Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.10.2019

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SEITE 2·FREITAG, 25. OKTOBER 2019·NR. 248 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


DieEU muss den Briten Ultimatum stellen
Die liberale tschechische Zeitung „Hospodářské novi-
ny“ schreibt zur Entwicklung beim Brexit:
„Die Briten streiten seit fast dreieinhalb Jahren dar-
über, wie ihr Brexit aussehen soll. Die Geduld verlieren
langsam selbst diejenigen, welche die britische Entschei-
dung, aus der EU auszutreten, am meisten bedauert hat-
ten. Die EU-Staaten sollten London nun mehr Zeit ge-
ben – doch nur unter der Bedingung, dass es wirklich die
letzte Verschiebung ist. Nur mit einer solch klaren Bot-
schaft ist es möglich, auch diejenigen britischen Abge-
ordneten zur Zustimmung zum Austrittsvertrag zu bewe-
gen, die noch von einem neuerlichen Referendum träu-
men. Diese glauben, dass es mit einem klaren Ja für den
Verbleib in der EU ausgehen würde, die politische Krise
in Großbritannien vorüber wäre und sich die verfeinde-
ten Lager versöhnen würden. Doch das ist naiv. Und
auch für die Europäische Union wäre es nicht gut, wenn
ein Land weiter Mitglied bleibt, dessen eine Hälfte der
Bevölkerung sich nichts anderes wünscht, als so schnell
wie möglich auszutreten.“


Ein Bruch zwischen den westlichen Demokratien
Über die weitreichenden Auswirkungen des Brexits
macht sich die italienische Zeitung „Corriere della
Sera“ Gedanken:
„Es ist noch nicht abzusehen, wie der so quälende Ab-
lauf des Brexits enden wird: Es scheint so, dass Premier
Boris Johnson den definitiven Austritt Großbritanniens
zum 31. Oktober nicht erreicht. Man kann aber auf je-
den Fall erkennen, oder sich zumindest vorstellen, dass
der Brexit nicht nur bedeutsame wirtschaftliche Auswir-
kungen haben wird. Er könnte auch Änderungen in den
geopolitischen Gleichgewichten ankündigen. Er könnte
eine Revolution auslösen, den Verfall der transatlanti-
schen Beziehungen beschleunigen und einen noch nicht
erlebten Bruch zwischen einem Block der angelsächsi-
schen Demokratien und Kontinentaleuropa auslösen.
Das Referendum, bei dem sich die Brexit-Partei durch-
setzte, war 2016, kurz vor der von Donald Trump gewon-
nenen amerikanischen Präsidentschaftswahl. Es war
noch die Präsidentschaft Obamas. Aber das Ausfransen
der transatlantischen Beziehungen war schon einige

Zeit im Gange. Wenn auch mit einem anderen Stil als
sein Nachfolger, begann schon Obama, den internationa-
len Einsatz der Vereinigten Staaten neu auszurichten.“

Corbyn muss Neuwahlen herbeiführen
Die „Neue Zürcher Zeitung“ kommentiert das Ringen
um den Brexit so:
„Das Parlament sollte die erneute Verschiebung des
EU-Austritts nutzen, um sich so rasch wie möglich zur
Wahl zu stellen. Dabei stünden sich die zwei großen Par-
teien nun endlich mit deutlich alternativen Konzepten
gegenüber. Das Problem ist, dass auch der Weg zu Neu-
wahlen kompliziert und schwierig ist. Dabei liegt der
Ball aufgrund der institutionellen Voraussetzungen der-
zeit nicht im Feld von Premierminister Johnson, son-
dern von Labour-Chef Jeremy Corbyn. Corbyn muss
Neuwahlen herbeiführen und sich und seine Vision vom
Brexit den Wählern vorlegen. Dass er dabei gegen den
unerschütterlichen Populisten Johnson, dessen Tories
bei Umfragen rund zehn Prozentpunkte vor Labour lie-
gen, eher schlechte Karten hat, ist weder ein legitimes

