Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.10.2019

(avery) #1

SEITE 8·FREITAG, 25. OKTOBER 2019·NR. 248 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


ieNato wäre ohne Zweifel die ers-
te Wahl für eine Syrien-Mission,
wie sie die Verteidigungsministerin
vorgeschlagen hat. Keine andere Orga-
nisation, auch die EU nicht, verfügt
über die militärische Infrastruktur des
Bündnisses, und keine hat so viel Er-
fahrung mit vergleichbaren Einsätzen.
Aber es gibt in diesem Fall zwei ernst-
hafte Probleme. Zum einen wollen die
Amerikaner nicht mitmachen, was im
Grunde jede anspruchsvollere Art von
Operation ausschließt; ohne die Bünd-
nisvormacht fehlen der Nato wichtige
Fähigkeiten. Und natürlich ist die Tür-
kei ein Mitglied der Allianz – also aus-
gerechnet das Land, dessen Einmarsch
die Kurden-Gebiete in Nordsyrien erst
destabilisiert hat. Und nun soll es Teil
der Lösung werden? Zumindest militä-
risch ist das schwer vorstellbar. Apro-
pos Einmarsch: Ja, Kramp-Karrenbau-
er redet Unsinn, wenn sie von einer tür-
kischen Annexion spricht. Aber dass
sich manche in Berlin darüber echauf-
fieren, anstatt inhaltlich über einen
sinnvollen Vorschlag zu debattieren,
zeigt mal wieder, wie verkümmert die
außenpolitische Debatte in diesem
Land ist. nbu.


D


rei Kandidaten, die für die künfti-
ge EU-Kommission unter Ursula
von der Leyen nominiert waren, sind
vom Europäischen Parlament abge-
lehnt worden. Der Amtsantritt ver-
schiebt sich somit um einen Monat. Ter-
minverschiebungen sind offenbar in
Mode. Da mutmaßlich auch der Brexit
wieder verschoben wird, muss die Re-
gierung in London einen Kandidaten
für die Kommission nominieren. Bi-
zarr, aber so ist es nun mal. Einen neu-
en Vorschlag hat der französische Präsi-
dent Macron gemacht: Jetzt soll der frü-
here Wirtschaftsminister Breton das
Ressort Industrie und Binnenmarkt
übernehmen. Kein Zweifel, der Start
der neuen Kommission ist holprig. Ma-
cron hat von der Leyen die Schuld am
Scheitern seines ersten Vorschlags Syl-
vie Goulard gegeben – eine merkwürdi-
ge Sicht. Schließlich war ihm bekannt,
dass in der Scheinbeschäftigungsaffäre



  • der Grund für Goulards Rücktritt als
    Verteidigungsministerin – weiter ermit-
    telt wird. Macron hätte zudem klar sein
    müssen, dass das Parlament auf Rache
    aus war. Dass die Abgeordneten damit
    der EU keinen Gefallen getan haben,
    steht auf einem anderen Blatt. K.F.


E


s ist schon absurd genug, dass
Deutschland ausgerechnet an Chi-
na Hunderte Millionen Euro im Jahr
an „Entwicklungshilfe“ zahlt. Also an
ein Land, das seinerseits seine Macht
politisch, militärisch und wirtschaft-
lich ständig ausdehnt, ein globaler
Wettbewerber ist und, vorsichtig for-
muliert, nicht gerade unserem Werte-
system nahesteht. Dem würde noch
die Krone aufgesetzt, wenn einem chi-
nesischen Konzern Zugriff auf ein
wichtiges digitales Nervensystem er-
möglicht würde. Deutschland würde
dem Hersteller Huawei etwas erlau-
ben, was deutschen Unternehmen in
China verwehrt ist. Vor allem wäre das
die Lizenz zur Selbstentleibung in ei-
ner zentralen Sicherheitsfrage. Hier
kann es keinen freien Wettbewerb mit
Feinden der Freiheit geben. Gut, dass
einige Parlamentarier aufgewacht sind



  • mit dem richtigen Argument, dass es
    beim Ausbau des Mobilfunknetzes bei
    weitem nicht nur um eine technische
    Frage geht. Es geht um die Sicherheit
    des Gemeinwesens und die Unabhän-
    gigkeit des Landes. Oder ist diese
    Form der Preisgabe auch Teil der deut-
    schen Entwicklungshilfe? Mü.


