Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
Jan Rosenkranz wunderte sich, wie
weit Ramelow sich dem Sprachge-
brauch im Osten angepasst hat. Wenn
Ramelow etwa Mütter als Muttis be-
zeichnete, erschrak der stern-Mann jedes Mal –
und erinnerte sich an seine Jugend in Ostberlin FOTO: MARTIN SCHUTT/DPA

war es, der die Abfindungen für die Arbei-
ter rausholte; und der PDS-Mann Gysi war
es, der dafür sorgte, dass auch die Kumpel,
die unten in den Stollen ausgeharrt hat-
ten, die Vereinbarung unterschrieben. Tief
in der Nacht kommt es zu einer Szene, die
wie geschrieben scheint für ein bitter süßes
Buddy-Movie: Die beiden Männer lehnen
erschöpft an Gysis Wagen, es sind schon
viele Tränen und viel „Kumpeltod“ geflos-
sen, wie der Schnaps hieß, den die Arbeiter
als Deputat erhielten, und Gysi fällt plötz-
lich ein, dass er den Kofferraum voll mit
Böllern und Raketen hat, es ist Silvester,
und der Fahrer zündet die Raketen, Gysi
und Ramelow beginnen, sich mit Knallern
zu bewerfen.

Der Mann fürs Grobe


Gysi hätte diesen ruppigen Ramelow
schon damals gern im Bundestag gehabt,
doch der lehnte ab. Er kam erst 2005 nach
Berlin, um „Architekt“ der neuen Linken
zu werden, wie er sich ganz unbescheiden
selber nennt. Als Fusionsbeauftragter der
PDS treibt er den Zusammenschluss mit
der westdeutsch geprägten WASG voran.
Gysis Consigliere geht forsch voran. „Und
ist der Laden noch so klein, einer muss der
Grobe sein“, sagt Ramelow über diese
Phase. So schlug er auch in der Berliner
Parteizentrale ein, von wo aus er zwei
erfolgreiche Wahlkämpfe managte: „Ich
habe einen schlechten Ruf und nicht die
Absicht, daran etwas zu ändern.“
Inzwischen ist Ramelow ruhiger gewor-
den, leiser, auch weil er nach zwei erfolg-

losen Anläufen erkannt hatte, dass ein
Raufbold wohl nie Ministerpräsident wird.
Manchmal aber bricht sich noch der Vul-
kan Bahn. Dann trifft es, ganz willkürlich,
immer den Nächstbesten: Kabinettskolle-
gen, Mitarbeiter, Reporter oder, wie an
jenem Julitag in Hirschberg, wo Ramelow
auf seiner Sommertour Station machte:
Demonstranten.
Auf dem Video ist später zu sehen: Ra-
melow, hellblaues Poloshirt, blau-grau
karierte Schiebermütze, stocht wie ein
Wutbürger auf demonstrierende Wald-
besitzer zu. Die bärtigen Männer fürchten
einen Kahlschlag in ihren Wäldern. Sie hal-
ten Fotos mit toten Fichten in die Höhe,
aber bevor man versteht, worum es geht,
ruft Ramelow immerzu, dass überhaupt
nichts abgeholzt werde, „hier wird 30 Jah-
re lang umgeförstert!“. Die Umweltminis-
terin versucht es mit mehr Ruhe, doch
Ramelow brüllt, mit den Armen rudernd:
„Der Wald verreckt, seht ihr das nicht!“
Dieser Auftritt war eigentlich eine PR-
Katastrophe. Doch bei vielen Leuten kam
sein Ausraster trotzdem gut an. Weil Ra-
melow – als Legastheniker seit Kindheits-
tagen gewohnt, sich jedes Detail merken
zu müssen – auch diesmal besser infor-
miert war als alle anderen. Vielleicht auch,
weil gebrüllte Ehrlichkeit eher verziehen

