Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.10.2019

(avery) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Finanzen FREITAG, 25. OKTOBER 2019·NR. 248·SEITE 27


rit. ZÜRICH, 24. Oktober. In Finanzdin-
gen ist die Schweiz immer für den ein
oder anderen Rekord gut. In keinem
Land der Erde sind die Menschen reicher
als in der Eidgenossenschaft, wie die Cre-
dit Suisse jüngst wieder in einer Studie
bestätigt hat. Trotz der Abschaffung des
Bankgeheimnisses ist die Schweiz mit ei-
nem Marktanteil von fast einem Viertel
immer noch der größte Offshore-Finanz-
platz. Passend dazu hat auch der größte
Privatvermögensverwalter der Welt, die
UBS, seinen Sitz in der Eidgenossen-
schaft. Es gibt allerdings auch einen Spit-
zenplatz, auf den die Schweizer nur allzu
gerne verzichten würden: die rekordtie-
fen Leitzinsen. Seit Anfang 2015 liegen
diese bei minus 0,75 Prozent.
Mit diesen Strafzinsen auf Girogutha-
ben, die Banken bei der Schweizerischen
Nationalbank (SNB) parken, sowie milli-
ardenschweren Devisenkäufen stemmt
sich die SNB gegen die Überbewertung
des Frankens. Dies geschieht zum Wohle
der wichtigen Exportwirtschaft, schlägt
auf der anderen Seite aber den Banken
aufs Gemüt und, noch schlimmer, auf die
Ertragsrechnung: In diesem Jahr werden
die Schweizer Finanzhäuser in Summe
wohl Strafzinsen von rund zwei Milliar-
den Franken an die SNB überweisen.
Das tut weh. Daher begehren die Banken
jetzt auf. In einer am Donnerstag veröf-
fentlichten Studie warnt die Schweizeri-
sche Bankiervereinigung (SBVg) ein-
dringlich vor den volkswirtschaftlichen
Risiken und Nebenwirkungen der Nega-
tivzinsen für die Schweiz.
Die Lobbyisten bestreiten nicht, dass
die Einführung der Strafzinsen seiner-
zeit berechtigt gewesen ist: Dadurch sei
die Schweizer Wirtschaft vor Schaden be-
wahrt worden, sagte August Benz, der Vi-
zechef des Verbands, in einer Telefonkon-
ferenz mit Journalisten. Aber inzwischen
erfüllten die Negativzinsen nicht mehr ih-
ren wirtschaftspolitischen Zweck; sie hät-
ten ihre Wirkung verloren. Die Preise sei-
en stabil, der Franken nicht mehr überbe-
wertet (sondern nur noch hoch bewer-
tet), und die exportorientierte Wirt-
schaft habe sich vom „Frankenschock“ er-
holt, also von der schlagartigen Aufwer-
tung des Frankens nach der Aufhebung
des Mindestkurses. Zugleich zeigten sich
aber gravierende Kollateralschäden.
„Sparer werden für Kontoguthaben be-
straft“, monierte Benz, während der An-
reiz, sich zu verschulden, stark erhöht
worden sei. Die Schweizer Pensionskas-
sen machten sich große Sorgen, ob sie
ihre Rentenversprechen in der Zukunft
noch einlösen könnten.
Der Bankenverband warnt vor der Ge-
fahr einer Blasenbildung im Immobilien-
sektor. Der Anlagenotstand, der sich aus
der kümmerlichen Rendite von festver-
zinslichen Anlagen ergebe, habe die rea-
len Preise von Immobilien in der
Schweiz inzwischen auf Höchststände ge-
trieben. Zugleich sei der Leerstand deut-
lich gestiegen. „Die Negativzinsen haben
zu einer Fehlallokation in der Wirtschaft


