Der Stern - 24.10.2019

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FOTOS: JULIAN ELLIOTT/DDP; SERGIO PEREZ/REUTERS; HERITAGE IMAGES/AKG-IMAGES

Gut 500 Jahre schauten die Menschen mit großen,
staunenden Augen auf die „Mona Lisa“. Oder mit an-
gestrengt suchendem Blick, um nur ja kein Haar, kei-
ne Hautpartie, keinen Brückenpfeiler im Hintergrund,
keine Falte im Gewand zu verpassen. Sie versenkten
sich in ihr Antlitz, schickten ihr Blumen, brachen in
Tränen aus oder attackierten sie – vielleicht auch, weil
ihr Schweigen schon vor Hunderten von Jahren als ihr
einziger Makel empfunden wurde.
Dann plötzlich wandten sie sich ab.
Seit der Erfindung des Smartphones mit Front-
kamera drehen viele Besucher ihr den Rücken zu. Die
„Mona Lisa“, das Meisterwerk des Renaissance-Genies
Leonardo da Vinci, ist in die zweite Reihe gerückt. Aber
nur, um von dort aus umso bedeutsamer über unsere
Köpfe hinweg in unsere Welt zu schauen. Das ultima-
tive Selfie: ich – und sie.
Vincent Delieuvin leitet die Sammlung italienischer
Malerei des 16. Jahrhunderts im Pariser Louvre und ist
der Hüter der „Mona Lisa“. Die Sache mit den Selfies
akzeptiert er als eine Art, sich dem Bild zu nähern: „Die
Kommunikation zwischen einer Person und einem
Bild ist etwas absolut Persönliches, und wenn du im
Raum bist, siehst du, wie die Leute in einem gewissen
Moment das Bild anschauen. Und was sich dabei ab-
spielt, das ist ein Geheimnis. Ich würde niemals sagen,
dass es oberflächlich ist.“
Aber warum gerade sie? Was verleiht der „Mona Lisa“
seit einem halben Jahrtausend diese magische Anzie-
hungskraft? Und was prädestiniert sie heute dazu, ein
Symbol unserer Suche nach Einzigartigkeit und Aus-
druck zu sein?
Zum 500. Todestag Leonardo da Vincis wagt der Lou-
vre vom 24. Oktober 2019 bis 24. Februar 2020 einen
neuen Blick auf die Gemälde des italienischen Renais-
sance-Meisters. Zu erwarten ist eine beispiellose Aus-
stellung mit über 150 Werken – von der Skizze bis zum
Ölbild – rund um das berühmteste Gemälde der Welt:
Die beiden Kuratoren Delieuvin und Louis Frank

arbeiten seit über zehn Jahren an dieser Schau. Für
kurze Zeit an einem Ort vereint ist mehr als die Hälf-
te aller 14 bis 17 noch existierenden, als Original
geltenden Leonardo-Gemälde. Zusätzlich zu den rund
25 000 Besuchern, die sich ohnehin täglich durch den
Louvre schieben, kommen für die Schau Leonardo-
Verehrer aus der ganzen Welt angereist. Als die
zeitgebundenen Tickets für die Ausstellung freige-
schaltet wurden, brach sofort die Website zusammen.
Der Saal der „Mona Lisa“ wurde eigens renoviert,
Besucher finden sie trotz der Sonderausstellung an
ihrem gewohnten Platz. Dort drängen Aufseher die
Massen am Bild vorbei. Nicht stehen bleiben! Niemand
darf es in Ruhe betrachten. Und selbst wenn: Ein Glas-
kasten hält die Blicke auf Distanz.
Bis zuletzt gab es harte Auseinandersetzungen um
Leihgaben aus anderen Museen. Zu fragil ist die Kunst,
zu politisch die Frage, wer sich mit welchem Werk
schmücken darf. Dahinter steht, heute wie schon zu
Leonardos Zeiten, die Frage, wem er gehört und wessen
Macht er repräsentiert: Frankreich? Italien? Der Aris-
tokratie? Dem Geldadel? Oder, neuerdings, arabischen
Scheichs oder anonymen Shareholdern mit Briefkas-
tenfirmen in Panama? Krakau etwa gibt seine „Dame
mit dem Hermelin“ nicht heraus. Zu angespannt ist das
Verhältnis zwischen Frankreich und Polen, als dass der
Louvre sich ein paar Monate damit schmücken dürfte.
Die Ankunft des „Salvator Mundi“ wäre eine Sensa-
tion. Delieuvin würde ihn gern zeigen. Doch unklar
ist nicht nur, wie viel Leonardo selbst an der Erlöser-
darstellung gearbeitet hat, sondern auch, wo das
Gemälde, das 2017 für 450 Millionen Dollar anonym
ersteigert wurde, sich befindet. Als neuer Besitzer wird
der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Sal-
man vermutet; zuletzt hieß es, das Gemälde befinde
sich auf seiner Yacht. Doch das sind alles nur Gerüch-
te. Delieuvin witzelt: „Es hängt in meinem Badezim-
mer! Wussten Sie, dass Franz I. die ‚Mona Lisa‘ in
seinem Schloss von Fontainebleau im Appartement
des Bains hatte? Alle seine besten Bilder hingen dort.
Vielleicht ist dort der Riss entstanden, der das Bild so
empfindlich macht.“
Mindestens genauso kompliziert waren die Verhand-
lungen mit Italien. Erst vier Wochen vor der Eröffnung
gelang es, einen Austausch zu vereinbaren: Italiens
transportfähige Leonardos gegen Frankreichs Raffaels
für die große Schau in Rom im kommenden Jahr. Noch
im Sommer drohte die kurzzeitig amtierende Kultur-

Ab 24. Oktober
werden im
Pariser Louvre
rund 150 Werke
von Leonardo
vereint sein

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