noch ein erfolgversprechendes Argument, um den Bre-
xit weiter hinauszuzögern.“

Die Migration wirft moralische Fragen auf
Die belgische Zeitung „De Standaard“ kommentiert
den Fund von 39 Leichen in einem Container nahe
London:
„Wie verzweifelt muss jemand sein, um sich in der
Hoffnung, auf diese Weise nach England zu gelangen, in
einen abgedichteten Container einschließen zu lassen?
Wie bestialisch muss jemand sein, um 39 Menschen in ei-
nem luftdichten Kühlwagen einzuschließen, in dem die
Temperaturen auf bis zu 25 Grad unter null sinken kön-
nen? Die Migration wirft eine der größten, wenn nicht
die größte moralische Frage unserer Zeit auf. Wie weit
soll die Gesellschaft die Tore öffnen für Menschen auf
der Flucht vor Krieg, Armut und Klimawandel? Wohl
wissend, dass man nicht alles Leid der Welt tragen
kann. Wie unerbittlich schließt man die Grenzen des
Kontinents, wenn man weiß, dass dadurch Menschen
sterben?“

STIMMEN DER ANDEREN


BERLIN/ERFURT,24. Oktober. Als der
Bundestag am Donnerstag über die Fort-
setzung des Syrien-Einsatzes der Bundes-
wehr diskutierte, fehlte die Verteidigungs-
ministerin. Annegret Kramp-Karrenbau-
er (CDU) hatte schon nach Brüssel zur
Nato-Sitzung reisen müssen, um dort für
ihre Syrien-Initiative zu werben. Dabei
hätte sie im Plenum einen innen- und au-
ßenpolitischen Erfolg feiern können.
Denn nicht ohne politisches Risiko hat-
te sie sich gleich nach Amtsübernahme
dafür eingesetzt, dass deutsche Tornado-
Aufklärer, zwei Flugzeuge jeweils, entge-
gen früherer Ankündigung doch in Jorda-
nien stationiert bleiben sollten. Sie sollen
dort für die Allianz Luftbilder für die Be-
kämpfung des „Islamischen Staats“ (IS)
liefern. Auch für die Fortsetzung der Irak-
Ausbildungsmission in Bagdad und dem
kurdischen Arbil warb sie seitdem.
Geduldig hatte sie bei einer Reise nach
Bagdad, Arbil und Amman die mitreisen-
den SPD-Abgeordneten überzeugt,
schließlich sogar den skeptischen SPD-
Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich,
der ihr zuvor noch ziemlich klar seine Ver-
sion von „Isch over“ übermittelt hatte.
Am Ende ließ er sich überzeugen, und die
Koalition von Union und SPD stimmte ge-
schlossen für die Fortsetzung der Aus-


landsmissionen. Allerdings mit einer we-
sentlichen, von der SPD bewirkten Ein-
schränkung, nämlich der Aufforderung,
den Einsatz in fünf Monaten dann doch
zu beenden. Zwei Flugzeuge, bewaffnet
mit Fotoapparaten für die Dauer von
höchstens fünf Monaten: So weit reicht
das maximale Entgegenkommen der
SPD-Außenpolitiker für ein deutsches En-
gagement in oder über Syrien. Die Bun-
destagsdebatte wäre eine gute Gelegen-
heit gewesen, auch inhaltlich über die
Schutzzonen-Idee der Verteidigungsmi-
nisterin zu reden. Das unterblieb aber
weitgehend. Die FDP warf Kramp-Kar-
renbauer vor, „offensichtlich schwere-
los“, also losgelöst vom Boden der Reali-
tät, zu agieren. Die Linke verlangte den
Abzug aus der Region, die Grünen hiel-
ten es wie die FDP für falsch, die Irak-Mis-
sion ohne Nato-Dach fortzusetzen. Der
Grünen-Politiker Tobias Lindner warf
Kramp-Karrenbauer vor, sie laviere und
habe noch nicht einmal ihr eigenes Minis-
terium über den Vorstoß informiert.
Außenminister Heiko Maas (SPD) wie-
derholte vor dem Plenum seine Protokoll-
Vorwürfe gegen die Kollegin nicht noch
einmal. Sie hatte ihn nur per SMS infor-
miert, das war für ihn ärgerlich. Jedoch
sprach Maas von nichts anderem, indem