geführt und das Risiko von Abschreibun-
gen auf leerstehende Objekte erhöht“,
heißt es in der Studie des Bankenver-
bands, der mit dieser Warnung nicht al-
lein ist. Auch die Schweizer Notenbank
ist besorgt über die Ungleichgewichte
auf dem heimischen Immobilienmarkt
und wies jüngst auf „die Gefahr einer
Korrektur“ hin. Dabei bezog sich die
SNB vor allem auf den Mietwohnungs-
markt (sogenannte Rendite-Liegenschaf-
ten), wo die Leerstände auch aufgrund
der von Kapitalanlegern befeuerten Neu-
bautätigkeit besonders hoch sind.
Was die direkten Auswirkungen der
Negativzinsen betrifft, tragen die Ban-

ken die Hauptlast. Die Strafzinsen schmä-
lern deren Zinsmargen, weil sich die al-
lermeisten Finanzhäuser nicht trauen,
die Belastung an die Sparer weiterzulei-
ten. Sie fürchten, dass es sonst zu einem
Exodus der Kunden käme, und drehen
lieber möglichst verdeckt an der Gebüh-
renschraube. Die UBS zum Beispiel be-
kräftigte jüngst, dass man entgegen an-
derslautender Spekulationen von Klein-
sparern weiterhin keine Negativzinsen
verlangen werde. Wer als Privatkunde al-
lerdings Barbestände von mehr als 2 Mil-
lionen Franken hat, muss von November
an 0,75 Prozent Strafzinsen berappen.
Euro-Guthaben belastet die UBS fortan

ab einer Schwelle von 500 000 Euro in
bar mit 0,6 Prozent.
Die Finanzlast der Banken aus den Ne-
gativzinsen wird im nächsten Jahr aber
wieder deutlich kleiner, weil die SNB die
Freibeträge erhöht. Dadurch dürften sich
die Strafzinszahlungen an die Notenbank
insgesamt auf rund eine Milliarde Fran-
ken halbieren, schätzt der Bankenver-
band. Dies ändere aber nichts an den ge-
samtwirtschaftlichen Risiken, die von
den Negativzinsen ausgingen. Der Chef-
ökonom der Bankiervereinigung, Martin
Hess, verglich sie mit einem Notfallmedi-
kament, das kurzfristig einen großen
Nutzen haben könne. „Langfristig verlie-
ren sie jedoch an Wirkung, während die
Nebenwirkungen immer größer wer-
den.“ Auf diese Diagnose ließ Hess aller-
dings keinen Therapievorschlag folgen.
Man müsse „den Ausstieg aus dem Kri-
senmodus“ finden, hieß es vage.
Plädieren die Schweizer Banken also
dafür, die Negativzinsen abzuschaffen,
noch bevor die EZB einen Schritt in die-
se Richtung unternimmt? Was würde
dies für den Wechselkurs von Franken zu
Euro bedeuten? Diese Fragen wollte die
Verbandsspitze nicht beantworten. Sie
duckte sich weg mit der Bemerkung, dass
man der Nationalbank keine Ratschläge
geben wolle und deren Unabhängigkeit
respektiere. Im Fazit der Studie heißt es,
dass aus der Eurozone und Amerika
kaum geldpolitische Umkehrsignale kä-
men. „Der Druck auf die SNB zur Weiter-
führung der Negativzinspolitik dürfte
also bestehen bleiben.“