Es würde nicht schlecht zu einem ein-
flussreichen Berater passen, wenn
selbst das Bildarchiv einer großen Zei-
tung Mühe hätte, ein aktuelles Foto
von ihm zu finden. An diesem Maß-
stab gemessen, wäre Nico Lange sehr
einflussreich. Denn aktuelle Bilder
von ihm sind kaum zu bekommen. Lan-
ge ist der Leiter des Leitungsstabes im
Bundesverteidigungsministerium. Vor
allem aber ist er der engste Vertraute
und Berater der Ministerin und CDU-
Vorsitzenden, Annegret Kramp-Kar-
renbauer. An ihm kommt nicht vorbei,
wer zu ihr will.
Nicht von ungefähr werden die engs-
ten Weggefährten wichtiger Politiker
gerne als graue Eminenz bezeichnet.
Das soll nicht bedeuten, dass sie grau
im Sinne von langweilig und konturlos
sind, sondern dass sie nicht im grellen
Licht wirken, wie der von ihnen beglei-
tete Spitzenpolitiker das tut. Der Be-
griff hilft dabei, ihnen den Mantel des
Geheimnisvollen umzulegen. Sie sind
kaum sichtbar, aber sehr wirksam.
Mehr noch als die einzelne inhaltli-
che Beratung, die von den jeweiligen
Fachleuten geleistet werden kann,
muss ein solcher enger Vertrauter auf
den Gesamterfolg der von ihm unter-
stützten Person achten. Vertraute müs-
sen einen so festen Stand haben, dass
sie sich Kritik und Warnungen erlau-
ben können. Das Vertrauensverhältnis
muss so eng sein, dass Chefin oder
Chef stets den Eindruck haben, vorge-
brachte Kritik nutze ihnen selbst. Oft
sind die engsten Berater schon an der
Seite der späteren Top-Prominenz,
wenn diese noch in den Anfängen ih-
rer Spitzenlaufbahn steckt. Im Falle
von Beate Baumann, der engsten Ver-
trauten von Angela Merkel, ist das so.
Mit Frank-Walter Steinmeier und Ger-
hard Schröder verhielt es sich ebenso.
Nico Lange steht dagegen erst seit
kurzem in einem solch engen Verhält-
nis zu Kramp-Karrenbauer. Der 1975
in Berlin geborene ehemalige Bundes-
wehrsoldat, der an der Universität
Greifswald Politik- und Kommunikati-
onswissenschaft studiert hat, war lan-
ge Zeit bei der Konrad-Adenauer-Stif-
tung. Für diese war er in der Ukraine
und in Washington, aber auch in Ber-
lin. Erst vor knapp zwei Jahren kam er
auf Wunsch Kramp-Karrenbauers in
die saarländische Staatskanzlei. Dann
ging er mit nach Berlin ins Konrad-
Adenauer-Haus, als Kramp-Karrenbau-
er Generalsekretärin wurde. Er über-
nahm die Strategische Planung in der
Parteizentrale und wurde zum engsten
Berater der Vorsitzenden. Was über ih-
ren Schreibtisch geht, lag in der Regel
vorher auf seinem. Allerdings machte
er sich auch Feinde, etwa als er der Jun-
gen Union eine Mitschuld am schlech-
ten CDU-Ergebnis bei der Europawahl
gab. Es gab Widerstände gegen ihn.
Kramp-Karrenbauer verzichtete daher
auf ihren Plan, ihn zum Bundesge-
schäftsführer zu machen.
Stattdessen nahm sie ihn mit ins Mi-
nisterium, auch wenn er noch keine Er-
fahrung im Führen einer Bundesbehör-
de, noch dazu einer so großen, hat. Es
darf unterstellt werden, dass der Vor-
stoß Kramp-Karrenbauers zur Einrich-
tung einer internationalen Schutzzone
in Nordsyrien auch zuerst auf langes
Schreibtisch lag, bevor die Chefin ihn
öffentlich machte. ECKART LOHSE