er das filigrane Werk der Diplomatie, der
UN-Resolutionen und seiner eigenen Rei-
sediplomatie präsentierte. Für die Verlän-
gerung der Mandate war Maas allemal.
Kramp-Karrenbauer hatte in jüngster
Zeit im Zusammenhang mit dem Syrien-
Konflikt mehrfach scharfe Formulierun-
gen gewählt. Auf dem CSU-Parteitag in
München hatte sie am vorigen Samstag
die Verlässlichkeit des militärisch wich-
tigsten internationalen Partners Deutsch-
lands grundsätzlich in Zweifel gezogen.
Dass die amerikanische Regierung die
Kurden, die für sie die radikalislamische
IS-Miliz bekämpft hätten, fallenlasse, sei
ein „auf lange Frist verheerendes Signal“.
Dadurch entstehe eine „wirkliche Frage
in die Verlässlichkeit unseres stärksten
Bündnispartners weltweit“. Schon wäh-
rend des Parteitreffens in München hatte
sie das Vorgehen der Türkei in Nordsy-
rien mit der Annexion der ukrainischen
Halbinsel Krim durch Russland in Bezie-
hung gesetzt.
Damals schlug das noch keine hohen
Wellen. Anders am Mittwoch, als sie der
Türkei direkt eine Annexion vorwarf. Bei
einem Besuch der Bundeswehr in Erfurt
hatte die Verteidigungsministerin gesagt,
es sei eine „Tatsache, dass ein Land, dass
die Türkei, unser Nato-Partner – berech-

tigte Interessen hin oder her – völker-
rechtswidrig Gebiet annektiert hat, dass
Menschen dort vertrieben werden“. Der
FDP-Außenpolitiker Alexander Graf
Lambsdorff warf ihr vor, sie verbreite fal-
sche Informationen. Dem RBB sagte er,
„natürlich“ sei die Militäroperation Anka-
ras völkerrechtswidrig. „Aber es ist eine
Militäroperation, es ist nicht eine dauer-
hafte Besatzung, und es ist schon gar
nicht eine Annexion, also die Eingliede-
rung von nordsyrischem Gebiet in das
Staatsgebiet der Türkei.“ Lambsdorff
warf der Verteidigungsministerin Inkom-
petenz vor.
Unmittelbar nach ihrem Truppenbe-
such trat die CDU-Vorsitzende auf einer
Wahlkampfveranstaltung ihrer Partei in
Erfurt auf; in Thüringen wird am Sonn-
tag der Landtag gewählt. Sie verteidigte
ihren Vorschlag, sich an einer internatio-
nalen Schutzzone in Nordsyrien zu beteili-
gen. Wieder griff sie Russland und die
Türkei scharf an. Manche, so äußerte die
Ministerin, sagten nach der Einigung
Moskaus und Ankaras auf eine Schutzzo-
ne, nun müsse sich Deutschland nicht
mehr engagieren. Dann fügte sie mit
Blick auf die beiden Länder an: „Das sind
genau die zwei, die dafür gesorgt haben,
dass die Menschen auf der Flucht sind.“

BRÜSSEL, 24. Oktober


A


ufder ersten Tagesordnung für das
Herbsttreffen der Nato-Verteidi-
gungsminister kam Syrien nicht
vor. Doch als sie sich am Donnerstag im
Hauptquartier der Allianz trafen, drehten
sich fast alle Gespräche und Beratungen
um die neue Lage im Norden des Landes.
Generalsekretär Stoltenberg räumte die
erste Arbeitssitzung am Nachmittag dafür
frei; eigentlich hatte man über sämtliche
laufenden Einsätze reden wollen. Jetzt
ging es um den einen Einsatz, der womög-
lich zuerst auf die Allianz zukommt. Die
deutsche Verteidigungsministerin Anne-
gret Kramp-Karrenbauer (CDU) wollte ih-
ren Kollegen darlegen, was sie mit ihrer
„international geführten“ Initiative im
Sinn hat, die „idealerweise“ von den Ver-
einten Nationen mandatiert werden soll.
Eine Mission mit einigen Nato-Partnern
oder mit dem Rückhalt der gesamten Alli-
anz? Wie viele Truppen? Welche Rolle
würde Deutschland übernehmen?
Der Erste, der sich am Donnerstag öf-
fentlich dazu äußerte, war Mark Esper,
der amerikanische Verteidigungsminister,
seit Juli im Amt. Es sei doch gut, wenn
„diese Länder“ – er meinte die Europäer –
„herauskommen und helfen, die Sicher-
heit in jenem Teil der Welt zu verbessern“,
sagte Esper am Morgen bei einer Veran-
staltung des German Marshall Fund.
Dazu hätten die Amerikaner sie ja schon
vor einiger Zeit aufgefordert. Allerdings
wollte Esper das nur als „politische Unter-
stützung“ verstanden wissen. „Wir haben
nicht vor, Bodentruppen oder irgendwas
sonst (anything) zu dem Einsatz beizutra-
gen“, stellte er sogleich klar. Das dürfte
Kramp-Karrenbauer, die zu dieser Zeit im
Anflug auf Brüssel war, nicht gerne ge-
hört haben: Einen Einsatz ganz ohne ame-
rikanische Unterstützung kann sich näm-
lich kein Fachmann mit militärischem
Sachverstand vorstellen.
Noch etwas ließ bei Espers Auftritt hell-
hörig werden: seine Darstellung, wie es
Anfang des Monats zum überraschenden
Rückzug der Vereinigten Staaten aus der
Grenzregion zur Türkei gekommen war.
Seinerzeit hatte Präsident Trump dem tür-
kischen Präsidenten Erdogan in einem Te-
lefonat freie Hand gegeben für einen be-


