Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.10.2019

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG, 25. OKTOBER 2019·NR. 248·SEITE 9


DieFrage mag schon etwas in die Jahre
gekommen sein, aber das heißt ja nicht,
dass man sie nicht jederzeit von neuem
diskutieren kann. Und so tun, als wäre es
wirklich eine Frage und nicht nur ein wei-
terer Anlass, um wieder ein paar gelbe
Klebezettelchen zu verteilen, auf die mit
beschreibungsschwachem Filzstift Begrif-
fe wie „altmodisch“ oder „fortschrittlich“
gekritzelt sind. Was unterscheidet Dra-
matik von Prosa, fragt Michael Wolf, ein
junger, in Hildesheim ausgebildeter Ko-
lumnist auf „nachtkritik.de“, dem ver-
dienstvollen Online-Forum des Theater-
betriebs, und kommt zu dem Schluss:
Nicht viel. Denn letztlich handele es sich
bei beiden Gattungen um Text, und der
sei eh „längst nur noch ein Element des
Theaters neben vielen anderen wie Vi-
deo, Körperlichkeit, Objektkunst, instal-
lativen Zugängen und so weiter“, also
gehe es auch nicht um das „warum“, son-
dern nur um das „wie“ einer Prosa-Adap-
tation auf der Bühne. Da der Erfolg eines
Theaterabends inzwischen sowieso von
anderen Faktoren abhänge, lohne sich
eine Unterscheidung zwischen Drama
und Prosa nicht mehr, so muss man Wolf
verstehen, der betont, „es sollte nicht um
Formate gehen, sondern um Qualität“.
Mag sein, dass der Text beim Theater
heute in der Tat mitunter nur noch eine
Rolle unter vielen spielt, aber deswegen
gleich die ganze Gattungsunterschei-
dung über Bord werfen? Was auf diese
Weise nämlich gestärkt wird, ist das gro-
ße undifferenzierte „egal“. Egal, ob Sach-
buch, Roman, Film oder Videospiel – al-
les ist Literatur, alles ist Text, also alles
auch auf der Bühne darstellbar. „Es sollte
nicht um Formate gehen“, heißt über-
setzt für die Regie: Verachtet die Unter-
schiede, ebnet jede Eigenart ein, macht
alles gleich und schreibt mit eurer Künst-
ler-Handschrift darüber, damit es „Quali-
tät“ hat. Die „ästhetische Setzung“ ist in-
zwischen tatsächlich oft das entscheiden-
de Kriterium bei der Bewertung eines
Theaterabends. Man ist gebannt von der
Inbesitznahme eines Bühnenraums
durch Technik und Projektionen, lässt
sich – auch nicht zu Unrecht – beeindru-
cken von unerbittlich sich drehenden
Scheiben oder filigranen Roboter-Greif-
armen, die das Geschehen bestimmen.
Auch bei Luk Percevals gerade in
Frankfurt gastierender Inszenierung des
religiösen Erzählreigens „Trilogie“ von

Jon Fosse ist man zunächst überwältigt
von der mutig schlichten Besetzung des
Bühnenraumes. In dichten Nebel gehüllt,
liegen vier Ruderboote umgekehrt auf re-
gennassem Grund. Von weit hinten er-
scheint aus dem Halbdunkel eine gebück-
te Frau mit zitternder Hand, sie flüstert
vor sich hin, scheint mehr mit sich selbst
zu sprechen, verfällt hin und wieder in
eine Gollum-Stimme, krächzt, über-
schlägt sich, atmet schwer. Dann beginnt
sie zu erzählen. Beschreibt die Umge-
bung, das Land, die Schwere der Herzen
dort, wo ihre Geschichte spielt, an einem
norwegischen Küstenort, im kalten Spät-
herbst. Und wie sie so spricht und uns
das Panorama ausmalt, allein, im Halb-
dunkel, auf riesiger Bühne, ist das ein-
drucksvoll und verführerisch, man folgt
ihr, schließt die Augen und stellt sich vor,
wie der Wind durch den Hafen braust
und der Regen sich in einer Kuhle sam-
melt.
Zwischen der Größe des nebligen Büh-
nenraums und dem Detail der dichten Be-
schreibung entsteht eine Spannung, ein
dramaturgisches Gleichgewicht. Aber
dann treten die Figuren auf, von denen
eben die Rede war: Alida und Asle, ein
junges unverheiratetes Paar in guter Hoff-
nung, die aus ihrem Heimatdorf fliehen
mussten und nun im windigen Küstenort
auf der Suche nach einer Unterkunft
sind. Wie Maria und Josef klopfen sie an
Türen, flehen um Hilfe, werden aber Mal
um Mal abgewiesen, die Wehen setzen
ein, und Asle sieht keinen anderen Aus-
weg, als sich mit Gewalt Eintritt zu ver-
schaffen ins Haus einer alten Frau. Der
Sündenfall ist begangen, die grausame
Strafe folgt.
Eine berührende Geschichte – wenn
man sie liest oder erzählt bekommt. Zu-
mal von einer so geheimnisvoll märchen-
haften Erzählerfigur, wie sie Gjertrud
Jynge verkörpert. Aber wenn die Figu-
ren, die sie beschreibt, dann auftreten,
wenn sie Bewegungen machen und Hand-
lungen ausführen, die ihnen die Erzähle-
rin vorgibt, dann verliert das Ganze
schmerzhaft an Spannung und Aus-
druckskraft. Durch die reale Ausführung
wird die geheimnisvolle Erzählung plötz-
lich profan. Die performative Darstel-
lung dessen, was ursprünglich als Narrati-
on verfasst ist, schwächt die archaische
Wucht des Textes und stellt das metaphy-
sische Element der Erzählung geradezu