Problem Nato


NicoLANGE Foto KAS


Zuletzt war wieder viel die Rede davon,
wie gut die Beziehungen zwischen
Deutschland und Norwegen seien. Das
norwegische Kronprinzenpaar wurde beju-
belt, als es vorige Woche im Zug durch
Deutschland fuhr, weil Norwegen das Eh-
rengastland der Frankfurter Buchmesse
war. Die Regierungschefinnen beider Staa-
ten nutzten den Anlass, um einander Kom-
plimente zu machen. Die Länder sind wirt-
schaftlich eng verflochten und Partner in
der Nato. Doch es gibt ein Thema, bei dem
Norwegen und Deutschland einander
nicht näherkommen. Wenn an diesem
Freitag in der Finnmark, dem nördlichs-
ten Teil Norwegens, des 75. Jahrestags der
Befreiung von der deutschen Besatzung
im Zweiten Weltkrieg gedacht wird, ist un-
ter den vielen ranghohen Gästen niemand
aus Deutschland dabei. Zur Feierstunde
kommen der norwegische König Harald,
Ministerpräsidentin Erna Solberg – und
der russische Außenminister Lawrow.
Denn es war die Rote Armee, die die Wehr-
macht nach erbitterten Gefechten aus der
norwegischen Grenzstadt Kirkenes mehr
als 300 Kilometer nördlich des Polarkrei-
ses vertrieb.
So verstreicht eine der letzten Gelegen-
heiten, noch zu Lebzeiten von Zeitzeugen
das Gedenken an ein dunkles Kapitel der
Geschichte zu einem Zeichen der Versöh-
nung zu machen – ein Kapitel, das in
Deutschland nie so recht ins Bewusstsein
gekommen ist. An anderen Orten ist
Deutschland prominent vertreten, wenn
an Jahrestagen wichtiger Ereignisse des
Zweiten Weltkriegs gedacht wird. Im Som-
mer saß am 75. Jahrestag der Landung der
Alliierten in der Normandie auf der Ehren-
tribüne neben den Präsidenten Frank-
reichs und Amerikas und der britischen

Königin auch die deutsche Kanzlerin. Und
zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls
auf Polen hielt Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier am 1. September in
Warschau eine Rede. In der Finnmark da-
gegen, am äußersten nördlichen Rand Eu-
ropas, bleiben Norweger und Russen un-
ter sich. Warum ist das so? Das Auswärti-
ge Amt und das norwegische Außenminis-
terium geben keine Antwort auf diese Fra-
ge. Klar ist nur, dass keine Einladung nach
Deutschland geschickt wurde.
Um die möglichen Gründe zu verste-
hen, muss man sich klarmachen, dass die
Finnmark ein Sonderfall ist, der sich mit-
teleuropäischen Maßstäben entzieht und
selbst für norwegische Verhältnisse spe-
ziell ist. Das gilt zunächst für Geographie
und Klima. In der Finnmark ist es kalt und
im Polarwinter fast durchgehend dunkel,
die Abstände zwischen den Siedlungen
sind groß, das Terrain dazwischen unweg-
sam, die Küste ist zerklüftet. Flächenmä-
ßig so groß wie Niedersachsen, hat die mit
Abstand größte norwegische Provinz nur
so viele Einwohner wie Marburg. Dazu
kommt, dass Kirkenes in Luftlinie 500 Ki-
lometer weiter von Oslo entfernt ist als
Frankfurt. Es hat im Norden Tradition
und zum Teil auch Berechtigung, sich von
der Zentralregierung in Oslo schlecht be-
handelt oder übersehen zu fühlen.
Einen Sonderfall stellt auch der Kriegs-
verlauf in der Finnmark dar. Für die Wehr-
macht, die im April 1940 Norwegen über-
fiel, war die Besetzung des nördlichsten
Landesteils strategisch bedeutsam. Ers-
tens als Aufmarschgebiet für den geplan-
ten Angriff auf die russische Hafenstadt
Murmansk, eine wichtige Flottenbasis.
Zweitens wegen der Bodenschätze in der
Gegend, vor allem Nickel und Kupfer.
Und drittens, weil über die Küste sonst alli-