„Negativzinsen haben immer mehr Nebenwirkungen“


BAD HOMBURG, 24. Oktober. Dass in
der Schweiz vieles anders ist als hierzu-
lande, meinen wir zu wissen. Stichworte
dafür sind: allgemeines Frauenwahlrecht
erst seit 1990; Militärpflichtige nehmen
ihre Waffe mit nach Hause; Bürgerversi-
cherung; weit größere Mitbestimmungs-
rechte der Bürger; höheres Einkommens-
niveau; Pünktlichkeit der Schweizeri-
schen Bundesbahnen und so weiter. Dass
sich die Dinge nicht immer ganz so ein-
fach darstellen und oft etwas differenzier-
ter betrachtet werden sollten, lässt sich
gut am letztgenannten Punkt festma-
chen. Die Pünktlichkeit der SBB ist bei
uns ja mittlerweile legendär und wird un-
serer Bahn als leuchtendes Beispiel vor-
gehalten. Dabei wird nur allzu gern ver-
gessen, dass es – gottgegeben – viel leich-
ter ist, ein relativ überschaubares Stre-
ckennetz in Schuss zu halten und für die
Pünktlichkeit der Züge zu sorgen als ein
sehr großes mit vielen Knotenpunkten.
Schließlich wächst die Komplexität und
damit die Beherrschbarkeit eines vernetz-
ten Systems nicht linear, sondern expo-
nentiell an.
In einem Punkt ist in der Schweiz aber
wirklich alles ohne irgendwelche Ein-
schränkungen anders: Der schweizeri-
sche Aktienindex SMI (Swiss Market In-
dex) hat schon im zurückliegenden Früh-
ling ein neues Allzeithoch erzielt. Eine
Entwicklung, von dem unser Dax nur
träumen kann. Zwar fehlen ihm nur
noch etwa 700 Punkte oder rund 5 Pro-
zent bis zu seinen Bestmarken: Er hat
sich damit zweifelsohne besser entwi-
ckelt, als man dies in meinen Augen er-
warten durfte. Aber erstens notiert der
SMI schon rund 5 Prozent über seinen
früheren Bestmarken, und zweitens wird
man, um einen Vergleich zwischen Äp-
feln und Birnen zu vermeiden, den Kurs-
index SMI fairerweise mit dem Kurs-Dax


vergleichen müssen. Und dann liegen
fast 15 Prozent zwischen den beiden.
Was ist von dieser Entwicklung zu hal-
ten? Zum einen ist relative Stärke immer
gut. Wenn sich ein Index in einem mittel-
fristigen Kontext besser als ein anderer
entwickelt, wird damit auch die – relati-
ve – Vertrauensfrage beantwortet. Und
ohne Vertrauen geht auch an den Finanz-
märkten wenig. Zum anderen sind neue
Allzeithochstände immer ein ganz klares
Signal an alle Pessimisten. In wenigstens
7 von 10 Fällen kommen dann schwere
Zeiten auf sie zu. Was aber darüber hin-
aus die Situation beim SMI so einzigartig
macht, sind die Jahre 2007, 2015 und


  1. Schon damals drang der Index in
    Bereiche zwischen 9500 und 9600 Punk-
    ten vor, scheiterte aber jeweils an diesem
    Niveau. Dass ihm nun der Ausbruch über
    diese Zone maximalen Widerstands ge-
    lungen ist, kann analytisch kaum unter-
    schätzt werden.


Wann immer es einem Chart gelingt,
die rund um eine solche Zone aufkom-
mende, extreme Abgabebereitschaft ab-
zuarbeiten, muss dies als außergewöhn-
lich gutes Aufbruchssignal gewertet wer-
den. Ja selbst wenn der Ausbruch über
den Bereich von 9500 bis 9600 Punkten
nicht mit neuen Höchstständen verbun-
den gewesen wäre, würde sich alles ande-
re als eine zuversichtliche Einschätzung
kaum rechtfertigen lassen.
Nach dieser Vorrede wird die folgende
Prognose kaum noch überraschen: Der
SMI wird seinen Kursanstieg fortsetzen.
Weitere 10 Prozent sollten ab jetzt in den
nächsten zwölf bis achtzehn Monaten
schon drin sein. Wie immer dürfte sich
diese Entwicklung nicht auf einen Schlag
vollziehen. Vielmehr wird sie wohl auch
weiter, wie seit dem Sommer, von kleine-
ren und größeren Konsolidierungen un-
terbrochen werden. Die Hauptrichtung
werden sie aber kaum gefährden kön-