bloß. Fosses „Trilogie“ will imaginiert
werden, nicht ausagiert sein.
Die Schauspielerinnen und Schauspie-
ler aus dem Osloer „Det Norske Teatret“
wirken wie lebensgroße Puppen, die zu-
sammenzucken oder betrunken torkeln,
ganz wie es ihnen gerade vorgegeben
wird. Sie sind nur Repräsentanten, keine
Produzenten der Geschichte. Bezeichne-
te, die nichts selbst zum Leben erwecken,
sondern abhängig sind von der einen
strippenziehenden Erzählerinstanz. Sie,
die zu Beginn noch so eindrucksvoll wirk-
te, wird einem über den langen Abend
hinweg geradezu verhasst, weil sie im-
mer wieder das Spiel unterbricht, das
Wort an sich reißt und den Rhythmus
neu bestimmt. Die vielen dunklen Sätze
über Krankheit, Tod und Familienun-
glück verdampfen uneingelöst im dichten
Nebel.
Kaum hat die Erzählerin etwa den Mo-
ment der Geburt mit dem Satz beschrie-
ben, die Mutter gebe einen „Schrei von
sich, als würde die Welt sich auftun“, tut
Alida ebenjenen und zieht den Moment
damit ungewollt ins Lächerliche. Es
wirkt fast so, als gäbe es eine geheime,
selbstverteidigende Kraft der Prosa, die
sich der Vorführung entzieht, die sich lie-
ber auflöst als nachgespielt werden will.
Der Abend jedenfalls, der eindrucksvoll
begann, wird in seinem Verlauf zur lang-
wierigen Figurenaufstellung. Ohne ein
Innenleben zu entwickeln, wandeln die
Figuren wie tot über die Bühne. Das
Auge bleibt nicht an ihnen hängen, we-
der Kopf noch Herz erinnern sich später
an sie. Warum?
Weil sie eben nicht für Bühnenzuschau-
er geschrieben sind, sondern in Leser-
phantasien leben. Der Frankfurter Gast-
spiel-Abend wirkt wie ein demonstrati-
ver Widerspruch gegen die Egal-Haltung
der Gleichmacher, wie ein strahlender
Beweis für die Eigenart der Texte. Was
man verliert, wenn „die Formate“ keine
Rolle mehr spielen, ist hier deutlich zu
spüren. Es geht um die Vielfalt der Erzäh-
lungweisen, die unterschiedliche Wieder-
gabe von literarischen Werten und nicht
zuletzt ums Ganze: nämlich um Wirkung
durch Eigenart. Nur eine Welt, in der die
Sonderbaren, das Unterschiedene als
höchstes Gut geachtet wird, ist eine
künstlerische Welt. Wer qualitätsvollen
Gleichklang will, kann in den Apple-
Shop gehen. SIMON STRAUSS