grenzten Vorstoß. Nach Espers Darstel-
lung erschien es allerdings fraglich, ob Er-
dogan sich überhaupt hätte stoppen las-
sen. „Die Entscheidung, weniger als fünf-
zig unserer Soldaten aus der Angriffszone
zurückzuziehen, wurde getroffen, nach-
dem uns klar war, dass Erdogan entschie-
den hatte, die Grenze zu überqueren“, be-
richtete der Minister. Die Soldaten wären
unweigerlich zwischen die Fronten gera-
ten. Er habe auch keine Kampfflugzeuge
aufsteigen lassen, um den Türken zu dro-
hen, denn dann „würden wir heute eine
andere Diskussion über den Zustand unse-
rer Allianz führen“. Es klang so, als seien
Amerikaner und Türken kurz davor gewe-
sen, einander in Gefechte zu verwickeln.
Das könnte erklären, warum die ameri-
kanische Regierung keine Rolle in einer
künftigen Schutzmission übernehmen
will. Auch Nato-Generalsekretär Stolten-
berg zeigte sich zurückhaltend. Es sei ja
positiv, wenn Verbündete Vorschläge für
eine dauerhafte politische Lösung hätten,
sagte der Norweger mittags vor Kameras.
Doch habe es keine Forderungen nach ei-
ner Nato-Mission im Nordosten Syriens
gegeben. Im Hauptquartier der Allianz
war zu hören, dass Stoltenberg erst am
Dienstagabend telefonisch von Kramp-
Karrenbauer ins Bild gesetzt worden war.

Es gebe bei der Allianz keinerlei vorberei-
tende Planungen für einen solchen Ein-
satz. Man warte vielmehr auf die Erläute-
rungen der deutschen Ministerin.
Nur frühere hohe Generale waren am
Donnerstag bereit, öffentlich über die mili-
tärischen Herausforderungen einer
Schutzmission zu sprechen. Grundsätz-
lich lobten sie Kramp-Karrenbauers Initia-
tive. Harald Kujat, bis 2005 Vorsitzender
des Nato-Militärausschusses, schlug im
Deutschlandfunk vor, die schnelle Ein-
greiftruppe der Nato mit der Sicherung ei-
ner Schutzzone an der türkischen Grenze
zu betrauen. „Das wären in einer Größen-
ordnung überwiegend von Infanterie etwa
20 000 Mann und die entsprechende Auf-
klärungsunterstützung, die man für solche
Zwecke braucht, Luftunterstützung“, sag-
te Kujat. Diese Truppe wäre schnell ver-
fügbar, die Staaten müssten nicht zusätzli-
che Kontingente zusammenkratzen. Der-
zeit wird ihre Speerspitze sogar von
Deutschland geführt.
Doch gibt es einen starken Einwand:
„Die Response Force ist der Kern unserer
Abschreckung gegenüber Russland an der
östlichen Flanke“, sagte Horst-Heinrich
Brauss dieser Zeitung, bis 2018 oberster
Verteidigungsplaner der Allianz. Schwer
vorstellbar, dass die östlichen Alliierten