nen. Dennoch ist mir der folgende Hin-
weis besonders wichtig: Sollte der SMI
entgegen aller Wahrscheinlichkeit wie-
der gut sichtbar unter die nun zu einer ab-
solut erstklassigen Unterstützung mutier-
ten Zone zwischen rund 9500 und 9600
Punkte zurückfallen, wäre dies ein Kri-
sensignal allererster Güte. Der Aufwärts-
trend des letzten Jahrzehnts dürfte dann
kaum mehr Bestand haben, und selbst
der Unterstützungsbereich zwischen
rund 8200 und 8300 Punkte würde wohl,
nicht nur im schlimmsten Fall, in Gefahr
geraten.
Zum Problem könnte der Schweizer
Franken werden. Zwar sind in der näch-
sten Zeit erst einmal keine allzu großen
Veränderungen zu erwarten. Aber ob
sich der Abwärtstrend des Euro fortset-
zen und einem SMI-Investor hierzulande
weitere Währungsgewinne bescheren
wird, muss in Zweifel gezogen werden.
Technisch gewinnt der Euros gerade flä-
chendeckend an Boden – auch gegen-
über dem Schweizer Franken. So erstaun-
lich es auch sein mag: Es ist alles andere
als ausgemacht, dass das zeitlich be-
grenzt ist.
Eine über lange Zeit an fast allen Fron-
ten aus technischer Sicht kritische Situati-
on scheint sich bemerkenswerterweise
gerade dauerhaft zum Guten zu wenden.
Meine skeptische Grundhaltung könnte
unberechtigt gewesen sein. Aber genau
deshalb werde ich mich an meinen hier
des Öfteren veröffentlichen Worten mes-
sen lassen müssen: lieber eine Fehlprog-
nose als dauerhaft schlechte Zeiten. Da-
mit geht es uns allen, auch mir, besser.
Übrigens: Nur noch jeder zehnte
Schweizer nahm 2017 nach seinem Mili-
tärdienst sein Sturmgewehr mit nach
Hause. So ganz anders als wir sind die
Schweizer damit auch in diesem Punkt
nicht mehr.
Der Autor leitet die Staud Research GmbH in Bad
Homburg.

Steigende Preise, viel Leerstand:AmImmobilienmarkt machen sich die Folgen der Negativzinsen bemerkbar. Foto Bloomberg


Finanzen


Schweizer Aktien haben den Gipfel noch nicht erreicht


Trotz Höchstständen spricht im SMI-Index einiges für weitere Zuwächse / Technische Analyse von Wieland Staud


Die Schweizer Banken


warnen vor wachsenden


Risiken für die Wirtschaft.


Derweil sorgen höhere


Freibeträge für Entlastung.


Wechselkurs des Franken

Quelle: Bloomberg

Franken je Euro

F.A.Z.-Grafik fbr.

2014 2015 2016 2017 2018 2019

0 ,95

1,00

1,05

1,10

1,15

1,20

1,25

Immobilienpreise in der Schweiz

Quelle: UBS

Reale Veränderung seit 1980 in Prozent

F.A.Z.-Grafik fbr.

–10

0

10

20

30

40

50

70

60

1980 1990 2000 2010 2019

Langfristiger
Aufwärtstrend

Angaben in Indexpunkten (Skala logarithmisch)

7000
6500
6000
5500

5000

4500

7500

8000

8500

9000

9500

10000

Quelle: Staud Research Bad Homburg F.A.Z.-Grafik Kaiser

2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

9600
9500

8200 bis 8300

Unterstützungszonen


Ausbruch


SMI (Swiss Market Index)