ierte Kräfte hätten landen können. Doch
Murmansk konnte nicht eingenommen
werden. Als sich Finnland im September
1944 vom Deutschen Reich abwandte, war
der Rückzug der Deutschen aus der Finn-
mark unausweichlich. Die Rote Armee
kam dem mit einer Offensive zuvor und
marschierte am 25. Oktober 1944 in Kirke-
nes ein.
Das war jedoch nur der Auftakt zur Ver-
wüstung der restlichen Finnmark. Dafür
waren nicht Kampfhandlungen verant-
wortlich. Sondereinheiten der Wehrmacht
zerstörten vielmehr systematisch Häuser
und Ställe, Brücken, Fabriken und Hafen-
anlagen, um sie nicht dem Gegner zu über-
lassen. Rentierherden der samischen Urbe-
völkerung wurden erschossen oder ver-
brannt, sogar Kirchen wurden angezün-
det. Die Strategie der „verbrannten Erde“
ist überall schrecklich. Vor dem einbre-
chenden Winter, der die Finnmark auch in
Friedenszeiten zu einer lebensfeindlichen
Gegend macht, war sie besonders grau-
sam. Zwei Drittel der einheimischen Be-
völkerung wurden vertrieben oder flohen
nach Süden. Die anderen versteckten sich
in Höhlen und Erdhütten. Historische Auf-
nahmen zeigen, wie gründlich die Wehr-
macht vorging. In Hammerfest an der Ba-
rentssee blieb nur die Friedhofskapelle ste-
hen. Der Rest des Städtchens wurde dem
Erdboden gleichgemacht.
Das hat es nirgendwo sonst in Norwe-
gen gegeben. Es war auch nur dieser Teil
des Landes, der von der Roten Armee be-
freit wurde. Historiker schreiben es einer
Verkettung glücklicher Umstände zu, dass
die Finnmark nach dem Krieg nicht sowje-
tisch wurde. Stattdessen wurde die Gren-
ze bei Kirkenes zu einem der wenigen
Orte außerhalb Deutschlands, an denen
sich im Kalten Krieg Nato und Warschau-

er Pakt direkt gegenüberstanden. Geopoli-
tisch brisant ist die Gegend immer noch.
Heute geht es vor allem um die Kontrolle
der Nordostpassage, den Seeweg von Nord-
europa nach Ostasien, sowie den Zugang
zur Arktis mit ihren Bodenschätzen.
All das stellt die so oft gelobte deutsch-
norwegische Freundschaft in der Finn-
mark auf eine besondere Probe. Einen An-
fang zur Aussöhnung machten deutsche
Freiwillige von der Aktion Sühnezeichen,
die 1960 eine Kirche im Dörfchen Kokelv
in der Finnmark bauten. Das Angebot der
deutschen Marine, zum Zeichen der Ver-
ständigung 1989 Hammerfest einen friedli-
chen Besuch abzustatten, lehnte der dorti-
ge Gemeinderat dann aber dankend ab.
Vor fünf Jahren erwähnte Joachim Gauck,
der damalige Bundespräsident, in einer
Rede in Oslo zwar ausdrücklich die Kriegs-
greuel in der Finnmark. Aber auch ihn
führte sein Staatsbesuch nicht zu den
Schauplätzen im äußersten Nordosten.
Auch als im Sommer dieses Jahres die ers-
ten beiden Stolpersteine zum Gedenken
an deportierte Juden in der Finnmark ver-
legt wurden, waren weder deutsche Diplo-
maten noch Politiker vertreten.
So hat es bis heute keine weithin wahr-
nehmbare Geste der deutsch-norwegi-
schen Versöhnung in der Finnmark gege-
ben. Manchen in der Gegend mag das so-
gar recht sein. Rune Rafaelsen, der Bürger-
meister von Kirkenes, wo sich an diesem
Freitag Russen und Norweger zur Befrei-
ungsfeier treffen, hält es jedoch für einen
Mangel. Er habe die Regierung in Oslo
mehrfach dazu aufgefordert, deutsche Ver-
treter einzuladen, sagt Rafaelsen. Erfolg-
los. „Es ist höchste Zeit, dass wir in die Zu-
kunft schauen. Aber wir sind mit der
furchtbaren Vergangenheit nicht fertig, so-
lange hier keine Deutschen dabei sind.“