Die Unesco sieht den Welterbe-Sta-
tus der historischen Innenstadt von
Prag in Gefahr. In einem Brandbrief
rief die Organisation den tsche-
chischen Staat und die Stadtverwal-
tung auf, negativen Entwicklungen
„prompt und entschieden“ zu begeg-
nen. Besonders in der Kritik stehen
Pläne für Hochhäuser in der soge-
nannten Pufferzone der tsche-
chischen Hauptstadt, die das Stadtpa-
norama beeinträchtigen könnten. In-
vestoren übten starken Druck aus,
um ihren Gewinn aus Büro- und
Wohnflächen zu maximieren, hieß es
in dem Bericht. Für Beunruhigung
sorgt ein geplantes neues Baugesetz,
das die Genehmigungszeiten drama-
tisch verkürzen würde. Gutachten
des Denkmalschutzamtes sollen
dann nicht länger verbindlich für die
Entscheidungsfindung bei neuen
Bauprojekten sein. Weitere Kritik-
punkte der Unesco sind die mangeln-
de Verkehrsberuhigung, der fort-
schreitende Verfall des ungenutzten
Bahnhofs Vyšehrad aus dem Jahr
1904 und die zunehmende Zahl der
Touristenboote auf der Moldau. Der
sozialdemokratische Kulturminister
Lubomir Zaorálek erklärte, man sei
mit der Unesco im Gespräch. Das his-
torische Zentrum von Prag steht seit
1992 auf der Welterbeliste der UN-
Tochter. Die Schutzzone umfasst
eine Fläche von knapp 8,7 Quadratki-
lometern. Die sächsische Landes-
hauptstadt Dresden hatte den Welter-
be-Status im Jahr 2009 nach der Er-
richtung der Waldschlößchenbrücke
verloren. dpa

D

ie sterblichen Überreste des spa-
nischen Diktators Francisco
Franco ruhen jetzt auf einem Fried-
hof am Stadtrand von Madrid. Der
Körper des Mannes, der Spanien in ei-
nen Bürgerkrieg trieb und zwischen
1939 und 1975 mit eiserner Hand re-
gierte, Oppositionelle einkerkern
oder liquidieren ließ und auch dann
noch eine der wenigen europäischen
Rechtsdiktaturen am Leben erhielt,
als sich andere Nationen längst um
eine Gemeinschaft demokratisch ver-
fasster Staaten in Europa bemühten –
dieser Körper verwandelt sich mit der
Umbettung von einer nationalen
Identifikationsfigur in eine Privatan-
gelegenheit seiner Familie. Soweit
der Körper; mit dem Geist ist es so
eine Sache. Als Gralshüter des Fran-
quismus hat sich die Familie des „Cau-
dillo“ erbittert gegen die Umbettung
gewehrt, doch glücklicherweise blie-
ben ihre Manöver erfolglos. Mit dem
mutigen Schritt der Sánchez-Regie-
rung endet eine peinliche Anomalie,
die in vierzig Jahren spanischer De-
mokratie unangetastet geblieben war:
dass die faschistische Weihestätte mit
dem pathetischen Namen „Tal der Ge-
fallenen“ (in Wahrheit ein Berg, kein
Tal) nicht mehr ganz so beleidigend
für die Angehörigen derer ist, die dort
als politische Gefangene einen Teil ih-
rer Haftstrafe abbüßten. Insofern hal-
ten die Kamerabilder der Verlegung
einen historischen Augenblick fest:
Spanien trennt sich von einem weite-
ren Stück seiner umkämpften Ge-
schichte und entlässt den Leichnam
des Diktators, der in der tunnelarti-
gen Basilika gleich hinter dem Altar
unter einer Grabplatte lag, aus seiner
von Mythenseligkeit, Nostalgie und
antidemokratischem Ressentiment ge-
nährten Rolle. Es ist erst gut zehn Jah-
re her, dass Ministerpräsident Zapate-
ro die faschistischen Kundgebungen
im „Tal der Gefallenen“ am Todestag
des Diktators verbieten ließ und da-
mit die Wut der Franco-Anhänger her-
aufbeschwor. In denselben Jahren
ließ Zapatero ein Reiterstandbild des
Diktators aus dem Stadtzentrum Ma-
drids entfernen, und dass es nachts
um zwei Uhr geschah, verrät, dass
ihm das Heikle der Entscheidung be-
wusst war. Auch die vom Parlament
2018 beschlossene Umbettung des
Leichnams stieß in konservativen
Kreisen auf heftige Kritik; bezeich-
nenderweise hatte sich die Volkspar-
tei (PP) des ehemaligen Ministerpräsi-
denten Rajoy der Stimme enthalten.
Doch das gebetsmühlenartig wieder-
holte Argument, die sozialistische Re-
gierung reiße „alte Wunden auf“, ent-
behrt jeder Grundlage – sachlich, his-
torisch, politisch. Denn diese Wun-
den, sie waren nie geschlossen. Fried-
lich liegt das „Tal der Gefallenen“ da,
Gottesdienste zu Ehren des „Generalí-
simo“ eingeschlossen, und darf bis
heute in Wort, Bild und Symbolik die
Werte des ranzigen Nationalkatholi-
zismus verbreiten, der so viel Unfrei-
heit über das Land gebracht hat. Mit
einem gewissen Zynismus beutet der
Staat den Schauwert des pittoresken
Franco-Mausoleums aus, sekundiert
von der Kirche, die Francos Putsch
1936 von Anfang an mittrug. Nein,
manchmal sind symbolische Akte tat-
sächlich vonnöten, manchmal müs-
sen Namensänderungen sein, manch-
mal muss ein Leichnam verlegt wer-
den – nicht, um die Geschichte umzu-
schreiben oder eine Figur daraus zu
tilgen, aber sehr wohl, um den Jünge-
ren zu zeigen, wie Geschichte in der
Erinnerung fortleben soll. P.I.

