Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
„Das menschliche Gehirn liebt
Altbekanntes. Das gibt Sicherheit.
Deswegen können sich für
uns rapide Veränderungsprozesse
wie die Digitalisierung
überwältigend anfühlen. Eltern
wird seit Jahrzehnten
eingetrichtert, sie seien verant-
wortlich für das Glück ihrer
Kinder. Das macht Druck. Aber nur,
wenn man sich an den
altbekannten Mustern und Ideen
von Lebensglück orientiert:
Gymnasium, Studium, Eigenheim,
Kleinfamilie. Das alles war mit
Fleiß und Anpassungsbereitschaft
zu erreichen. Heute ist das anders.
Gefragt sind plötzlich
selbstständig denkende,
innovative, kreative Menschen,
die Jobs besetzen, die es vor
20 Jahren nicht mal gab.
Wir haben nicht alles in der Hand.
Das entlastet uns. Wir können
eigentlich nur versuchen, einen
Rahmen zu schaffen, in dem
die Kinder ihre eigenen Stärken
und Schwächen entdecken.
Wohin das führt? Das wissen wir
nicht. Daraus abzuleiten, man
müsse seinem Kind jedes nur
denkbare Hindernis aus dem Weg
räumen, ist falsch. Kinder
müssen scheitern dürfen und die
damit verbundenen Emotionen
aushalten lernen.“

Die Familien-Bloggerinnen und
Autorinnen haben mit ihren Partnern
insgesamt fünf Kinder
zwischen 5 und 10.
http://www.gewuenschtestes-wunschkind.de

„WIR HABEN NICHT


ALLES IN DER HAND. DAS


ENTLASTET UNS“
Katja Seide, 43, und Danielle Graf, 40

FOTO: CHRISTIAN GRUND/13 PHOTO; MARK GARNER

noch bleibt, soll um Himmels willen kein


Streit, keine Auseinandersetzung, keine


Meinungsverschiedenheit das Klima trü-


ben.“


In einem solchen Klima fällt es Eltern


schwer, sich abzugrenzen. Dem Kind auch


mal zu sagen, wann Schluss ist. Aus der


Überzeugung heraus, das Kind wisse schon


selbst, was für es am besten sei. Oder aus


Erschöpfung.


Dabei gibt es eine große Angst, das Kind

nicht richtig vorzubereiten auf die Welt


da draußen. Der Soziologe Andreas Reck-


witz hat kürzlich im stern beschrieben,


wie sich im Zeitalter von Globalisierung


und Digitalisierung alte gesellschaftliche


Strukturen auflösen und wie die Dynamik


des Wandels viele Menschen überfordert.


Reckwitz sagt: „Große Teil der Gesellschaft


sind einem permanenten Stress ausge-


setzt. Nichts ist mehr sicher.“


Wir leben in der „VUCA-Welt“ – ein Be-


griff, den US-Militärs nach dem Ende des


Kalten Kriegs prägten. Die Anfangsbuch-


staben stehen für Volatiliy, Uncertainty,


Complexity, Ambiguity. Heißt: Es geht


um Unbeständigkeit, Unsicherheit, Kom-


plexität und Uneindeutigkeit. Um eine


„fluide Gesellschaft, die alles Stabile ver-


flüssigt“, wie die Hamburger Theologin


und Coaching-Ausbilderin Frauke Narjes


schreibt.


In dieser verflüssigten Welt müssen


sich Eltern zurechtfinden – auch, was


ihre Erziehung angeht. Eine verlässliche


innere Landkarte gibt es nicht mehr.
Selbstzweifel und Erschöpfung sind
die Folgen. Da liegt es nahe, seine Kinder
zu Komplizen zu machen, ganz so, als
könnten die komplexe Fragen schon
selbst beantworten.

Eltern zu einem Fünfjährigen: „Timmy,
möchtest du jetzt nicht ins Bett gehen?“

Frage an ein acht Jahre altes Mädchen:
„Wohin wollen wir in den Urlaub fahren? In
die Türkei oder nach Schweden?“
Zum Stress, den eine Welt im Umbruch
verursacht, kommt der, den wir uns selbst
machen. Weil wir unsere Biografien und
Lebenstil-Inszenierungen im Social-Me-
dia-Zeitalter immer häufiger miteinander
vergleichen. Was zu der Frage führt: Sind
wir eigentlich gut genug? Wenn die An-
strengungen von Job- und Selbstoptimie-
rung zusammenkommen, bleibt wenig
Zeit und Muße für das, was auch überaus
aufreibend sein kann: Erziehung.
Und so gibt es Familienwelten, in denen
das Handy häufiger beachtet wird als das
eigene Kind. Neben solchen, in denen die
Eltern bis zur Selbstaufgabe ums goldene
Kind herumtanzen und es mit so großer
Erbarmungslosigkeit fördern, dass die
lieben Kleinen irgendwann zu „Burn-
out-Kids“ werden, wie sie der Hamburger
Kinder- und Jugendpsychiater Michael
Schulte-Markwort nennt.

Grundschule, zweite Klasse. Ein „Inklu-
sions-Kind“ nimmt im Rollstuhl am Unter-
richt teil. Eine Mutter berichtet stolz, einzig
und allein ihr eigener Sohn rede mit diesem
Kind. Ihre Schlussfolgerung: „Sicherlich ist er
hochbegabt!“
So verständlich der Wunsch vieler El-
tern nach optimaler Förderung sei, so un-
sinnig sei er häufig, sagt die Bremer Ent-
wicklungsneurobiologin und -psycholo-
gin Nicole Strüber. „Wir Erwachsenen
wollen immer und überall produktiv sein.
Wir fordern uns alles ab. Jede Minute
muss ausgenutzt sein. Es darf keine Lan-
geweile geben. Aber Kinder beschädigt
diese Denkweise in ihrer Entwicklung.
Denn das kindliche Gehirn braucht Zeit,
Muße, unproduktive Zeit, um sich zu ent-
wickeln. Wir Erwachsenen definieren
Bildung als das, was man wissen und ab-
fragen kann. Aber das kindliche Gehirn
lernt ganz anders. Es sucht sich sein Welt-
bild selbst zusammen.“
Strüber verdeutlicht: In den ersten
Lebensjahren müsse sich das kindliche
Gehirn nur entfalten. Ein stimulierendes
Umfeld, Feinfühligkeit und Kontakt zu

COVER-GIRL
Schatz, wieso
magst du denn die
Beatles nicht?

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