zustimmen würden, sie auf Jahre hin in ei-
nem Einsatz in Syrien zu binden. Brauss
warnte außerdem davor, Putin in Syrien
zum gleichberechtigten Partner aufzuwer-
ten und Russlands Militäreinsatz auf Sei-
ten des Assad-Regimes zu legitimieren.
Das wäre der Fall, wenn westliche Solda-
ten und russische Kräfte gemeinsam in
der Grenzzone patrouillierten.
Manche Fachleute halten es deshalb für
ratsam, einen Einsatz auf den Streifen von
120 Kilometern zu begrenzen, den die Tür-
ken schon kontrollieren. In diesem Be-
reich könnten Deutschland, Frankreich
und das Vereinigte Königreich die Füh-
rung übernehmen, in Kooperation mit
dem Nato-Partner Türkei. Um die Bevölke-
rung wirklich zu schützen, wären vier In-
fanterie-Brigaden notwendig, mindestens
20 000 Mann. Die Amerikaner müssten
dann wohl eine Flugsicherheitszone ge-
währleisten, außerdem aufklären und
beim Transport helfen. Die Allianz müss-
te sich nach diesem Modell nur mit russi-
schen Truppen koordinieren, die gemäß
der Vereinbarung von Sotschi den Korri-
dor westlich und östlich der türkischen
Zone kontrollieren sollen. Allerdings
könnten die Russen den Vorschlag auch
schnell erledigen: mit einem Veto im UN-
Sicherheitsrat.

Eine schwierige Operation


Kritik an Kramp-Karrenbauer reißt nicht ab / Von Peter Carstens und Eckart Lohse


In schwieriger Mission:Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrem belgischen Amtskollegen, Didier Reyn-
ders, und der französischen Verteidigungsministerin Florence Parly Foto EPA

BERLIN, 24. Oktober. Es war Zufall,
dass just an dem Tag, an dem die Bundes-
polizei in vier Bundesländern Wohnungen
von Mitgliedern eines libanesischen Fami-
lienclans durchsuchte, Innenpolitiker und
Fachleute bei den Sicherheitsbehörden in
Berlin zusammenkamen, um über Strate-
gien zur Bekämpfung krimineller Clans zu
beraten. Doch die Wahrscheinlichkeit,
dass die Fachkonferenz mit einem Polizei-
einsatz zusammentreffen würde, war auch
nicht gerade gering. Nachdem das Pro-
blem lange Zeit unterschätzt wurde, gibt
es mittlerweile große politische und me-
diale Aufmerksamkeit für die Großfamili-
en mit arabischen, türkischen oder west-
balkanischen Wurzeln, die sich abschot-
ten und ihre Verachtung für die deutsche
Wertordnung zeigen. Allein in Berlin war
die Tagung, zu der Innensenator Andreas
Geisel (SPD) eingeladen hatte, die zweite
Veranstaltung zu diesem Thema innerhalb
einer Woche. Am Dienstag hatte sich die
Unionsfraktion im Bundestag in einem
Fachgespräch schon mit Organisierter Kri-
minalität befasst und dabei auch über das
Clan-Milieu diskutiert. Leiter der Landes-
kriminalämter können berichten, dass die
Polizei den kriminellen Familien nahezu
jeden Tag irgendeinen Schlag versetzt. Die
meisten sind freilich nicht so groß wie der
Schlag der Bundespolizei, die 364 Beamte
losschickte, um gegen einen Clan vorzuge-
hen, dem illegale Schleusungen von syri-
schen Flüchtlingen nach Deutschland und
in die Niederlande im großen Stil vorge-
worfen werden.
Der Kampf gegen die kriminellen
Clan-Strukturen brauche einen „langen
Atem“, sagte Innensenator Geisel. Dass
die Sicherheitsbehörden genauer hin-
schauen, bedeutet nicht, dass sich das Pro-
blem auflöst, aber sie sehen zunächst ein-
mal mehr. Für das vergangene Jahr hat
das Bundeskriminalamt erstmals ein bun-
desweites Lagebild zur Clan-Kriminalität
erstellt. Besonders betroffen sind dem-
nach die Bundesländer Nordrhein-Westfa-
len, Bremen, Berlin und Niedersachsen.
Der Präsident des Bundeskriminalamts,
Holger Münch, berichtete, dass insgesamt
45 Verfahren wegen Organisierter Krimi-
nalität im Clan-Milieu geführt worden sei-
en, das entspreche etwa acht Prozent aller
Verfahren im Bereich der Organisierten
Kriminalität. Der Schaden beläuft sich
demnach auf 17 Millionen Euro. Der Ber-
liner Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra be-
schrieb, dass auf den Straßen der Haupt-
stadt nach wie vor „dreiste Taten vor lau-
fender Kamera“ begangen würden. Clan-
Mitglieder vermittelten die Aura, dass der
Staat nichts tun könne.
Für die Ermittler ist die Clan-Kriminali-
tät in verschiedener Hinsicht eine Heraus-
forderung. Nach dem deutschen Straf-
recht müssen sich die Strafverfolger auf
die Personen konzentrieren, denen eine
Tat vorgeworfen wird. Ganze Familien dür-
fen nicht unter Generalverdacht gestellt
werden. Doch der Leiter des Landeskrimi-