D


as deutsch-jüdische Verhältnis
wird immer kompliziert sein.
Dies wird niemals verschwin-
den. Aber seit dem Zweiten
Weltkrieg wurden viele wichtige Schritte
unternommen, um unsere Beziehungen
zu verbessern. Der Terroranschlag an
Jom Kippur auf die Synagoge von Halle
verdeutlicht jedoch ein massives Versäum-
nis: Die Führungseliten in Deutschland
haben das Ausmaß des neuen und besorg-
niserregenden Antisemitismus unter-
schätzt. Am kommenden Montag werde
ich in München Bundeskanzlerin Angela
Merkel die höchste Auszeichnung des Jü-
dischen Weltkongresses – die Theodor-
Herzl-Medaille – für ihre Bemühungen
verleihen, das Nachkriegsversprechen
Deutschlands „Nie wieder!“ zu erfüllen.
Doch eine vom World Jewish Congress
in Auftrag gegebene Studie zum deut-
schen Antisemitismus legt konkrete Zah-
len dafür vor, dass Antisemitismus in
Deutschland wieder auf dem Vormarsch
ist – nicht nur in der Öffentlichkeit, son-
dern auch unter den Eliten. Diese Studie
wurde von Schoen Consulting durchge-
führt und hat 1300 Personen aus ganz
Deutschland interviewt.
Das alarmierende Ergebnis ist, dass sie-
benundzwanzig Prozent aller Deutschen
und achtzehn Prozent der deutschen Eli-
ten antisemitisch sind. Eine Vielzahl von
Deutschen ist der Meinung, dass Juden zu
viel über den Holocaust sprechen (41 Pro-
zent), beinahe die Hälfte der deutschen
Eliten gibt an, Juden seien Israel gegen-
über loyaler als gegenüber Deutschland
(48 Prozent), und mehr als ein Viertel der
deutschen Eliten vertritt die antisemiti-
sche Überzeugung, dass Juden im Ge-
schäftsleben (28 Prozent) und in globalen
Angelegenheiten (26 Prozent) zu viel
Macht haben.
Auf der anderen Seite erkennt eine
überwiegende Mehrheit der deutschen
Eliten an, dass Juden heute in Deutsch-
land von rassistischer Gewalt (60 Pro-
zent) und Hassreden (58 Prozent) be-
droht sind. Und sowohl eine Mehrheit der
deutschen Bevölkerung (65 Prozent) als
auch der deutschen Eliten (76 Prozent) ist
der Ansicht, dass Überzeugungen aus der
NS-Ära mit dem Anwachsen rechtsextre-
mer Parteien zunehmen.
Die alarmierenden Ergebnisse der Um-
frage geben allen Anlass, sich zu fragen,
ob Deutschland sich wirklich von seiner
schwierigen Vergangenheit gelöst hat. Of-
fensichtlich waren manche erzielten Fort-
schritte nicht so nachhaltig, wie viele
dachten. Um es ganz deutlich zu sagen:
Nur zwei Generationen nach dem Holo-
caust sind Juden in Deutschland und in
der Welt wieder Ziele von Übergriffen.
Ich sage dies nicht, um die Lage künst-
lich zu dramatisieren. Doch die Studie
muss uns Anlass zum Innehalten geben,
und jeder sollte erkennen, dass dies nicht
nur eine „jüdische Angelegenheit“ ist.
Vielmehr geht es doch um die entschei-
dende Frage: In welcher Gesellschaft wol-
len wir zukünftig eigentlich leben?
Seit meinem Studium in Deutschland
begeistern mich die deutsche Kultur und
Kunst. Doch diese Form des heutigen An-
tisemitismus ist mir damals nicht begeg-
net. Daher bereiten mir die Umfrageergeb-
nisse große Angst, denn Juden in Deutsch-
land befinden sich heutzutage wieder im
Fadenkreuz unterschiedlicher antisemiti-
scher Kräfte. Ich frage mich, was diesen
gefährlichen Trend antreibt.
Auf der einen Seite gibt es in der politi-
schen Rechten den traditionellen neona-
zistischen Antisemitismus, der „den Ju-
den“ für alles verantwortlich macht. Dies
ist der Hass, der Stephan Balliet dazu in-
spirierte, betende Menschen am heiligs-
ten jüdischen Feiertag in Halle zu ermor-
den. In seinem rassistischen Bekenntnis
gab Balliet „den Juden“ die Schuld an al-
len Problemen der Gesellschaft und be-
stritt die Existenz des Holocaust. Dies ist
ein Standardmuster für Antisemitismus.
Auf der anderen Seite steht ein radika-
ler muslimischer Antizionismus, der sich
in vielen Bereichen mit dem traditionel-
len Antizionismus einer extremen Frak-
tion der deutschen Linken deckt. Diese
neue Dynamik fördert einen Hass gegen
Israel und alle Juden, mit dem Antisemi-
tismus im Gewand des Antizionismus nor-
malisiert werden soll. Diese Antizionis-
ten dürften auch die skandalöse Entschei-
dung eines deutschen Gerichtes zustim-
mend zur Kenntnis genommen haben,
dass es Kuwait Airlines gestattet ist, israe-
lischen – und jüdischen – Passagieren die
Mitreise zu verweigern.
Dabei blenden sie das Offensichtliche
vollkommen aus: Genau diese Art des
Ausschlusses vom öffentlichen Leben

