Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.10.2019

(Nora) #1

SEITE 10·SAMSTAG, 19. OKTOBER 2019·NR. 243 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


erliterarische Herbst in Paris
begann dieses Jahr mit großem
Trubel um einen mysteriösen
Roman: Er wurde in schwindel-
erregend hoher Auflage gedruckt und
entpuppte sich nach viel Rätselraten als
ein Werk von Françoise Sagan – das we-
der ganz von ihr war noch überzeugen
konnte (F.A.Z. vom 29. September). Dar-
über ging der Fund aus dem Nachlass
eines anderen, weit bedeutenderen mo-
dernen Klassikers fast unter, der weniger
spektakulär daherkam und verhältnismä-
ßig bescheiden beworben wurde: Es han-
delt sich um neun Erzählungen von Mar-
cel Proust (1871 bis 1922) aus den neun-
ziger Jahren des neunzehnten Jahrhun-
derts. Die Überraschung war groß, weil
von acht dieser Texte nicht einmal die
Existenz bekannt war.
Die Erzählungen sind Satelliten aus
dem Gravitationsfeld von „Freuden und
Tage“ (1896), dem ersten Buch des jun-
gen Autors, das Veröffentlichungen aus
Zeitschriften zusammenfasste und durch
neue Kompositionen ergänzte. Um Letzte-
re handelt es sich bei den nun publizier-
ten Texten, die bisher (mit eben einer Aus-
nahme) nur in Manuskriptform vorlagen.
Meist sind sie unvollendet, dennoch zeich-
nen sich wichtige Mechanismen, zentrale
Motive, treffende Formeln der „Suche
nach der verlorenen Zeit“ (1913 bis 1927)
in ihnen ab; man liest sie und die kundi-
gen Ausführungen des Herausgebers mit
großem Gewinn und stiller Freude.
Typisch ist gleich die Novelle „Pauline
de S.“: Der Erzähler besucht eine Ster-
benskranke und erwartet, sie quasi im
Büßerhemd, ganz dem Jenseits zu-
gekehrt anzutreffen. Stattdessen präsen-
tiert sich ihm eine zwar blasse, aber un-
gebrochen lebenshungrige Mondäne, die
ihre „conversation brillante“ pflegt und
ein amüsantes Stück des Vaudeville-
Autors Eugène Labiche sehen möchte.
In gut der Hälfte der Erzählungen wird
die Situation – oft tödlicher – Krankheit
gewählt, die für das Fin de Siècle ein-
schlägig ist; in „Freuden und Tage“ fin-
den sich weitere Beispiele, etwa „Der
Tod des Baldassare Silvande“. Die Situa-
tion ist Prousts Lackmustest, um die wah-
re Natur des Menschen zu zeigen. Die Op-
position zwischen zeitfressendem Gesell-
schaftsleben und zeitfindender Kunst,
die für die „Suche nach der verlorenen
Zeit“ grundlegend sein wird, zeigt sich
hier als die traditionelle Opposition von
weltlicher Zerstreuung und christlicher
Einkehr, so, wie sie der französische Mo-
ralismus des siebzehnten Jahrhunderts
kodifiziert hat; dieser christliche Strang
ist präsenter als in „Freuden und Tage“.
Es liegt nahe, den Band als Labor zu be-
greifen, und das Vorgehen des Autors als
„Experimentieren“. Tatsächlich probiert
der junge Autor viele Formen aus, sei es
das Märchen, die Parabel oder das Toten-
gespräch, und wechselt souverän die Stil-
register. Ob naturwissenschaftliche Be-
griffe es treffen, ist weniger sicher: Proust
verstärkt zeittypische Stil- und Formmi-
schungen, brilliert mitunter darin, etwa
wenn „Après la 8esymphonie de Beet-
hoven“ (Nach Beethovens achter Sympho-
nie) den Leser in eine mystisch-sinnliche
Begeisterung hineinzieht, die jedoch
nicht die eines Liebenden ist, sondern
sich, so die finale Pointe, als
leidenschaftliche Musikverehrung ent-
puppt. Zugleich aber höhlt Proust Denk-
und Stilmuster aus, prägt sie um, ent-
wickelt sie neu. Es ist eher eine Arbeit in