Zu Ihrer Berichterstattung über den Kli-
mawandel und das Waldsterben: Im Zu-
sammenhang mit dem Klimawandel wird
immer wieder über das Fichtensterben
vor allem in Niedersachsen berichtet. Da-
bei kommt meistens die Vorgeschichte in
den Jahren um 1950 zu kurz. In dieser
Zeit gehörte Niedersachsen zur briti-
schen Besatzungszone. Die britische Be-
satzungsmacht veranlasste vor allem in
der Heide und im Harz großflächige Holz-
fällungen. Das Holz wurde als „Reparati-
onszahlung“ zugunsten Großbritanniens
abtransportiert. Die Kahlschläge muss-
ten möglichst schnell wieder aufgeforstet
werden. Als Pflanzgut standen überwie-
gend Fichten und Kiefern schnell zur Ver-
fügung. Es fehlte aber an helfenden Hän-
den. Zwei Organisationen, die beide heu-
te noch existieren, die Schutzgemein-
schaft Deutscher Wald (SWD), heute mit
Sitz in Bonn, und die Internationalen Ju-
gendgemeinschaftsdienste (IJGD) in Han-
nover taten sich mit den betroffenen Förs-
tereien zusammen und organisierten in
den Schulferien mehrwöchige internatio-
nale Jugendcamps. Die meisten Teilneh-
mer waren deutsche Schüler und Studen-
ten, dazu Teilnehmer aus Nachbarlän-
dern – Niederlande, Dänemark, Frank-
reich vor allem. Gestellt wurde Verpfle-
gung und einfache Unterkunft, die An-
und Rückreise zahlten die Teilnehmer
meist selbst. Sie arbeiteten sechs bis acht
Stunden täglich beim Pflanzen der Fich-
ten- und Kiefernsetzlinge in den Schlä-

gen. Die wenigen vorhandenen Setzlinge
von Laubbäumen wurden längs der Wald-
wege als Brandschneisen gepflanzt. Ich
weiß das alles aus eigenem Mittun. Heute
gehöre ich altersmäßig zu den „bösen al-
ten weißen Männern“.
Auch heute fehlen helfende Hände für
eine Wiederaufforstung in der für die
jetzt erwartbare Klimaentwicklung pas-
senden Form. Die alten Träger SWD und
IJGD (siehe oben) könnten sich wieder
zusammentun und für die jungen Leute,
die sich bei Fridays for Future engagie-
ren, eine Möglichkeit schaffen, handfest
für ihre Ziele tätig zu werden.
DR. PETER KOCH, AUMÜHLE

Zu dem Artikel „Buchmessengewitter“
(F.A.Z. vom 16. Oktober): Schriftsteller
mögen noch so kluge Bücher schreiben,
wenn es jedoch um die eigene Identität
geht, sind sie offenbar von allen guten
Geistern verlassen. Die, die sich intensiv
mit Sprache und Denken befassen, mer-
ken nicht einmal, dass ihre Identität we-
der in den Genen noch im Blut steckt, son-
dern nur ein ungeprüfter Gedanke in ih-
rem Kopf ist. Und da dieser Gedanke aus-
schließlich von einem gegenteiligen Ge-
danken lebt, in diesem Fall die Gedanken
„Ich bin Serbe“ und „Ich bin Bosnier“ von
der Vorstellung von Nicht-Serben und

Nicht-Bosniern, teilen die Schriftsteller
das allgemein verbreitete Wir/die ande-
ren-Denken und sind wie die meisten Men-
schen der Ansicht, dass die Menschheit
aus „Wir“ und „die anderen“ bestehe.
Wahrscheinlich ist ihnen nicht einmal be-
wusst, dass nicht nur manche Streiterei un-
ter ihnen auf das Konto dieses Denkens
geht, sondern auch der Terrorist ein Pro-
dukt dieses Denkens ist. Schließlich sind
die Opfer von Terroristen immer die Men-
schen, die er als „die anderen“ betrachtet,
und diese Betrachtungsweise ist nur auf-
grund eines solchen Denkens möglich.
DR. JENS LIPSKI, MÜNCHEN