WIEN,24. Oktober


D


er Schriftsteller Peter Handke ist
von dem politisierenden Inter-
viewpartner Peter Handke schon
deshalb schwer zu trennen, weil er diese
Trennung selbst nicht vornimmt. Er ver-
wischt systematisch die Grenzen zwi-
schen seiner Literatur und seiner Inter-
viewprosa. Ohne Kenntnis dessen, was
Handke sagt, sind zumindest als literari-
sche Großreportagen angelegte Werke
wie die „Winterliche Reise“ aus dem Jahr
1996, in der Handke „Gerechtigkeit für
Serbien“ fordert, kaum einzuordnen.
Der an der germanistischen Abteilung
der Universität Sarajevo lehrende Profes-
sor Vahidin Preljevićist vor einigen Ta-
gen auf ein Interview gestoßen, in dem
sich Handke ausführlich zum Massaker
von Srebrenica äußert, bei dem im Juli
1995 Tausende muslimische Männer und
Jungen von Truppen unter Befehl des bos-
nisch-serbischen Generals Mladić er-
schossen wurden. Preljevićstieß im Inter-
net auf den Text und bestellte sich, da er
der Quelle misstraute, die dort genannte
Publikation im Original. Es handelt sich
um die Zeitschrift „Ketzerbriefe“, die sich
im Untertitel bescheinigt, eine „Flaschen-
post für unangepasste Gedanken“ zu sein.
Herausgegeben wird sie vom Ahriman-
Verlag, in dem unter anderem auch er-
schienen sind: „Tabuthema Aids-Stop“,
ein Buch, in dem erläutert wird, dass das
Aids-Virus schon lange hätte ausgerottet
werden können, man es aus politischen
Gründen aber grassieren lasse. Bücher
und Schriften wie „Hände weg von Nord-
korea!“, „Jesus – Bhagwan: ein Vergleich“
deuten den weiten weltanschaulichen Ho-
rizont an, dem sich der Verlag gewidmet
hat und in dem Handkes Darlegungen zu
den Balkan-Kriegen gut aufgehoben sind.
Von Handkes Gesprächspartner sind in
diesem Verlag zwei Bücher über Jugosla-
wien erschienen, die Handke offensicht-
lich bekannt sind, da er sie in dem Inter-
view erwähnt. Eines davon heißt „Srebre-
nica wie es wirklich war“ und wird vom
Verlag mit dem Spruch beworben: „Das
,Srebrenica‘ der Propaganda – das Lügen-
Auschwitz der Nato“.
Zu dem Gespräch kam es im Januar
2011 in Paris. Ob eine Tonbandaufzeich-
nung davon existiert, geht aus dem auf elf

Seiten abgedruckten Text nicht hervor.
Der zum Teil umgangssprachliche Duktus
legt aber nahe, dass es sich um die Ab-
schrift von einem Tonband handeln könn-
te, zumal hervorgehoben wird, das Ge-
spräch sei „in Auszügen“ wiedergegeben
worden. Der Titel der Ausgabe lautet
„Viel Lärm um Srebrenica“, gibt also mit
Shakespeare die Richtung vor: In Srebre-
nica war nichts. Handke hebt anfangs zu
seiner bekannten Kritik an der Jugosla-
wien-Berichterstattung westlicher Me-
dien an: „Da kommt einer vom ,Spiegel‘
von Hamburg aus für zwei Tage, trinkt ein
paar Whisky und lässt sich von Dolmet-
schern, die keine überzeugten Serben wa-
ren, irgendetwas erzählen, und keiner ver-
steht die Sprache des Landes.“ Zwar ist
die Kritik an sprachunkundigen Repor-
tern aus dem Munde eines Dichters, der
ganze Bücher geschrieben hat über ein
Land, dessen Sprache er nicht beherrscht,
und der die wenigen serbischen Zitate dar-
in mit hoher Treffsicherheit falsch
schreibt, durchaus mutig. Was überzeugte
Serben sein sollen und worin sie sich von
weniger überzeugten Serben unterschei-
den, bleibt unklar, doch da zur Meinungs-
freiheit auch die Freiheit gehört, sich zu

