Der Stern - 24.10.2019

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geht die Straße Skólavörðustígur hinab,
vorbei an Läden, Cafés und Restaurants, an
kleinen Häusern mit roter, blauer, gelber
Wellblechfassade. Junge Mütter mit Kinder-
wagen kommen ihm entgegen, sie wirken
entspannt, selbstbewusst. Früher lebte
Helgason hier, in 101 Reykajvik, so lautet
die Postleitzahl. Dem Viertel widmete er
seinen dritten Roman, mit dem er bekannt
wurde: In „101 Reykjavik“ lässt er einen
jungen Mann durchs Nachtleben treiben.
Das Kaffibarinn, einer der Schauplätze des
Buchs, war Helgasons zweites Wohnzim-
mer: „Ich hatte keine Freundin und keine
Familie. Um nicht allein zu sein, bin ich
nachts in die Bar gegangen.“

Irrwitzige Welten, skurrile Typen


Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute be-
gleitet Helgason lieber seinen 15-jährigen
Sohn zum Fußballtraining oder geht mit
Hund Lukka auf dem Hügel Öskjuhlíð spa-
zieren, in einem der wenigen Wälder Islands.
Mit seiner Freundin, der jüngsten Tochter
und zwei Kindern aus erster Ehe lebt Helga-
son östlich des Zentrums. In dem Wohn-
gebiet aus den 60er Jahren ist er aufgewach-
sen, sein Atelier, eine ehemalige Bäckerei,
liegt in der Nähe. Hier arbeitet er, „montags
bis freitags von 9 bis 17 Uhr“, sagt Helgason.
Malt und schreibt, erschafft irrwitzige Wel-
ten und erweckt skurrile Typen zum Leben
wie den Auftragskiller Toxic, der aus New
York flieht, um in Reykjavik als Fernseh-
prediger unterzutauchen. Nachzulesen im
Roman „Zehn Tipps, das Morden zu beenden
und mit dem Abwasch zu beginnen“.
Helgason erzählt in klaren, kraftvollen
Worten und mit einem Humor, der so düs-
ter ist wie Islands endlose Winternächte.
„Wenn ich schreibe, fühle ich mich wie auf
einer Bühne“, sagt er. „Der Zuschauerraum
ist voller Leute, die auf den nächsten Satz
warten. Er muss richtig gut sein, damit sie
nicht einschlafen.“ In der Regel gelingt ihm
das hervorragend. Beeinflusst das Malen
sein Schreiben? „Vielleicht“, antwortet er.
„Ich sehe die Szenen wie ein Gemälde vor
mir, bevor ich sie zu Papier bringe.“
Inspiration findet Helgason überall, „die
Ideen kommen und packen dich, du kannst
nichts dagegen tun.“ Oft kommt ihm der
Zufall zu Hilfe. Als er vor zwölf Jahren für
seine damalige Frau, eine Stadträtin, um
Wählerstimmen warb, telefonierte er mit
einer 80-jährigen Dame, die in ihrer Gara-
ge lebte. Sie war bettlägerig, über Internet
und Telefon hielt sie Kontakt zur Außen-
welt. Später fand Helgason heraus, dass sie
die Enkelin des ersten Präsidenten Islands
war, und machte ihre Geschichte zum Stoff
seines Romans „Eine Frau bei 1000°“.

Hauptstädtchen von 130 000 Einwohnern,
die sich alle mit Vornamen anreden.
Hallgrímur Helgason, 60, ist Einheimi-
scher. Mit einem Lächeln beobachtet er das
Treiben vor der Kirche. Helgason gehört zu
den erfolgreichsten Schriftstellern Islands,
zweimal schon hat er den Literaturpreis
des Landes gewonnen. Helgason stören die
Besuchermassen nicht, im Gegenteil. Wäh-
rend andere beklagen, die Stadt habe ihre
Seele verloren und sich zur Kulisse mit
Tausenden Hotel- und Airbnb-Betten ge-
wandelt, sieht er die Vorteile, zumal es ab-
seits der Sehenswürdigkeiten noch immer
ruhig zugehe. „Der Touristenboom hat uns
Wachstum gebracht und neue Chancen er-
öffnet“, sagt Helgason. „Ich freue mich, dass
sich die Welt für Reykjavik interessiert.“
Das war nicht immer so. Als Hallgrímur
Helgason jung war, sei Reykjavik grau, häss-
lich und langweilig gewesen, erzählt er. „Es
gab nur eine Bar, ein Restaurant, einen
Radiosender, einen Baum. Ich fühlte mich,
als würde ich sterben.“ Island empfand er
als isoliert, „die Welt hatte uns vergessen“.
Aus dieser Enge wollte Helgason ausbre-
chen. Anfang der 80er Jahre zog er nach
München, wo er Kunst studierte, später
lebte er in Boston, New York, Paris. Er mal-
te, zeichnete, schrieb erste Romane. 1989
fiel in Island das Verbot für alkoholreiche-
re Biere, Reykjavik wurde zur Partystadt.
Mitte der 90er Jahre kehrte Helgason
dann zurück. Zu groß war die Sehnsucht
nach seiner Heimat, dieser Landschaft aus
Gletschern, Geysiren, Vulkanen. Auch das
Meer hatte er vermisst. Und das goldene
Licht der Sonne in Juninächten.
„Heute ist Reykjavik frisch und jung und
kreativ“, sagt Helgason, „eine Mischung aus
Dorf und Großstadt, benutzerfreundlich
wie ein Smartphone, alles liegt nah beiei-
nander.“ Das will er jetzt zeigen. Helgason

E


s dauert einige Zeit, bis man vor der
Hallgrímskirkja einen Einheimi-
schen trifft. Bereits am Morgen ste-
hen die Touristen in kleinen und
großen Gruppen vor der Kirche, das
Smartphone vor dem Gesicht, um
zu fotografieren. Wie eine Rakete auf der
Startrampe ragt Reykjaviks Wahrzeichen
in den Himmel. Und man fragt sich, was
eigentlich das spannendere Motiv ist: die
Kirche oder die Besucher. Aus Malaysia,
China, Südeuropa und den USA sind sie
nach Reykjavik gekommen. In dieses 4

Hallgrímur Helgason vor dem Amtssitz von Premier-
ministerin Katrín Jakobsdóttir, mit der er befreundet
ist (o.). Im Atelier arbeitet der Schriftsteller um-
geben von seinen Büchern und Gemälden (u.). Mitte:
Mütter und Touristinnen vor der Hallgrímskirkja


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REISE

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