war eine zentrale Taktik der Nationalso-
zialisten vor dem Holocaust. Wenn uns
die Geschichte etwas gelehrt hat, dann
dass, als jüdische Bürger erst einmal ge-
sellschaftlich marginalisiert waren, es viel
einfacher war, ihnen schreckliche Dinge
anzutun.
Es gibt einen weiteren Aspekt, der zu
diesem alarmierenden Anstieg von Anti-
semitismus beiträgt: der Mangel an Bil-
dung. Zu wenige junge Menschen wissen
heute noch von den Greueltaten, die vor
siebzig Jahren stattgefunden haben, und
diese Unwissenheit führt zu einem An-
stieg des Hasses. Bildung muss ein wichti-
ger Faktor im Kampf gegen Antisemitis-
mus sein. Die Schüler über die Abgründe
der Vergangenheit und die Bedeutung
von Toleranz zu unterrichten ist der
Schlüssel in diesem Kampf.
Wenn es ein Land auf der Erde gibt,
das extrem empfindsam sein sollte, wenn
es um Antisemitismus geht, dann ist es
Deutschland. Die Parteien und gesell-
schaftlichen Eliten in diesem Land haben
es jedoch versäumt, alle Formen des Anti-
semitismus von ganz rechts und ganz
links konsequent zu bekämpfen. Und an-
scheinend hat dies dazu beigetragen, dass
viele Menschen in Deutschland nie aufge-
hört – oder jüngst wieder begonnen – ha-
ben, diesem Hass zu glauben.
Die einzigen Gründe, warum es an Jom
Kippur neben den beiden tragischen Mor-
den zu keinem weiteren Gemetzel in Hal-
le gekommen ist, waren die Sicherheits-
maßnahmen der jüdischen Gemeinde
und das unerwartete Versagen der Mord-
waffe. Es wurde nicht aufgrund staatlich
verordneter Maßnahmen verhindert. Vor
dem Eingang der Synagoge befanden sich
keine Polizeibeamten. Wie konnte das
sein?
Dabei durchbrach wenige Tage vor
dem Angriff in Halle ein Syrer die Sicher-
heitsbarriere einer anderen Synagoge,
schrie Schimpfwörter gegen Israel sowie
„Allahu Akbar“ und zog ein Kampfmes-
ser. Er wurde nur wegen Hausfriedens-
bruchs festgenommen und später wieder
freigelassen. Ist seine Tat nicht eine massi-
ve Störung des gesellschaftlichen Frie-
dens? Wie kann das sein?
Deutschland hat sechs Millionen Grün-
de, besonders sensibel gegenüber Neo-
nazi-Bewegungen und linkem Judenhass
zu sein, aber es ist dem Land auf erschre-
ckende Weise nicht gelungen, das jüngste
Wiederaufleben des Antisemitismus wirk-
sam zu bekämpfen – vor allem im Bereich
Polizei und Justiz gibt es nach wie vor
deutliche Rückstände.
Vor dem Hintergrund der deutschen Ge-
schichte sind dieses mangelnde Bewusst-
sein und das Versäumnis, jüdische Mitbür-
ger effektiv zu schützen, inakzeptabel und
dürfen sich nicht fortsetzen. Deutschland
hat die einzigartige Verantwortung über-
nommen, dafür zu sorgen, dass etwas Ver-
gleichbares wie der Holocaust nie wieder
passiert. Der jüngste Anstieg des Antisemi-
tismus quer durch ganz Europa unter-
streicht die Notwendigkeit einer verstärk-
ten Wachsamkeit und Aufklärung.

