Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
Jetzt geht es um die Rohstoffe, de-
ren Abbau vor Jahrzehnten noch viel
zu aufwendig und teuer war. Heute
fließen zehn Prozent aller russi-
schen Investitionen in die Region.
Und die Bedeutung der Arktis wer-
de in den kommenden Jahren immer
mehr zunehmen, erklärte Wladimir
Putin. Der größte Teil des Geldes
landet in Projekten auf dem Jamal.
80 Prozent seines Gases fördert Russ-
land heute auf der Halbinsel. Sie ist
ein Motor der Wirtschaft, ein Emi-
rat, umgeben von einer Wüste aus
Eis. Die Gasarbeiter nennen sie:
„Schatzinsel“.
Dazu passt, dass der Durch-
schnittslohn etwa doppelt so hoch
ist wie im übrigen Land – nach einer
Studie vom Juli dieses Jahres ist der
Jamal die reichste Region Russlands.
60 000 Angestellte der großen Ener-
giekonzerne, die meisten arbeiten
bei Gazprom, rücken aus dem gan-
zen Land zu Schichtdiensten an. Mit

Zulagen und speziellen Program-
men werden Ärzte, Lehrer und Sani-
täter hergelockt. Es ist ein neuer
Boom: Geplant sind Häfen, Brücken,
Straßen und Pipelines, aber auch
Kindergärten, Schwimmbäder und
Krankenhäuser.
Der Klimawandel begünstigt die
Entwicklung sogar: Die Nordost-
passage, die von Europa an der sibi-
rischen Küste vorbei bis nach Asien
führt, ist seit 2008 im Sommer für
wenige Monate eisfrei. Die Energie-
konzerne können dann leichter die

notwendigen Ressourcen in die
Arktis transportieren.
Auch die Polarbahn soll erweitert
werden: 170 Kilometer neue Schie-
nen werden das Gasfeld in Bowa-
nenkowo mit der neuen Förderan-
lage in Sabetta an der Ostküste der
Halbinsel verbinden. Beim Bau stört
allerdings der Klimawandel: Kaum
taut es, verwandelt sich der Boden
in Sumpf. Mehrere Schichten aus
Sand, Schotter und Schaumplatten
müssen deshalb für Halt sorgen,
Laster karren Tausende Kubikmeter
Grund heran. Brückenpfeiler ste-
cken 20 Meter tief im Permafrost,
damit sie auch im Juli nicht wackeln.
Wie riesige Kühlschränke halten
Thermostabilisatoren an den Brü-
ckenköpfen zusätzlich die Erde kalt.
16 Milliarden Euro kosteten die 570
Kilometer, die Mironowitsch in sei-
nen Schichten auf und ab fährt.
Abwechslungsreich ist das nicht.
An klaren Tagen verschwimmt das

Weiß der Tundra nahtlos mit dem
Weiß des Himmels. Manchmal zeich-
nen sich in der Ferne die Rentier-
züchter mit ihren Herden ab, manch-
mal keucht ein Lastwagen langsam
über improvisierte Wege aus Eis,
denn Straßen gibt es auf dem Jamal
kaum. Der Sommer dauert zwei Mo-
nate, über dem Moor schwirren dann
die Mücken. Im Herbst scheucht der
Zug die Vogelschwärme auf, oder ein
Rentier verirrt sich auf der Strecke.
Selbst die Bahnhöfe sind in dieser
Gegend eher etwas für Einsiedler.

fährt keine andere Bahn. Nicht jeder


Passagier darf mit: Der Zug, Eigen-


tum des russischen Energiekonzerns


Gazpromtrans, einer Tochterfirma


des Gasriesen, bringt Arbeiter nach


Bowanenkowo, auf eines der größten


Gasfelder Russlands.


V


ermutlich boomt keine an-
dere Region im Land wie die
Halbinsel Jamal, eines der

lebensfeindlichsten Gebiete des Pla-


neten. Russlands Wirtschaft hängt


an den Rohstoffen. Etwa ein Viertel


des weltweiten Gases liegt unter der


gefrorenen Erde, gelangt über Pipe-


lines bis ins deutsche Wohnzimmer.


Fast ein Drittel seines Gases kauft


Deutschland in Russland ein.


„Wir erobern die Arktis zum zwei-

ten Mal“, sagt der Gouverneur des


Jamal, Dmitrij Artjuchow. Die erste


Eroberung begann unter Stalin.


Hunderttausende wurden damals


als Zwangsarbeiter in den Norden


verbannt, der eigentlich immer Hei-


mat der Rentierzüchter war. Sowjets


gründeten Siedlungen, mit Kultur-


häusern und Kindergärten. Später


lockten Lohnzulagen Arbeiter in


die Kälte. Kein anderes Land, das Zu-


gang zur Arktis hat, besiedelte sie so


dicht wie die Sowjetunion.


Schon damals ging es um Boden-

schätze: Das erste Gasfeld auf dem


Jamal erschlossen die Sowjets be-


reits 1964. Auch von einer Eisen-


bahn hinter dem Polarkreis hatte


bereits Stalin geträumt. Tausende


Arbeitssklaven aus dem Gulag


schraubten Anfang der 40er Jahre in


Eiseskälte an den Schienen. Nach sei-


nem Tod wurde der Bau gestoppt.


Ein Zug fuhr nie darauf, die Reste


verwittern heute im Nirgendwo. 4


Mutter Ljubow
verpackt ihren
Sohn bei zweistel-
ligen Minus-
graden in mehrere
Schichten Fell

DIE ERDE BIRGT NOCH MEHR SCHÄTZE:


METALL, DIAMANTEN, ÖL


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