der Materie als ein Hantieren mit Stoffen:
Proust denkt und schreibt sich seinen Weg
aus der Fülle heraus, sortiert, sondert aus,
justiert anders – noch ohne konkretes
Ziel. Am Ende sind viele Werte ent- oder
umgewertet, etwa die christlichen Topoi.
Ein großes Thema des Werks, die
Homosexualität, dominiert, etwa in der
Titelnovelle „Le mystérieux correspon-
dant“ (Der geheimnisvolle Briefschrei-
ber). Es ist eigentlich eine Schreiberin,
das aber weiß die Adressatin nicht: Brüsk
weist sie das anonyme Werben zurück
und wundert sich über das unerklärliche
Leiden ihrer Freundin. In zwei weiteren
Erzählungen ist Homosexualität zentral –
was sicherlich erklärt, warum sie nicht
aufgenommen wurden: Weder ein Skan-
dal noch eine starke thematische Ausrich-
tung der Sammlung dürften in Prousts
Sinn gewesen sein. Interessant ist das
Wechselspiel von Zeigen und Verbergen,
das hier beginnt und in der „Suche nach
der verlorenen Zeit“ zu einem raffinier-
ten Arrangement entwickelt werden
wird. „Der geheimnisvolle Briefschrei-
ber“ verwendet eine durchsichtige Ca-
mouflage, indem die gleichgeschlechtli-
che Zuneigung zwischen Frauen steht.
Da wirkt der in einen Brigadier verliebte
Hauptmann von „Souvenir d’un capitai-
ne“ (Erinnerung eines Hauptmanns),
also Männerliebe in Ich-Form, unverhofft
direkt, auch wenn den Erzähler seine Ge-
fühle verwirren. Es handelt sich um die
einzige publizierte Novelle: „Le Figaro“
hatte sie 1952 zum dreißigsten Todestag
gedruckt – das überrascht. Weniger gilt
das für die Erinnerungsthematik.

Die Erzählungen sowie die Dokumen-
te des Anhangs stammen aus dem Privat-
archiv von Bernard de Fallois (1926 bis
2018). Fallois war ein bedeutender Verle-
ger, unter anderem als Leiter von Hachet-
te, später auf eigene Rechnung. Vor sei-
ner Karriere im Verlagswesen allerdings
war er Proust-Forscher: Bereits 1952 hat
er auf Basis der Manuskripte „Jean San-
teuil“ und zwei Jahren darauf „Contre
Sainte-Beuve“ bei Gallimard veröffent-
licht. Eine Doktorarbeit zum Frühwerk
wurde nie vollendet: Jener Teil davon,
der gefunden wurde, ist kürzlich unter
dem Titel „Proust avant Proust“ (Proust
vor Proust) postum erschienen.
Ediert hatte ihn der Proust-Experte Luc
Fraisse, Professor an der Universität Straß-
burg, der nun auch die Erzählungen her-
ausgibt. Die Manuskripte sind unter-
schiedlicher Herkunft: Zu manchen gibt
es Verkaufsunterlagen, andere hat Fallois
vermutlich direkt von Prousts Nichte erhal-
ten, mit der er in Kontakt war, wie Fraisse
im Gespräch mitteilt; sie waren ordentlich
sortiert. Fallois hat sie der Bibliothèque
nationale de France vermacht, weil er
wollte, dass sie der Öffentlichkeit zugäng-
lich sein sollten; diesem Wunsch ent-
springt auch die Sammlung von Erzählun-
gen, die dem Leser durch eine Reihe farbi-
ger Fotografien einen konkreten Eindruck
der Materialien vermittelt.
Ob Proust die Publikation gutgeheißen
hätte, ist fraglich, obwohl er manche Stü-
cke zeitweise in „Freuden und Tage“ auf-
genommen hatte, wie ebenfalls entdeckte
Inhaltsverzeichnisse zeigen. Allerdings
hegte Proust selbst dem Band gegenüber

gemischte Gefühle: „Freuden und Tage“
hatte eine schwere Geburt, die sich we-
gen der schleppend gelieferten Illustratio-
nen von Madeleine Lemaire drei lange
Jahre hinzog; es war ein kommerzieller
Misserfolg, trotz des Vorworts von Anato-
le France, und die Leserschaft lag vermut-
lich im zweistelligen Bereich. Später hat
Proust einerseits die „leichten Seiten“ des
Bandes (so ein Brief 1920) abgelehnt,
sich andererseits nach der stilistischen
Virtuosität seiner Jugend zurückgesehnt