nalamts in Bremen, Daniel Heinke, wies
auf das Problem hin, dass Familienangehö-
rige die Taten ihrer Verwandten zum Teil
beförderten, ohne aber Beteiligte im straf-
rechtlichen Sinne zu sein. Der Bremer Er-
mittler sprach von einem „stillen Drohpo-
tential“. Auf einem Schulhof habe ein
Schüler den Nachnamen seiner Familie ge-
nannt und von einem Mitschüler darauf-
hin zehn Euro verlangt, erzählt Heinke.
Für die Strafverfolger stelle sich da die Fra-
ge: Ist allein die Nennung des Namens ei-
ner Clan-Familie die Drohung mit einem
empfindlichen Übel, was die Geldforde-
rung zu einer Erpressung macht?
Auch die Aufklärung der Straftaten
von Clan-Mitgliedern birgt besondere Pro-
bleme. Die klassischen Ermittlungsme-
thoden griffen hier häufig nicht, erläuter-
te Staatsanwalt Kamstra. Den Clans gelin-
ge es aufgrund ihrer finanziellen Potenz
und ihres Drohpotentials, Zeugen zu ma-
nipulieren. Viele „flüchten sich in die Am-
nesie“. Kamstra hält es daher für wichtig,
Zeugen sofort durch einen Richter verneh-
men zu lassen. Besser müssten die Behör-
den auch bei der Auswertung von Daten-
trägern und DNA-Proben werden. Wenn
ein Clan die Zeugen zum Schweigen ge-
bracht habe, seien die „objektiven Beweis-
mittel“ der einzige Weg, die Täter zu über-
führen. Kamstra beklagte, dass er mitun-
ter „Monate, manchmal sogar Jahre“ auf
die Ergebnisse der Untersuchungen war-
ten müsse, weil die personellen Ressour-
cen fehlten.
Der Fund großer Geldsummen kann
ein Hinweis auf eine Straftat sein, vor al-
lem wenn der Besitzer keiner Beschäfti-
gung nachgeht. Doch der Fund allein
bringt die Ermittler nicht weiter, sie müs-
sen nachweisen, dass das Geld aus einer
schweren rechtswidrigen Tat „herrührt“,
bevor sie es einziehen können. Die Re-
geln über die Vermögenseinziehung wur-
denvor zwei Jahren erst verschärft. Bei
der Konferenz der Unionsfraktion am
Dienstag wies Oberstaatsanwältin Wieb-
ke Reitemeier darauf hin, dass die Hürden
immer noch hoch seien, und forderte, dass
der Katalog der Vortaten erweitert werde.
Auch ihrem Berliner Kollegen Kamstra
geht die Reform nicht weit genug. Er
sprach sich dafür aus, dass der Besitzer
des Geldes die Beweislast tragen solle,
dass es rechtmäßig erworben sei, nicht die
Ermittler, dass es aus einer Straftat stam-
me. Umstritten ist, inwieweit dies mit der
Eigentumsgarantie des Grundgesetzes ver-
einbar ist.
Doch manches hat sich auch schon ver-
bessert. Der Neuköllner Bezirksbürger-
meister Martin Hikel (SPD) präsentierte
seinen „Nadelstich“-Ansatz als Erfolgs-
modell: Bei jeder sich bietenden Gelegen-
heit führten die Polizei oder andere Be-
hörden Kontrollen durch – von den hygie-
nischen Standards in Lokalen bis zu den
Gästen auf einer arabisch-libanesischen
Hochzeit. „Nadelstiche nerven vielleicht
nur, aber in der Summe, das tut weh“, so
Hikel. (bub./sha.)