Zu Ihrer Berichterstattung zur Brexit-De-
batte: Ich bin seit Dezennien stolz, einer
Verlierernation anzugehören, die aus ih-
rer überheblich-tragischen Geschichte ge-
lernt hat und nun international konstruk-
tiv wirkt. Und ich bin zutiefst bekümmert,
wie „Gewinner“ das kostbare Gut demo-
kratischen Umgangs leichtsinnig, egois-
tisch, kurzsichtig, engstirnig und gewinn-
süchtig verspielen und den großen Nicht-
Demokratien demonstrieren, wie abschre-
ckend und auf gar keinen Fall nachah-
menswert politische Demokratie in der
konkreten politischen Wirklichkeit sein
kann.
PROFESSOR DR. DIETER DIETERICH, KÖLN

Zu dem Leserbrief von Dieter Kruse „Be-
sonders wertvoll“ in der F.A.Z. vom 16.
Oktober: Man kann dem Schreiber Die-
ter Kruse nur recht geben. Der Allein-
gang des Deutschlandradio-Intendanten
Stefan Raue ist eine Zumutung. Der Ver-
dacht drängt sich auf, dass Herr Raue mit
seinem Vorgehen sein auffallend vehe-
mentes Eintreten für einen ausschließ-
lich digitalen Hörfunk und für die flä-
chendeckende Anschaffung von DAB+-
Geräten unterstützen möchte.
Ein Wohnungsnachbar und ich haben
jetzt Aufsichtsbeschwerden an den Ver-
waltungsrat des Senders gerichtet. Das
sollten möglichst viele frustrierte Kabel-
nutzer ebenfalls tun. Es wäre zu begrü-
ßen, wenn die F.A.Z. sich auch von Sei-
ten der Redaktion weiter für die Angele-
genheit interessieren würde. Schließlich
geht es faktisch um den Ausschluss vieler
Bürgerinnen und Bürger von einem wich-
tigen öffentlich-rechtlichen Sender. Das
ist doch kein Spaß! Wer stellt in der Reali-
tät schon jedes Mal seine ganze Emp-
fangstechnik nur für den Empfang von
Deutschlandradio um?
RALF KLEIN, WIESBADEN

Leserbriefschreiber Dieter Kruse (F.A.Z.
vom 16. Oktober) spricht mir aus dem Her-
zen, dass es sehr schmerzhaft für viele ehe-
malige Hörer der Deutschlandradio-Grup-
pe ist, von ihr als Unitymedia-Kabelkunde
ausgeschlossen zu sein. Es ist unerträg-
lich, den Streit über das Einspeiseentgelt
auf unserem Rücken auszutragen. Daran
ändert nichts, dass dies nur für Haushalte
in Baden-Württemberg, Hessen und Nord-
rhein-Westfalen gilt sowie der herkömmli-
che Verbreitungsweg über UKW und die
digitale Ausstrahlung über Digital Audio
Broadcasting (DAB+) von dem Streit
nicht betroffen sind, also der Ausschluss
nur Oldies aus einigen Bundesländern be-
trifft. Vielmehr ist Deutschlandradio gera-
de gegenüber dieser jahrzehntelang treu-
en und täglichen – wenn auch technisch
zurückgebliebenen, aber geistig hellwa-
chen – Hörergruppe in der Pflicht, das Ein-
speiseentgelt zu zahlen, wie es die ande-
ren öffentlich-rechtlichen Sender auch
tun. Wenn das nicht sofort geschieht, müs-
sen die Aufsichtsgremien in der Tat ein-
greifen (Artikel 3 GG: Gleichheit vor Ge-
setz), wie es Leser Kruse zu Recht fordert.
ALBRECHT BRÜHL, WIESBADEN