  • die vielleicht gerade deshalb so groß
    war, weil der eigene Ton noch fehlte.
    Das ist auch in den Erzählungen von
    „Le Mystérieux Correspondant“ der Fall,
    was aber nicht bedeutet, dass es keine ty-
    pischen Proust-Sätze gäbe. Ein schönes
    Exemplar findet sich in „Jacques Le-
    felde“, einer Schriftsteller-Novelle, deren
    Held sich aus unbekanntem Grund an
    der Natur des Bois de Boulogne ergötzt:
    „Und der Geist, der darunter leidet, von
    einem Gesprächspartner, einem Interes-
    se oder einer zu nahen Mauer beengt zu
    werden, dehnt sich fröhlich, königlich,
    frei in den unendlichen Perspektiven aus
    und zieht mühelos, mit einer berauschen-
    den und melancholischen Geschwindig-
    keit die Läufe des Wassers und der Jahre
    hinauf.“ Solche Sätze, die selbst wie Flüs-
    se mäandern, stehen neben anderen, die
    wie Pastiches oder Kopien wirken.
    Schließlich finden sich autobiographi-
    sche Gedanken, kurioserweise in dem
    Märchen „Le don des fées“ (Die Gabe
    der Feen): „Ich bin die Fee der unverstan-
    denen Feinfühligkeit. Alle werden dich
    verletzen, die, welche du nicht lieben
    wirst, jene, welche du lieben wirst noch
    mehr.“ Dem Erzähler entstünden daraus
    Grübeln, Schlaflosigkeit und schließlich
    ein alter Geist in einem jungen Körper –
    in Selbstaussagen Prousts klingt das
    nicht anders. Die Fee macht dann die Ha-
    ben-Seite auf: Die Krankheit „wird dir er-
    lauben, anderen Beschäftigungen nach-
    zugehen, die die Menschen normaler-
    weise vernachlässigen, welche du im Mo-
    ment deines Ablebens vielleicht für die
    einzig wichtigen halten wirst. Vor allem,
    wenn ich sie befruchte, hat die Krankheit
    Vorzüge, welche der Gesundheit fehlen.“
    Prophetische Worte.
    Der Anhang präsentiert spätere Doku-
    mente aus dem Umfeld der „Suche nach
    der verlorenen Zeit“. Sie liefern zum Bei-
    spiel den Beleg, dass Proust Joseph Baru-
    zis Studie „La Volonté de Métamor-
    phose“ (Der Wille zur Verwandlung,
    1909/11) gelesen hat, die versucht, den
    Willen im Sinne Schopenhauers mit In-
    dividualität zu versöhnen; das wirft ein
    neues Licht auf Prousts Schopenhauer-Re-
    zeption. Auch zur vieldiskutierten Gliede-
    rung der „Suche“ in sieben Bände, den Fa-
    milienverhältnissen von Swann oder den
    Vorbildern der Mädchenschar von „Im
    Schatten junger Mädchenblüte“ – eigent-
    lich eine Gruppe junger Golfspieler, de-
    nen eine (missratene) Ode gewidmet ist –
    geben die Handschriften Aufschluss.
    „Le Mystérieux Correspondant“
    schenkt genussvolle Momente, wertvolle
    Einblicke, verfeinert das Proust-Bild –
    und lässt bedauern, dass die Texte nicht
    Teil von „Freuden und Tage“ wurden,
    denn vollendet hätten sie aus dem Früh-
    werk „ein viel bedeutenderes Buch“
    (Fraisse) gemacht hat. Am Ende bleibt
    Fallois’ zentrale Einsicht: dass Proust
    nicht erst ein mondänes Leben geführt
    und dann, in den Jahren von Reife und
    Krankheit, wie besessen geschrieben
    hat. Nein, auch den jungen Proust muss
    man sich als Graphomanen von Welt vor-
    stellen. NIKLAS BENDER


Weimar ist in vieler Munde, und das nicht
erst seit „Babylon Berlin“. Seit einiger Zeit
ist auch unter Historikerinnen und Histori-
kern das Interesse an der ersten deutschen
Republik wiedererwacht. Die Zwanziger
Jahre rücken gefühlt näher, mit ihren Wirt-
schaftskrisen, politischen Extremen, Zu-
kunftsängsten und Ausgrenzungsszena-
rien. Historische Forschung ist immer
auch ein Spiegel gegenwärtiger Interes-
sen, Sensibilitäten und offener Fragen. Mi-
chael Brenners neues Buch folgt diesem
Bedürfnis und ist dabei so lehrreich, dass
man es Lehrern, Journalisten und Antise-
mitismusbeauftragten als Lektüre empfeh-
len möchte – und allen anderen auch:
Denn „Der lange Schatten der Revolu-
tion“ ist trotz seiner wissenschaftlichen
Qualität unterhaltsam, überraschend und
kurzweilig – ein Münchner Revolutionskri-
mi gewissermaßen.
Wer braucht schon Berlin? Wer nach
dem Ersten Weltkrieg so richtig was erle-
ben wollte, der kam nach München: Kurt
Eisner zum Beispiel, der die sieben Jahr-
hunderte regierende Dynastie der Wittels-
bacher stürzte, innerhalb weniger Wochen
den Achtstundentag und das Frauenrecht
einführte und Vater des Freistaates wurde


