ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT/STERN
Diese Woche:
Professor Dr. Markus Zutt, 50,
Chefarzt der Klinik für
Dermatologie und Allergologie
am Klinikum Bremen-Mitte
AUFGEZEICHNET VON CONSTANZE LÖFFLER;
sah ich eine winzige Öffnung. Die erhöh-
ten Entzündungswerte im Blut und die
Tatsache, dass es ihr nach den Antibiotika
besser gegangen war, sprachen für eine In-
fektion oder ein entzündliches Geschehen.
Infrage kamen für mich: ein Abszess mit
Eiterbeule, eine bakterielle Entzündung,
die sich unter Haut ausbreitete, aber auch
eine Zyste oder ein bösartiger Tumor.
Ein Krebsgeschwür musste ich unbe-
dingt ausschließen. Ich entnahm Gewebe
von der Hautoberfläche und schickte es ins
Labor. Der Pathologe stellte fest, dass es
B
ei der Frühbesprechung berich-
tete mir eine Assistenzärztin von
der Patientin: Seit über einem
Monat wuchs ihr an der Stirn ei-
ne Beule – inzwischen war die
Schwellung groß wie ein Tischten-
nisball. Zuvor war die Mittfünfzigerin in
den südamerikanischen Regenwald ge-
reist. Beim Wandern dort hatte sie das
Gefühl gehabt, in die Stirn gebissen oder
gestochen worden zu sein. Vielleicht habe
sie aber auch nur ein Ast gestreift, hatte sie
der Ärztin erzählt. Ein paar Tage nach dem
Zwischenfall war ihr Gesicht
angeschwollen. Ein Doktor
hatte ihr ein Antibiotikum ver-
schrieben, die Schwellung war
zurückgegangen. Nur eine Stel-
le an der Stirn war geblieben –
und langsam größer geworden.
Zurück in Deutschland, ging
es besorgniserregend weiter:
Die Frau fühlte sich müde
und schlapp, hatte Gelenk-
schmerzen und Fieber. Sie
bemerkte, dass aus der Beule
eine schwärzliche Flüssigkeit
und Krümel herauskamen. Der
Hausarzt verordnete erneut ein
Antibiotikum und schickte
etwas von dem bröckligen
Material ins Hamburger Tro-
peninstitut. Die Spezialisten
sollten das Gewebe auf Erreger
untersuchen. Vor allem inte-
ressierte den Hausarzt, ob die
Frau unter einer sogenannten
Leishmaniose litt. Die auch
als „Orientbeule“ bekannte
Tropenkrankheit führt zu
schmerzhaften Geschwüren an
der Haut und befällt die inne-
ren Organe. Sandmücken über-
tragen die Erreger, sogenannte
Leishmanien. Aber: Die Tro-
penmediziner fanden keinen
Anhalt für diese oder eine an-
dere Infektion. Dank des Anti-
biotikums fühlte sich die Pa-
tientin besser – die Schwellung aber blieb.
Der Hausarzt machte sich Sorgen und
schickte die Patientin zu uns in die Haut-
klinik. Nun saß sie bei mir in der Sprech-
stunde. Die Frau wirkte sehr gepflegt, der
Makel auf der Stirn war ihr äußerst unan-
genehm. Ich betrachtete die Schwellung:
Die Haut war gespannt, und in der Mitte
kein Krebs war, konnte aber auch nicht sa-
gen, was es sonst sein könnte. Die Situa-
tion war sehr unbefriedigend. Die Frau litt,
die Geschwulst wuchs, und ich fand kei-
nen Auslöser. Wir entschieden, dass ich die
Beule öffnen und eine Gewebeprobe aus
der Tiefe entnehmen würde. Mit Pinzette
und Skalpell arbeitete ich mich vor. Etwa
in einem Zentimeter Tiefe stieß ich auf et-
was Hartes. Vielleicht ein Dorn oder ein
Stückchen von einem Ast? Vorsichtig prä-
parierte ich das Etwas frei. Nach einer Wei-
le zog ich ein etwa eineinhalb Zentimeter
langes, weißes Gebilde heraus.
Ich ließ es zur Untersuchung
schicken und verschloss die
Wunde wieder. Das Ergebnis
aus dem Labor: Es war eine Lar-
ve der tropischen Dasselfliege.
Wie hatte sich die Frau infi-
ziert? Die Dasselfliege streift
ihre Eier am Körper von Mos-
kitos ab. Über die Moskitos
können die Eier auf die Haut
eines Menschen gelangen. Ist
die Larve aus dem Ei ge-
schlüpft, gräbt sie sich ins Ge-
webe ein, unter der Haut
wächst sie heran. Der feine
Kanal, den ich gesehen hatte,
dient ihr als Atemloch. In den
Tropen ist es eine gängige The-
rapie, das Loch etwa mit Wachs
zu verstopfen und die Larve zu
ersticken. Ansonsten ist der
Spuk spätestens dann vorbei,
wenn die reife Larve nach acht
bis zehn Wochen ihre Brutstel-
le unter der Haut verlässt.
Die Narbe an der Stirn ver-
heilte schnell und ist heute
kaum noch zu sehen. Die Frau
brauchte einige Monate, um
sich von der Vorstellung zu
erholen, dass unter ihrer Haut
ein Tier herangewachsen war.
In den südamerikanischen Re-
genwald möchte sie dennoch
wieder reisen. Ich riet ihr, sich
mit Tropenhut, langer Kleidung und Mü-
ckenspray vor Moskitos zu schützen. 2
Eine Frau hat eine seltsame Schwellung, die größer
wird. Ist es ein Tumor? Ein Arzt findet
schließlich heraus, was eine Reise damit zu tun hat
Die Beule an der Stirn
54 24.10.2019
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