Briefe an die Herausgeber


Von allen guten Geistern verlassen


Zu dem Leserbrief „Ein wunderbarer Fort-
schritt“ (F.A.Z. vom 21. Oktober) zum Bei-
trag „Der Triumph der besseren Eisen-
bahnfahrpläne“ (F.A.Z. vom 12. Okto-
ber): Eigentlich hätten die Bemerkungen
des Leserbriefschreibers Professor Rudolf
Happle eine längere Entgegnung verdient,
aber ein Leserbrief zwingt zur Kürze.
Dass und warum Bismarck den Krieg
von 1870/71 „gewollt“ (Heinrich August
Winkler, Der lange Weg nach Westen, I,
Seite 203) und wie er ihn provoziert hat,
müsste jeder Abiturient wissen. Auf die
Reunionskriege und die Politik des Son-
nenkönigs will ich jetzt nicht eingehen,
aber Clarks lesenswertes, jedoch umstritte-
nes Opus beantwortet nicht die seit der Fi-
scher-Kontroverse diskutierte Frage nach
dem Grad der deutschen Verantwortung
(wenn man „Schuld“ vermeiden will) für
„la grande guerre“. Die rhetorisch ge-
schickt gewählte Form eines Fragesatzes
und die dezenten Hinweise auf Präsident
Macron sollen wohl im Kontext des gan-
zen Leserbriefes eine suggestive, für deut-

sche Leser exkulpierende Wirkung haben.
Und was ist mit dem Holocaust und dem
Zweiten Weltkrieg? Da kann man wohl
kaum analoge Ansichten vertreten. Also
geht man lieber schweigend darüber hin-
weg.
Und schließlich die „Erbfeindschaft“!
Professor Happle stellt seinen Studenten
ein Armutszeugnis aus, wenn man – wie
ich – davon ausgeht, dass die Kenntnis des
Begriffes „Erbfeind“ zur Allgemeinbil-
dung gehört. Aber davon ist doch wohl die
Tatsache zu trennen, dass zumindest seit
Stresemann und Briand versucht wurde –
und dann ab de Gaulle und Adenauer aber-
mals und erfolgreich! –, diese „Erbfeind-
schaft“ zu beenden. Insofern stimme ich
zu, dass „man sich im heutigen Europa et-
was Schöneres kaum vorstellen kann“ als
die deutsch-französische Freundschaft,
aber der Freude über diese Tatsache steht
doch die Enttäuschung über die Unwissen-
heit der Studenten („dieses totale Verges-
sen“) diametral gegenüber.
KLAUS BAHNERS, DÜSSELDORF

Zu „So will Berlin Vermietern die Preise
diktieren“ von Julia Löhr (F.A.Z. vom 21.
Oktober): Die durchschnittlichen Mieten
in den Metropolen der westlichen Welt,
etwa in New York, Tokio, Paris oder Lon-
don, bewegen sich gegenwärtig zwischen
20 und 50 Euro je Quadratmeter. In Berlin
zahlt man hingegen im Durchschnitt nur
6,72 Euro je Quadratmeter.
Tatsächlich ist die deutsche Hauptstadt
im internationalen Vergleich ein einzigar-
tiges Mieterparadies – weshalb sich bis-
lang besonders ärmere Weltenbummler
so gern in Berlin niederlassen. Doch da-
mit nicht genug: Nun will der Senat selbst
in den besten Lagen und Ausstattungen
Dumpingpreise als absolute Obergrenzen

festschreiben. Wer einen Mietvertrag in
Berlin besitzt oder jemals erhalten sollte,
darf jubeln. Alle anderen müssen verzwei-
feln. Denn es ist klar, dass unter diesen Be-
dingungen attraktive Wohnungen kaum
noch auf den freien Mietmarkt gelangen
und Investitionen ausbleiben werden. Die
Wohnungskrise wird durch weltfremde
Zwangsmaßnahmen nicht gelöst, sondern
drastisch verschärft. Ein ehemaliger Berli-
ner Bürgermeister fand seine Heimatstadt
„arm, aber sexy“. Sein Nachfolger hat nun
beschlossen, durch eine historische
Dummheit das Aschenputtel unter den
Weltstädten noch weiter zu ruinieren.
PROFESSOR DR. ARNOLD JACOBSHAGEN,
BRÜHL

Verlierernation


Die Fichten der Nachkriegszeit


Enttäuschung über Unwissenheit der Studenten


Eine Zumutung Unerträglich


Arm, dumm und immer noch sexy?

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