Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
„Erziehung bedeutet für mich
Gleich-Würdigkeit. Menschen
sind von gleicher Würde, aber
nicht gleich. Eltern haben Macht
und tragen Verantwortung, die
sie allmählich an ihre Kinder
übergeben. Eltern müssen ihre
eigenen Grenzen klarmachen.
Sie geben dem Kind einen
sicheren Rahmen, in dem es sich
entwickeln kann. Verglichen mit
früher ist Elternschaft heute
deshalb aufwendiger, weil sich
moderne Eltern mit ihren
Kindern mehr beschäftigen. Und
weil sie zum Glück auf Schläge,
Drohungen und Machtmiss-
brauch immer mehr verzichten.
Wenn heute von unsicheren
Eltern gesprochen wird, ist das
Musik in meinen Ohren. Weil sich
diese Eltern hinterfragen und
nicht einfach eins zu eins die
Erziehungsprinzipien der eigenen
Eltern übernehmen. Gleichzeitig
stehen Eltern heute unter
gewaltigem Druck, weil sie in
einer unübersichtlichen Welt
ihren eigenen Weg finden
müssen. Herauszufinden, was die
Kinder brauchen und was man
selbst braucht, das ist Champions
League. Würde ich heute noch
mal Kinder kriegen, würde ich
versuchen, gelassener zu werden.
Ich habe mir zu viele Sorgen
gemacht. Auch um die Schule.
Aber Schule ist per se nicht
so wichtig. Den Spaß am
Lernen zu behalten – das zählt.“

Der Gründer und Leiter von „familylab –
die familienwerkstatt“ aus der Nähe von
Regensburg hat eine Tochter, 32, und einen
Sohn, 30. Seine Firma kümmert sich in
Seminaren und Vorträgen um Familien-
und Erziehungsfragen. Voelchert hat lange
mit dem Familientherapeuten Jesper Juul
zusammengearbeitet: http://www.familylab.de

„UNSICHERE ELTERN SIND


MUSIK IN MEINEN OHREN“
Mathias Voelchert, 66

Tobias Schmitz macht jeden
Tag Erziehungsfehler.
Häufigster Satz seiner Kinder:
„Papa, leg doch einfach mal
das Handy weg“ FOTO: ACHIM LIPPOTH

das Computerspiel „Grand Theft Auto V“ spiel-


ten. Das Spiel ist freigegeben ab 18 Jahren.


Eine Grundschule im Münsterland, äu-

ßerlich heile Welt. „Und dennoch müssen


wir hier teilweise Arbeit leisten, die man


eher in sozialen Brennpunkten verorten


würde“, sagt Silke Maiwald*. Die erfahrene


Lehrerin hat lange auch als Sonderpäda-


gogin gearbeitet. „Meine Kollegen und ich


arbeiten hier jetzt mit Methoden, die wir


früher nur in Förderschulen


angewendet haben“, sagt


die Lehrerin. „Viele Kinder


benötigen klare Strukturen,


die ihnen Sicherheit geben.“


Die fehlten ihnen offenbar


häufig zu Hause, vor allem


am Wochenende. Das be-


merken die Lehrer regelmäßig montags.


„Dieser Tag ist oft für alle besonders an-


strengend“, sagt sie. Viele Kinder wirkten


emotional total unaus geglichen. Ein


Grund könne sein, dass viele Eltern durch


die Doppelbelastung von Beruf und Fami-


lie erschöpft seien und dann zu Hause


nicht ausreichend auf die Bedürfnisse


ihrer Kinder eingingen. „Wenn ich früher


nach Hause kam, war meinen Eltern sehr


wichtig zu erfahren, was ich erlebt hatte.


Ich wurde gesehen, in allem, was ich emo-


tional brauchte. Solche Gespräche finden


immer seltener statt. Es gibt für Eltern und


Kinder so viel Ablenkung, etwa durch das


Handy oder digitale Welten.“


Um haltgebende Strukturen zu schaffen,

beginnt der Unterricht bei Silke Maiwald


immer gleich. Sie schreibt das Datum


an die Tafel, dann den Tagesplan. „Class-


room-Management ist wichtig“, sagt sie.
„Mit klaren Regeln und Plänen gebe ich
Orientierung. Ziel ist es, bei den Kindern
die Fähigkeit zur Selbstregulation zu
stärken.“
Manche Eltern würden das als Strenge
auslegen. „Ich sage dann: Ich gebe den
Kindern einen Anker. Einen klaren
Rahmen, innerhalb dessen sie kreativ wer-
den können.“ Inzwischen hat sich Maiwald
angewöhnt, auch die Eltern-
gespräche von vorn bis hinten
durchzustrukturieren. Das
kommt gut an. „Nicht nur die
Kinder, sondern auch ihre
Eltern haben eine tiefe Sehn-
sucht nach Klarheit. Sie wol-
len wissen, wo es langgeht.“
Wie erziehen wir unsere Kinder am bes-
ten? Cordula Klaffs und Beatrix Solyga
bilanzieren: „Seid echt, seid authentisch.
Spielt euren Kindern nichts vor. Aber spielt
mit ihnen. Seid einfühlsam, liebevoll und
verständnisvoll. Setzt ihnen Grenzen und
überprüft, ob sie diese Grenzen noch brau-
chen. Erweitert so allmählich den Raum.
Habt keine Angst vor Fehlern. So schnell
haut eure Kinder nichts um. Aber sie ha-
ben ein Recht darauf, von euch beachtet
zu werden. Zeigt also Interesse, verbringt
Zeit miteinander, statt Dinge zu konsu-
mieren.“
Oder ganz kurz: weniger Zeit für Enter-
tainment. Mehr Zeit für Unterhaltungen. 2

RITUALE


GEBEN


STRUKTUR


F**** YOU!
Schatz, wer hat
dir denn das beige-
bracht? Papi
beim Autofahren?

*Name von der Redaktion geändert.


38 24.10.2019

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