blamieren, sind Handkes Sätze von selbi-
ger ebenso gedeckt wie seine Ansicht, das
Wort „Demokratie“ habe dank der Me-
dien ausgedient.
Was der Suhrkamp-Autor und Litera-
turnobelpreisträger des Jahres 2019 in
dem Interview zum Massaker von Srebre-
nica gesagt und, soweit zu überblicken,
nie dementiert hat, ist dann aber doch er-
innernswert. Ihm komme es so vor, sagt
Handke da nämlich, als sei Srebrenica
„ein Racheakt von serbischer Seite gewe-
sen. Nicht, dass ich es verurteilen würde,
aber ich kann es auch nicht uneinge-
schränkt gutheißen.“ Wurden hier bei der
Abschrift Worte vertauscht? Wollte Hand-
ke sagen, er könne das Massaker nicht gut-
heißen, aber auch nicht uneingeschränkt
verurteilen? Sollte nicht noch ein Ton-
band auftauchen, bleibt einstweilen nur
die schriftliche Version des Interviews als
Anhaltspunkt. Und demnach heißt Hand-
ke den Massenmord an mehreren tausend
Menschen gut, wenn auch nur einge-
schränkt. Dass es sich dabei nicht um ei-
nen Lapsus Linguae handeln muss, dafür
sprechen andere Aussagen im selben In-
terview. Das Übelste an Srebrenica halte
er „für konstruiert“, sagt Handke nämlich

weiter. Der amerikanische Präsident Clin-
ton und der bosnische Muslimführer Alija
Izetbegović(dessen Rolle bei dem Massa-
ker von Srebrenica tatsächlich ernsthafte
Fragen aufwirft) haben laut Handke
schon 1993 „einiges ausgemauschelt.
Aber ich frage mich: wie konnte man das
serbische Militär in diese Falle locken?“
Ein Massenmord als Falle für die Täter –
eine eigenwillige Interpretation.
Handkes Vermutung, dass es sich bei
dem Massaker von Srebrenica auch und
partiell um einen Racheakt gehandelt ha-
ben könnte, ist dabei nicht völlig abwegig.
Nachgewiesen ist, dass Bosniaken, also
bosnische Muslime, im Winter 1992/
Raubzüge in serbische Dörfer der Umge-
bung von Srebrenica unternahmen und
dabei mehr als tausend serbische Zivilis-
ten töteten, einige auf fürchterliche, be-
stialische Weise. Matthias Fink, der durch
sein 1000 Seiten umfassendes Werk „Sre-
brenica. Chronologie eines Völkermords“
als einer der besten Kenner des Großver-
brechens gelten darf, spricht von 1200 ser-
bischen Opfern. Doch entlarvend ist der
Bildausschnitt, den Handke wählt, wenn
er über diese Verbrechen spricht. Es ist
ein Bildausschnitt, der etwas Entscheiden-
des nicht zeigt und deshalb alle, die sich
nicht näher damit befasst haben, leicht in
die Irre führen kann: Die mörderischen
Ausfälle wurden von den hungernden Ein-
geschlossenen aus der Enklave Srebreni-
ca heraus unternommen, von Menschen
also, die erst durch die verbrecherische
Kriegs- und Vertreibungspolitik der mili-
tärisch weit überlegenen serbischen Streit-
kräfte im Osten Bosniens in die Lage gera-
ten waren, in der sie waren. So etwas er-
fährt man bei Handke nicht.
Dass Handke dann auch noch fragt, ob
die (später alle erschossenen) „moslemi-
schen Soldaten“ in Srebrenica nicht ein-
fach nur „heim zu Mama“ wollten, um dar-
aufhin die „sogenannten“ Mütter von Sre-
brenica zu verhöhnen („Denen glaube ich
kein Wort, denen nehme ich die Trauer
nicht ab“), steht zumindest in starkem
Kontrast zu seiner von seinen Verteidi-
gern oft zitierten Aussage aus dem Jahr
2006, in der er Srebrenica als Verbrechen
verurteilt. So steht nun also Aussage ge-
gen Aussage, wobei jeweils Handke der
Aussagende ist. Vielleicht ist das ja ein
Teil der Antwort.

Zweiter Versuch


Kapitulation vor China


DerVertraute


„Ich würde es nicht verurteilen“


Peter Handke leugnet das Massaker von Srebrenica nicht – es ist noch schlimmer / Von Michael Martens


Verbrannte Erde


75 Jahre nach der Befreiung Nordnorwegens bleibt das Verhältnis zu Deutschland gespannt / Von Sebastian Balzter


Die wichtigen Themen. Kompakt aufbereitet und eingeordnet.


Kürzer gefasst. Weiter gedacht.



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Trauer in Srebrenica:Vor der Beisetzung neu identifiziert – Opfer im Jahr 2010 Foto EPA

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