A

us diesem Grund drängt der
World Jewish Congress auf
eine engagierte Kampagne zur
Bekämpfung des Antisemitis-
mus in Deutschland. Diese sollte sich
insbesondere auf das Thema Bildung so-
wie die stärkere Vernetzung zwischen
den Repräsentanten jüdischer Organisa-
tionen, den in Deutschland lebenden jü-
dischen Bürgern sowie der deutschen
Gesellschaft als Ganzes konzentrieren –
jenseits aller Ideologien und Religionen.
Am vergangenen Freitag hat die Bun-
desregierung unter der Leitung von
Bundesinnenminister Horst Seehofer
ein wichtiges Maßnahmenpaket zur Be-
kämpfung des Antisemitismus in
Deutschland vorgestellt. Ich schätze die
Initiative von Herrn Seehofer sehr und
freue mich darauf, zusammen mit ihm
und anderen die vorgeschlagenen Maß-
nahmen sowie weitere umzusetzen.
Dazu gehören meiner Ansicht nach:
Die Verbesserung der Sicherheit von Sy-
nagogen und jüdischen Einrichtungen;
die Erweiterung der rechtlichen Defini-
tion von Antisemitismus; die Erhöhung
des Strafmaßes für Täter antisemiti-
scher Angriffe und Erhöhung des Straf-
maßes gegenüber anderen Hassverbre-
chen; die Erhöhung des Strafmaßes für
die Online-Veröffentlichung von antise-
mitischen Hass-Beiträgen (hate
speech); die Umsetzung des gesamten
Empfehlungskatalogs des Unabhängi-
gen Expertenkreises Antisemitismus;
der Aufruf an alle Parteien, Antisemi-
ten konsequent aus ihren Reihen zu ent-
fernen; das Verbot mehrerer rechtsex-
tremistischer Gruppen.
Lassen Sie mich zum Abschluss an eine
wichtige Tatsache erinnern: Der Hass,
dem jüdische Bürgerinnen und Bürger als
Erstes ausgesetzt waren, hat nicht bei ih-
nen aufgehört. Vor 75 Jahren, als alles vor-
bei war, waren sechs Millionen Juden dem
Nazi-Terror zum Opfer gefallen. Wir soll-
ten aber nie vergessen, dass auch Deutsch-
land in Trümmern lag und der Krieg welt-
weit sechzig Millionen Tote hinterlassen
hatte. Der Hass auf Juden wird uns genau
dorthin zurückführen, doch ich bete für Sie
und mich, dass dies nie wieder geschieht!
Der 1944 in New York geborene Unternehmer
und Diplomat Ronald S. Lauder ist seit 2007
Präsident des World Jewish Congress (WJC).

Investorendruck


Prag droht Verlust des Welterbes


Es ist vollbracht


Was tut


Ihr dagegen?


Die Prosa nimmt Rache am Theater


Luk Percevalund „Det Norske Teatret“mit Jon Fosses „Trilogie“ in Frankfurt


Eine neue Studie


belegt,dass Juden in


Deutschland aufs Neue


wachsendem Antisemi-


tismus ausgesetzt sind.


Was treibt diesen


gefährlichen Trend an?


Von Ronald S. Lauder


Allein hätte sie uns viel erzählen können: Gjertrud Jynge in Luk Percevals Adaption von Jon Fosses „Trilogie“ Foto Erik Berg

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