Der Stern - 24.10.2019

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FOTO: PAU BARRENA/AFP

Auslöser der neuen Gewalt waren lange
Haftstrafen für die Anführer der Unab-
hängigkeitsbewegung. Sind die Urteile
zu hart?
Das ist eine Frage der Perspektive. Die rech-
ten Nationalisten wollten die Separatisten
wegen Rebellion verurteilt sehen, sie haben
schließlich mit ihrem illegalen Referendum
im vergangenen Jahr eine Staatskrise
ausgelöst. Die Richter haben nur wegen
Aufruhr verurteilt, aber trotzdem kräftig
zugelangt. Bei den Separatisten hatten
manche sogar auf Freispruch gehofft. Ent-
sprechend groß ist deren Enttäuschung.

Warum sind die Proteste so eskaliert?
Ex-Präsident Carles Puigdemont ist nicht
ganz unschuldig. Er forderte, jetzt müsse
reagiert werden wie nie zuvor. Von Belgien
aus zieht er weiter die Fäden. Auch sein
Nachfolger, Regionalpräsident Quim Tor-
ra, hat schon seit Amtsantritt junge Un-
abhängigkeitskämpfer animiert, „Druck
zu machen“. Als vor einigen Wochen sieben
Mitglieder der sogenannten „Komitees zur
Verteidigung der Republik“ unter Terror-
verdacht in Untersuchungshaft kamen,
skandierten separatistische Politiker im
katalanischen Parlament: „Freiheit, Frei-
heit.“ Torra hat Tage gewartet, bevor er sich
von der Gewalt auf der Straße distanzierte.

Wer organisiert die Demonstrationen?
Zunächst die altbekannten Organisationen
der Unabhängigkeitsbewegung. Puigde-
mont und Torra sollen sich dazu im Spät-
sommer in Genf getroffen und die Agi-
tations-Website „Tsunami Democràtic“
gegründet haben. Über diese wurden am
Montag letzter Woche die Demonstranten

zum Flug hafen dirigiert. Inzwischen spie-
len aber auch junge, radikale Kräfte wie zum
Beispiel die sogenannten „Comités de De-
fensa de la Revolución“ eine wichtige Rolle.

Warum sind die so wütend?
Sie haben an das Versprechen der Separa-
tisten von einer Zukunft in einer unabhän-
gigen Republik geglaubt. Nun aber sagten
die Separatisten vor Gericht aus, es sei ih-
nen in Wahrheit nicht um Unabhängigkeit
gegangen, sondern um den symbolischen
Charakter der Aktionen. Die Frustration
der Jungen ist enorm. Es scheint, als hätten
die Führer der Bewegung die Kontrolle
verloren. Auch, weil nun Anarchisten mit-
mischen – sagt die Polizei.

Steht die Mehrheit in Katalonien hinter
der Unabhängigkeitsbewegung?
Das Land ist gespalten, wie schon immer.
Sicher aber ist, dass auch die ganz große
Masse der Separatisten Gewalt nicht
mitträgt. Die wollen eine friedliche Bewe-
gung, die wenigsten unterstützen gewalt-
tätige Ausschreitungen. Ungehorsam,
Landfriedensbruch werden akzeptiert.
Mehr aber nicht.

Lässt sich der Konflikt deeskalieren?
Im Moment ermittelt der Untersuchungs-
richter wegen Terrorismusverdachts gegen
gewalttätige Demonstranten. Das könnte
sich als Brandbeschleuniger er weisen,
Deeskalation sieht anders aus.

Wie wirken sich die Proteste auf die
landesweiten Wahlen im November aus?
Die rechten Parteien verzeichnen, so
die Umfragen, starke Gewinne. Außerhalb

Kataloniens haben ohnehin die we-
nigsten Spanier Sympathie für die Un-
abhängigkeitsbewegung. Viele rufen nun
nach einem starken Staat. Die sozial-
demokratische Partei des Minister-
präsidenten Pedro Sánchez hat empfind-
lich an Stimmen verloren.

Wer gewinnt?
Die Rechte macht mit Nationalismus und
Patriotismus Wahlkampf. Die ultrarechte
Partei „Vox“ führt ihren Wahlkampf mit der
Katalonienproblematik. Sie könnte jetzt
drittstärkste Kraft werden.

Weil die Ultrarechten von der Angst vor
Unruhe profitieren?
Ja. Sie skandieren: Alle ins Gefängnis. Dass
auch in Spanien die Justiz unabhängig
sein sollte, interessiert sie nicht. Der
Konflikt um Katalonien wird sich nach
den Wahlen, so die Voraussagen, weiter
verschärfen. Das ist umso bedauerlicher,
als mit Pedro Sánchez bisher ein Minis-
terpräsident am Ruder ist, dem man
kluge  Verhandlungen hätte zutrauen
können.

Was bedeuten die Unruhen für Touristen,
die Barcelona besuchen wollen?
Mit weiteren Demonstrationen, Streiks
und versuchten Blockaden von Zügen,
Flug häfen oder Straßen ist in nächster
Zeit zu rechnen. In der vergangenen
Woche brannten Autos und Barrikaden.
Die Protestierenden greifen keine Touris-
ten gezielt an, doch die Innenstadt von
Bar celona kann jederzeit Schauplatz von
Auseinander setzungen werden. 2
Joachim Rienhardt

Absperrgitter als Barrikaden gegen die Polizei, Feuer und Fahnen: In der vergan genen
Woche legten die Proteste weite Teile der Innenstadt Barcelonas lahm

ZEHN FRAGEN ZU DEN


UNRUHEN


IN KATALONIEN


Die Unabhängigkeitsbewegung
wird radikaler, die Demons-
trationen werden gewalttätiger.
Fakten zur wiederauf-
geflammten Krise in Spanien

46 24.10.2019

POLITIK

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