seiner Familie selbst zweimal durchleben
müssen: Seine beiden Söhne aus erster Ehe
haben die Krankheit nur knapp überlebt.
Suhl, Hotel Michel, wieder einer dieser
Wahlkampfabende. Man ist unter sich,
jedenfalls gibt Ramelow den gut hundert
Zuhörern das wohlige Gefühl, ihre Sorgen
und Nöte nur zu gut zu verstehen. Der
Abend ist aber auch eine Vorführung des-
sen, was Ramelow den „Gebrauchswert“
seiner Partei nennt. Während die Linke
bundesweit fast überall verzweifelt nach
Gründen sucht, für die sie gewählt werden
soll, kann Ramelow diesen Wert für Thü-
ringen präzise vorrechnen: Ab dem kom-
menden Jahr sind zwei Kita-Jahre gebüh-
renfrei. „Das bringt für 20 000 Familien
3000 Euro Netto-Entlastung.“ Außerdem
haben sie die Straßenausbaubeiträge ab-
geschafft und den Kindertag zum neuen
arbeitsfreien Feiertag erklärt.
Nur scheint auch Ramelow bislang kei-
nen passenden Gebrauchswert gefunden zu
haben, der die Menschen davon abhielte,
die AfD zu wählen. Die Partei sitzt ihm im
Nacken, laut Umfragen mit bis zu 25 Pro-
zent. Gleichzeitig soll sie sein bester Wahl-
helfer werden. Denn je größer die Angst vor
einem Wahlsieger namens Björn Höcke,
desto mehr Wähler versammeln sich hin-
ter dem Amtsinhaber. Das hat in Sachsen
funktioniert, so lief es in Brandenburg. Von
dieser Logik soll in Thüringen auch Rame-
low profitieren, hoffen seine Strategen.
Die Ministerpräsidenten-Limousine
rollt jetzt durch das nächtliche Erfurt.
Ramelow muss noch bei einer Party anhal-
ten, ein Wahlkämpfer hat Geburtstag. Eine
letzte Frage, Herr Ramelow: Was, wenn es
am Ende für keinen reicht, weder für sein
Rot-Rot-Grün noch für das von CDU-
Mann Mohring ersehnte Viererbündnis
der Parteien der alten Bonner Republik?
„Bricht auch kein Chaos aus“, sagt Rame-
low. Er kann nicht verstehen, welche Hys-
terie entsteht, sobald das Wörtchen „Min-
derheitsregierung“ fällt. Seine Koalition
hat vorsorglich schon mal einen Haushalt
für 2020 durch den Landtag gebracht, auf
Vorrat sozusagen. Er könnte also einfach
weiterregieren, nein, sagt er, er müsste es
sogar, denn so verlange es die Landesver-
fassung. „Ich bleibe so lange im Amt, bis ein
anderer Ministerpräsident gewählt wird“,
sagt Ramelow. Wie lange auch immer. 2

wird als strategisch kühle Lüge. Sicher, weil
Ramelow ganz er selbst zu sein schien.
Manchmal aber gewährt dieses laute
Raubein auch einen Blick auf seinen wei-
chen Kern. Etwa wenn er erzählt, dass er
jahrelang nicht am Gutenberg-Gymna-
sium vorbeigehen konnte. Dort war beim
Amoklauf 2002 die Frau eines guten Freun-
des umgekommen. Ramelow hielt diesen
Ort des Schreckens einfach nicht aus. Ir-
gendwann hat er sich psychologische Hil-
fe geholt. Heute wohnt er sogar in der Nähe
des Gebäudes seines inneren Horrors.
Und als Anfang des Jahres sein Heraus-
forderer Mike Mohring mit einem wacke-
ligen Selfie-Video seine Krebserkrankung
öffentlich machte, schenkte Ramelow dem
Christdemokraten einen kleinen Engel.
Das war mehr als eine Höflichkeit. „Die
Kappe, die er trug, hat etwas bei mir aus-
gelöst“, hat Ramelow später erzählt. Er hat
diesen Horror, die Angst und die Qualen in

„ UND IST DER LADEN


NOCH SO KLEIN, EINER


MUSS DER GROBE SEIN“


Der Unscheinbarste in der Familie:
Ramelow mit seiner Frau Germana Alberti
vom Hofe und Hund Attila in Erfurt


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