  • er, der Revolutionär und „preißische
    Jud“. Oder Gustav Landauer, der Schrift-
    steller und Anarchist, kurzfristig Volks-
    kommissar für Volksaufklärung, Unter-
    richt, Wissenschaft und Künste, auch er
    kein Bayer, aber Deutscher und Jude.
    Juden und Revolution, so recht traute
    sich da lange niemand dran. In den zahlrei-
    chen Publikationen zum hundertjährigen
    Jubiläum der Münchner Räterepublik
    wird nur zaghaft auf den jüdischen Hinter-
    grund der Protagonisten verwiesen –
    höchstens werden sie als Juden beschrie-
    ben, die sich nicht mehr als solche verstan-
    den. Diese Vorsicht ist nur allzu verständ-
    lich, wurden jüdische Revolutionäre doch
    schon in den Zwanzigerjahren instrumen-
    talisiert und zu Sündenböcken gemacht,
    die Schuld gewesen seien am Aufstieg des
    Nationalsozialismus. Hitler selbst hatte
    diese fragwürdige Verbindung hergestellt
    und die gescheiterte Revolution als seine
    Motivation beschrieben – dabei käme die-
    se Ehre viel eher den reaktionären, konser-
    vativen Kräften zu, die die Revolution bru-
    tal niederschlagen ließen.
    Hinter der Vorstellung, die Hinwen-
    dung zur Revolution käme einer Abwen-
    dung von jüdischer Identität gleich, steckt
    aber noch mehr: ein Missverständnis dar-
    über, was jüdische Identität zumal seit
    dem neunzehnten Jahrhundert ausmacht.
    Denn viele Protagonisten und Protagoni-
    stinnen der Revolution verstanden sich
    als jüdisch, fühlten sich der jüdischen Ge-
    meinschaft zugehörig, wenn auch keiner
    Gemeinde. Sie waren nicht religiös, son-
    dern betrachteten ihr Judesein als Ergeb-
    nis einer sozialen und kulturellen Gene-
    se. Eisner, Landauer, Toller oder Mühsam
    waren Teil einer intellektuellen Minder-
    heit, und die weitaus konservativeren jüdi-
    schen Gemeinden taten sich schwer mit
    ihnen.
    Man konnte damals wie heute jüdisch
    sein, aber an verschiedenen Enden des po-
    litischen Spektrums stehen. Dafür gibt
    Brenner eine Vielzahl von Beispielen, in-
    dem er den Revolutionären bekannte oder
    weniger bekannte Biographien von der an-
    deren Seite des politischen Spektrums ge-
    genüberstellt: etwa die des völlig vergesse-
    nen Publizisten Paul Nikolaus Cossmann,
    Katholik jüdischer Herkunft und ein Ver-
    fechter der antisemitischen Dolchstoßle-
    gende; oder die Geschichte von Graf
    Arco-Valley, jenem jungen Mann, der so
    gern Antisemit gewesen wäre, aber wegen


