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Künstlers als eine völlig neue Form der Autonomie: „Er
ist frei genug, seine Gemälde unvollendet zu lassen. Am
besten zeigen dies seine letzten Werke: Mit 50 Jahren,
Anfang des 16. Jahrhunderts, beginnt er die ,Mona Lisa‘
und zugleich ,Johannes der Täufer‘ und ,Anna selbdritt‘.
Er fängt an, seine Gemälde wie Experimente zu betrach-
ten, er war total besessen von der Perfektion seiner
Arbeit, seiner Technik. Und er war der erste Künstler,
bei dem man das akzeptierte.“ Das offene Ende – also
auch die Verweigerung von Eindeutigkeit, einer klaren
Aussage mittels Kleidung, Schmuck und Attributen –
trägt sicher zur zeitlosen Gültigkeit der „Mona Lisa“
bei. „Jedes Jahrhundert erfindet sich seinen Leonardo
neu“, sagt Vincent Delieuvin.
Im 21. Jahrhundert entsteht der Thrill wohl auch durch
den Widerspruch aus massenhafter Reproduktion und
absoluter Verknappung: Je mehr wir von „Mona Lisa“
sehen, desto weiter entfernen wir uns vom Original. We-
nige Wissenschaftler haben die Chance, das Gemälde aus
der Nähe, ohne Glas zu betrachten. „Einmal im Jahr, an
einem Dienstag, nehmen wir sie aus ihrem Kasten und
betrachten den Zustand. Es gibt dann immer diesen ers-
ten Moment: Stille. Tiefe Stille! Sie hat eine echte Prä-
senz. Es ist wirklich magisch“, schwärmt Delieuvin.
Die „Mona Lisa“ blieb in den Händen der französi-
schen Herrscher, ein Gemälde ersten Ranges, das mal
in Versailles hing, mal im Schlafzimmer Napoleons
und schließlich im Louvre. Und gerade in der heuti-
gen Zeit, wo die Kunst häufig in den Zollfreilagern und
Privatgemächern der Superreichen verschwindet und
staatliche Museen mit meist kargen Ankaufsetats
nicht in der Lage sind, ihrer dokumentarischen Pflicht
nachzukommen, sei gern noch einmal daran erinnert,
wie es dazu kam: Die Franzosen zettelten eine Revo-
lution an, stürzten den König, gründeten eine Repu-
blik, und der große Maler und Politiker Jacques-Louis
David erklärte kurzerhand die royale Sammlung im
Louvre-Palast zum öffentlichen Museum – „um einen
Geschmack für die Künste zu pflegen, Kunstliebhaber
zu bilden und den Künstlern zu dienen“. Noch im
17. Jahrhundert zeugten gemalte Kopien vom Ruhm
des Bildes. Allein in Fontainebleau befanden sich drei
davon, und sie genossen ein deutlich höheres Ansehen,
als es der Begriff „Kopie“ heutzutage nahelegt. Der Kult
um die „Mona Lisa“ setzte gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts ein. „Ihr Aufstieg zu großem Ruhm“, sagt Kemp.
„Poeten und Kunstschriftsteller schrieben sie hoch zu
einer Art Femme fatale. Es begann ein sehr roman-
tischer Blick auf die ‚Mona Lisa‘.“
Doch auch der Irrsinn zog in die Rezeption ein.
„Plötzlich glaubten die Leute, das Bild trage geheime
Botschaften in sich!“, erzählt Delieuvin. Und bis heu-
te hören sie damit nicht auf. „Ich erhalte jede Woche
neue Entdeckungen. Irgendjemand hat das Gemälde
in 50 Teile zerschnitten und sie durch spiegelverkehr-
te Stücke ersetzt, am Ende ergab es ein Porträt von
Donald Trump. Alle Verrückten haben eine Theorie zu
Leonardo, und besonders zur ‚Mona Lisa‘.“
Mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert
gewann der Kult an Fahrt: Die „Mona Lisa“ wurde zum
universalen Bild – und 1911 zum Star. Am 22. August
ragten an der Stelle im Salon Carré, an der normaler-
weise das Bild mit der einstigen Inventarnummer 1601
hing, vier leere Haken in den Raum. Das auf fünf Mil-
lionen Dollar taxierte Werk war weg.
Nach seinem Verschwinden tauchte das Renaissance-
Gemälde als Ikone auf den Titelseiten der Zeitungen
wieder auf. In Paris brach die „Mona Lisa“-Hysterie aus.
Die Jagd auf die bekannteste und meistgesuchte Frau
der Welt begann. Vor dem Louvre standen die Leute
Schlange, um die leere Wand mit eigenen Augen zu
sehen – mehr, als je zuvor die „Mona Lisa“ anschauen
wollten. Am 29. August fand ein Trauermarsch zum
Tatort statt, Blumen und Briefe wurden abgelegt,
Menschen weinten. Der Fall wurde behandelt wie die
Entführung einer realen Person. Man schrieb Nach-
rufe, las Messen für sie. Französische Zeitungen und
der Staat lobten Belohnungen für ihre Wiederbeschaf-
fung aus. „In den Augen der Öffentlichkeit, auch der un-
gebildeten, nimmt die ,Mona Lisa‘ eine privilegierte
Stellung ein, die nicht allein aus ihrem Wert erklärbar
ist“, schrieb das „Paris Journal“.
„Eine großartige Geschichte“, sagt Martin Kemp. Zu-
mal bald zwei sehr prominente Figuren ins Rampen-
licht rückten: Die Polizei verdächtigte einen gewissen
Pablo Picasso, Maler, sowie seinen Kumpel, den Schrift-
steller Guillaume Apollinaire, das Bild gestohlen zu
DIE POLIZEI VER-
DÄCHTIGTE PICASSO
DES DIEBSTAHLS
Vincenzo Peruggia gelang 1911, was
heute undenkbar erscheint: Er stahl
die „Mona Lisa“ aus dem Louvre
Links: Drei Jahre lang blieb die Wand
nach dem Diebstahl leer, bis
das Bild 1914 zurückkehrte (oben)
52 24.10.2019