes. Ein paar Erntehelfer pflücken Äpfel.
Doch das meiste Obst verrottet im Gras.
Erst sei nur sein Einkommen in Gefahr ge-
wesen, sagt Dar, jetzt auch sein Leben.

»Wir arbeiten gegen die Zeit. Jeden Tag ver-
liere ich 20 Kisten Äpfel, das sind 20 000
Rupien (gut 250 Euro). Wir sind nicht ein-
mal in der Lage, die Äpfel ordentlich zu
verpacken. Sobald die Sonne untergeht,
eilen wir nach Hause, weil es hier draußen
nicht sicher ist. Es gibt Gerüchte, dass Mili-
tante Vorratslager zerstören. Ich habe auch
gehört, dass ein Apfelfeld mit Chemikalien
besprüht wurde, um es zu vernichten.
Die Regierung hat uns einen guten Preis
für unsere Äpfel versprochen, aber kann
sie auch für unsere Sicherheit garantieren?
Seitdem Militante Lkw-Fahrer erschossen
haben, kann ich niemanden finden, der
meine Äpfel transportiert. Wer leidet, sind
die Durchschnittsbürger, die zum Nichtstun
verdammt sind. Warum passiert uns das?
Wir glauben, dass Indien ein gutes Land
ist. Ich sehe mich selbst als indisch an.«


3,5 Millionen Einwohner sind auf das Ein-
kommen aus der jährlichen Apfelernte
angewiesen. Erst behinderte die Kommu-
nikationsblockade das Geschäft, nun müs-
sen die Landwirte militante Kämpfer
fürchten.
Vor ein paar Wochen tauchten Poster
an Strommasten, Häuserwänden und Mo-
scheen auf. Die Militanten drohen darauf
jedem mit dem Tod, der zur Normalität

weise macht sie ihren Gefühlen auf Face-
book Luft, aber ohne Internet hat sie
wenig Kontakt nach außen. Sie schluckt
Medikamente gegen eine posttraumati-
sche Belastungsstörung, entstanden durch
die Erfahrung von Terror und Gewalt. Im
Krankenhaus heißt es, Angststörungen
hätten zugenommen.
Zabirah Fazilis Familie erlangte eine
gewisse Bekanntheit, nachdem ihr Cousin
Eisa Fazili bei einem Schusswechsel ums
Leben gekommen war. Tausende Men-
schen strömten zu seiner Beerdigung.
Radikale breiteten eine schwarze IS-Flag-
ge über seinen Leichnam aus. Die Familie
hatte erst übers Internet erfahren, dass
sich Eisa einer radikalen Gruppe ange-
schlossen hatte.

»Eisa und ich waren gleich alt. Wir standen
uns nahe. Es war ein Schock, als er auf
einmal verschwand. Es ist nicht so, dass ich
die Idee der Militanz ablehne. Ich glaube,
der intellektuelle Kampf bringt nicht viel
im Moment. Ich habe zwei jüngere Brüder,
und wenn die indische Armee sie angreift,
könnte ich verstehen, wenn sie sich radi -
kalisieren.«

Es gab in Srinagar schon immer zwei La-
ger: eines, teils gewalttätig, das die Abspal-
tung von Indien forderte. Und ein gemä-
ßigtes, dessen Anhänger sich nicht unbe-
dingt indisch fühlten, aber schätzten, was
das Land ihnen ermöglichte. Die Frage ist,
wie viele von ihnen nach Monaten der
Gängelung weiter glauben, dass Indien
ihr Heimatland ist.
Vielleicht geht Modis Strategie der har-
ten Hand am Ende auf. Vielleicht gelingt
ihm in Kaschmir, was ihm im restlichen In-
dien bislang kaum gelungen ist: die Wirt-
schaft in Schwung zu bringen und ein Volk
zu versöhnen. Wahrscheinlich ist das nicht.
Laura Höflinger, Sunaina Kumar

zurückkehrt. Mehrere Lkw-Fahrer und
Obsthändler starben bei Angriffen. Die
Extremisten warfen eine Granate auf einen
Marktplatz mit Zivilisten.
Es gibt Analysten in Delhi, die Modis
Schachzug für genial halten. Weil er mit
der Entziehung der Autonomie die Frage
nach der Unabhängigkeit geklärt und da-
bei gegenüber Pakistan klare Kante ge-
zeigt hat – und auch gegenüber China.
China kontrolliert ein Fünftel des ehe-
maligen Fürstenstaats. Als Teil der »Initia-
tive Neue Seidenstraße«, Chinas mil liar -
denschweren Entwicklungsprogramms,
bauen chinesische Firmen Fernstraßen,
die auch durch den von Pakistan kontrol-
lierten Teil Kaschmirs verlaufen. Indien
fühlt sich von seinen beiden Nachbarn um-
zingelt.
Die andere Lesart ist, dass es Indien je-
dem, der in Kaschmir Unruhe stiften will,
einfacher gemacht hat. Denn auch das
zeigt Kaschmirs Geschichte: Wann immer
Neu-Delhi glaubte, einen politischen Kon-
flikt militärisch lösen zu können, hat es
neue Gewalt provoziert.

»Es ist eine Besatzung«
Zabirah Fazili ist eine 24-jährige Literatur-
studentin. Sie lebt mit ihrer Großfamilie
in einem Bungalow in Srinagar. Normaler-

Studentin Fazili, Bauer Dar: Manche fürchten den indischen Staat, andere erhoffen sich Schutz
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