der jüdischen Herkunft seiner Mutter aus
der Thule-Gesellschaft ausgeschlossen
wurde. Am 21. Februar 1919 feuerte Arco-
Valley die tödlichen Schüsse auf Kurt Eis-
ner ab, der für ihn nichts anderes war als
ein Landesverräter.
Michael Brenner beschreibt das Mün-
chen der Weimarer Republik als einen Ort
der Extreme, wo revolutionäre, liberale
und konservative Kräfte auf engem Raum
aufeinanderprallen: wo die Kirche einen
kruden Antisemitismus propagiert, wo Po-
litiker offen und unverblümt die Deporta-
tion der sogenannten Ostjuden, Flüchtlin-
ge aus der Kriegszeit, fordern, wo in den
Bierhallen Hitler sein völkisch-nationalis-
tisches Testgelände vorfand und in den Sa-
lons ein williges Großbürgertum, das sei-
ne Eskapaden finanzierte, und wo nicht
zuletzt die Justiz wieder und wieder ver-
sagte und ihrer Aufgabe, die Demokratie
zu schützen, nicht nachkam.
Die jüdischen Sozialisten und Kommu-
nisten, die sich damals so hartnäckig für
eine gerechtere Gesellschaftsordnung ein-
setzten, lebten gefährlich. Franz Kafka be-
merkte 1920 lapidar: „... den jüdischen So-
zialisten und Kommunisten verzeiht man
nichts, die ertränkt man in der Suppe und
zerschneidet sie beim Braten.“ In Mün-
chen ertränkte man sie in der heimischen
Bierseligkeit, alt wurden die wenigsten.
Der Heidelberger Mathematiker Emil Juli-
us Gumbel beobachtete die Häufung politi-
scher Morde in den ersten Jahren der Wei-
marer Republik mit Sorge, und seine 1922
veröffentlichte Statistik zeigte sowohl ein
eklatantes Missverhältnis zwischen links
und rechts als auch die Einäugigkeit der
Justiz: Von 354 rechten Morden blieben
326 ungesühnt, bei den 22 linken Morden
sah es ganz anders aus.
Und so endet Michael Brenners Buch
auch mit einem Gang über einen Fried-
hof, den Neuen Israelitischen Friedhof im
Norden der Stadt – ein Ort, den die meis-
ten Münchnerinnen und Münchner heute
genauso wenig kennen wie Reisende, die
die Sehenswürdigkeiten der Stadt abklap-
pern. Er führt seine Leser und Leserinnen
zu drei Gräbern: zu dem kleinen, unschein-
baren Grabstein von Sarah Sonja Lerch-
Rabinowitz, der Mitstreiterin Kurt Eis-
ners, die sich in Stadelheim das Leben
nahm, nachdem ihr protestantischer Ehe-
mann erklärte, sich aus Karrieregründen
von ihr scheiden lassen zu wollen; zu dem
weitaus imposanteren Grab von Eugen Le-
viné, ganz aus schwarzem Marmor – der
russischstämmige Anarchist war 1919 am
jüdischen Friedhof beigesetzt worden,
nachdem er zum Tode verurteilt und er-
schossen worden war; und zuletzt zum
Doppelgrab von Kurt Eisner und Gustav
Landauer – die sterblichen Überreste der
beiden Politiker waren 1933 hierher über-
führt worden, vom Waldfriedhof und vom
Ostfriedhof, als unter Hitler die Ausgren-
zung der deutschen Juden bis über ihren
Tod hinaus beschlossen wurde.
Ihr Tod erzählt vom Antisemitismus als
politischem Kalkül in einem Deutschland
der Extreme und der gesellschaftlichen Po-
larisierung, aber er erinnert auch an eine
Geschichte von Visionären, deren Begriff
von Gemeinschaft, Solidarität und Ge-
rechtigkeit geprägt war von den Erfahrun-
gen jener, die sich Zugehörigkeit hatten
hart erarbeiten müssen.MIRJAM ZADOFF

Marcel Proust: „Le
Mystérieux Correspondant
et autres nouvelles
inédites“.

Édition de Luc Fraisse.
Éditions de Fallois,
Paris 2019.
176 S., Abb., br., 18,50 €.

Michael Brenner:
„Der lange Schatten der
Revolution“. Juden und
Antisemiten in Hitlers
München 1918–1923.

Suhrkamp Verlag,
Berlin 2019.
400 S., geb., 28,– €.

Ganz er selbst, auch schon in jungen Jahren


Marcel Proust, aufgenommen im Jahr 1891 Foto Mauritius


Zusammenstöße


an einem Ort der Extreme


Michael Brenner über Juden und Antisemiten
im München der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg

VeranstaltungenamStandderF.A.Z.:


Samstag, 19. Oktober 2019


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BarbaraKlemm,„ZeitenBilder“

13.50−14.15Uhr
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schmidt,„Blau.WiedieSchönheitindieWeltkommt“

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SusanneKreller,„ElektrischeFische“

16.30−16.55Uhr
SimonStrauß(F.A.Z.)imGesprächmitReinhardMüller,
demHerausgebervon„InguterVerfassung.
70JahreGrundgesetz“

*Dieses Gespräch findet auf Englisch statt.


In Frankreich ist ein


Bandmit bislang


unveröffentlichten


Texten von Marcel


Proust erschienen.

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