job.LONDON, 24. Oktober. Einen Tag
nachdem 39 Tote in einem Lastwagenan-
hänger in der Stadt Grays in der südengli-
schen Grafschaft Essex aufgefunden wur-
den, hat die örtliche Polizei mitgeteilt,
dass die Opfer chinesische Staatsbürger
waren. 31 der vermutlich erfrorenen Op-
fer sind Männer, acht sind Frauen. Der ur-
sprüngliche Verdacht, dass eines der Op-
fer minderjährig war, wurde am Donners-
tag nicht bestätigt. Eine internationale
Untersuchung hat begonnen, für die Be-
hörden im Vereinigten Königreich, in Chi-
na, Belgien und Bulgarien zusammenar-
beiten. Die Polizei in Essex sprach von
der größten Morduntersuchung in ihrer
Geschichte und versicherte, den Dingen
auf den Grund zu gehen.
Der Kühlcontainer, in dem die Opfer ge-
funden wurden, war am Dienstag im belgi-
schen Hafen Zeebrugge auf ein Schiff ver-
laden worden und kam zehn Stunden spä-
ter, kurz nach Mitternacht, in den Purfleet
Docks an, eine Autostunde östlich von
London. Kurz darauf wurde der Container
von einem Lastwagenfahrer aus Nordir-
land in das nahe gelegene Industriegebiet
in Grays gefahren. Dort wurden die Lei-
chen entdeckt, nachdem ein Notruf einge-
gangen war. Ob der Notruf vom Fahrer
selbst getätigt wurde, wie die „Daily Mail“
am Donnerstag berichtete, wurde bislang

von der Polizei nicht bestätigt. Der Fahrer
wurde unter Mordverdacht festgenommen
und wird seither verhört.
Laut Medienberichten hatte der Fah-
rer seinen Wohnort in Nordirland, nahe
der Grenze zur Irischen Republik, am
Samstagmorgen verlassen, um die Fracht
in Südengland entgegenzunehmen. Er
setzte mit der Fähre von Dublin nach Hol-
lyhead in Wales über und fuhr von dort
weiter nach Essex. Es handelt sich um ei-
nen 25 Jahre alten Mann, der laut Nach-
barn aus „der nettesten Familie“ stammt.
Das Haus des Fahrers, das seiner Eltern
und ein weiteres in der Umgebung sind
von der Polizei durchsucht worden.
Medienberichten zufolge hat der Fahrer
für eine Spedition gearbeitet, bis er sich
im vergangenen Jahr selbständig machte.
Der Sattelschlepper, mit dem er nach
Großbritannien fuhr, sei im Jahr 2017 im
bulgarischen Varna im Namen einer Fir-
ma angemeldet worden, die auf einen iri-
schen Eigentümer eingetragen ist, teilten
die bulgarischen Behörden mit. Zeitungen
berichteten, dass die britischen Behörden
einen international arbeitenden Men-
schenschmugglerring im Verdacht haben.
Bislang ist unklar, ob die Chinesen erst im
Hafen in Zeebrugge in den Container ver-
laden wurden oder schon vorher. Bis zur
Identifikation der Opfer könnten noch
Wochen vergehen, hieß es in Kreisen, die
mit den Ermittlungen vertraut sind.
In der Nähe des Fundorts wurden am
Donnerstag Gedenkgottesdienste abgehal-
ten. Mehrere Menschen legten Blumen
nieder. Im Landratsamt wurde ein Kondo-
lenzbuch ausgelegt. Vor dem britischen In-
nenministerium war für den Abend eine
Mahnwache angekündigt, mit der für „so-
fortige Maßnahmen für sichere Fluchtwe-
ge“ geworben werden sollte. Ein Sprecher
der nationalen Polizeieinheit zur Verhin-
derung von moderner Sklaverei und Men-
schenhandel sagte am Donnerstag, dass in
den vergangenen Jahren Tausende Men-
schenleben hätten gerettet werden kön-
nen. Tragischerweise sei dies im Fall der
39 Chinesen nicht gelungen. Der Fall hat
Erinnerungen an den Juni 2000 geweckt,
als im Hafen von Dover 58 chinesische Mi-
granten tot in einem Lastwagenanhänger
gefunden wurden. Sie waren erstickt.
Auch damals war der Container aus Zee-
brugge verschifft worden. Täglich verlas-
sen etwa 4000 Container den belgischen
Hafen in Richtung Großbritannien.

Viele kleine Nadelstiche


tun in der Summe weh


Welche Strategien helfen im Kampf gegen die Clans?


Tote im Lastwagen sind Chinesen


Behörden haben Menschenschmugglerring im Verdacht


In Erwartung einiger Erläuterungen


Auch die Nato reagiert


aufden Vorstoß


Kramp-Karrenbauers


zurückhaltend. Von


einem militärischen


Einsatz will


ausgerechnet Amerika


nichts wissen.


Von Thomas Gutschker

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