Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.10.2019

(Nora) #1

SEITE 16·SAMSTAG, 19. OKTOBER 2019·NR. 243 Literarisches Leben FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


E


in Gedicht über eine Neugeburt. Es
gibt nur wenige Gedichte über die-
ses elementarste (das Wort „Element“
findet sich nicht zufällig am Ende der
Strophe) aller Ereignisse, was erstaun-
lich ist, wenn man die Vielfalt der Poe-
sie über den Tod und die endlosen lyri-
schen Varianten über das Sterben be-
denkt. Obwohl Geburt und Sterben sich
statistisch mehr oder minder die Waage
halten, sind Geburten ein kaum besun-
genes Ereignis. Gebären ist wohl Frau-
ensache, und man überlässt die nicht zu
übersehende Unvermeidlichkeit des
Vorgangs den dichtenden Müttern, de-
ren es nicht sehr viele gibt.
Biographisch feiert das Gedicht die
Geburt von Frieda, der Tochter von Syl-
via Plath und Ted Hughes, im März des
Jahres 1961. Es ist keine besondere Ge-
burt, sondern eine ganz normale. Das
Baby ist erwünscht, ein Kind der Liebe,
ein gesunder Säugling, der von den An-
wesenden begrüßt wird und dem die
Hebamme, wie vorgeschrieben, auf die
Füße haut, damit es schreit und somit
seine Lebensfähigkeit bestätigt.
Doch dieses Kind ist nicht nur in die
Welt der Liebe, sondern auch in die der
Vernunft hineingeboren, verdeutlicht in
den Mechanismen der Ratio. Bei der
Uhr, diesem beliebten Werkzeug der
Aufklärung, von dem hier die Rede ist,
handelt es sich aber nicht um irgendei-
ne Uhr, sondern um ein dickes, golde-

nes Exemplar, also um eine Kostbarkeit,
eine zweifellos wertvolle Bereicherung
der Gesellschaft. Und außerdem ist die
kleine Tochter – wie ein neues Kunst-
werk in einem Museum – in die Welt der
Kultur hineingeboren, deren Wände
dementsprechend im Gedicht noch viel
Platz für den Neuankömmling haben.
Ein Kind für alles, was die Welt zu bie-
ten hat.
So weit die ersten beiden Strophen.
Die Leserin macht hier eine Pause und
überlegt, was sie sonst noch über die
Dichterin und Mutter Sylvia Plath weiß:
Eine berühmte Selbstmörderin, 1932 in
der Nähe von Boston geboren, Tochter
einer Lehrerin mit österreichischen
Wurzeln und eines deutschstämmigen
Biologieprofessors, der starb, als die
Tochter acht Jahre alt war. Kurz darauf
begann sie mit dem Schreiben von Ge-
dichten. 1963 in London von eigener
Hand gestorben, Lyrikerin und Verfasse-
rin von Kurzgeschichten und mehreren
Kinderbüchern.
Ihr einziger Roman trägt den Titel
„Die Glasglocke“ und war von seiner
Autorin ursprünglich nur zum Zweck
des Gelderwerbs, als reine „Brotarbeit“,
gedacht. Es war ihr Ehemann, der engli-
sche Schriftsteller Ted Hughes, der auf
die Verbindungslinien zwischen dem
Roman und dem Lyrikband hinwies, an
dessen Beginn die vorliegenden Verse
zu finden sind. Sie zeigen sich vor allem

in den Symbolen, die in beiden Büchern
Verwendung finden. Über den Gedicht-
band „Ariel“ sagte ihr Schriftstellerkol-
lege Robert Lowell, bei dem sie 1959
ein Seminar besucht hatte: „Das sind
Gedichte, die Russisches Roulette mit
sechs Patronen im Lauf spielen.“ „Die
Glasglocke“ erschien wenige Wochen
vor dem Tod der Verfasserin, „Ariel“
erst danach.
In „Morning Song“, so der amerikani-
sche Originaltitel des Gedichts, um das
es hier geht, singt Sylvia Plath eine
Hymne auf das Leben, um sich in der
dritten Strophe vom Lebensanfang auf
das Lebensende vorzubereiten. Diese
neue Mutter sieht sich in der Mitte des
Gedichts, in einem schwierigen Bild
von Wind und Wolke, als ein Opfer der
Vergänglichkeit, aber gleichzeitig als
Teil eines Ganzen, mit einem „fernen
Meer“ im Ohr. Das Kind ist zwar ein
Einzelwesen, aber gleichzeitig ein Stück
Unendlichkeit im Hinweis auf „andere
Elemente“, von denen das menschliche
Leben nur eines ist. Gleichzeitig ist sie,
die Mutter, immer noch ein ani-
malisches, in gewissem Sinne primitives
Einzelwesen, „kuhschwer“ – mit der
Milch fürs Neugeborene. Sie tappt sich
zum Lebensende voran, aber bleibt
dabei selbst ein Übergangsphänomen
(in viktorianischen Gewändern), dem
die nächsten Generationen folgen wer-
den.

Am Ende sind aus dem „nackten
Schrei“ der ersten Strophe die Luftbal-
lons der klaren Vokale in der letzten
Strophe geworden, wie ein lebensbeja-
hendes Jauchzen aus einem Mund, der
so klar ist wie der einer sauberen klei-
nen Katze, ein liebenswertes Einzelwe-
sen im heller werdenden Morgengrauen
des Fensterrahmens. Das Leben siegt in
der Begegnung von Mutter und Kind in
einem Gedicht das, wie kaum ein ande-
res, in präzise gewählten Bildern, von
glücklichen Lebensanfängen spricht.

Sylvia Plath: „Ariel“. Gedichte. Zweisprachige
Ausgabe. Aus dem Amerikanischen von Erich
Fried. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 182 S.,
geb., 11,95 €.

Von Ruth Klüger ist zuletzt erschienen: „Zer-
reißproben“. Kommentierte Gedichte. Deut-
scher Taschenbuch Verlag, München 2016. 120
S., br., 9,90 €.

Eine Gedichtlesung von Thomas Huber und
das Gedicht in seiner Originalsprache finden
Sie unter http://www.faz.net/anthologie.

Die Liebe hatte dich wie eine dicke goldene Uhr aufgezogen.
Die Hebamme haute auf deine Sohlen, und dein nackter Schrei
Fand seinen Platz bei den anderen Elementen.

Unsere Stimmen verstärken deine Ankunft. Neue Statue
In einem zugigen Museum. Deine Nacktheit beschattet
Unsere Sicherheit. Wir stehn da, wie leere Wände.

Ich bin nicht mehr deine Mutter
Als die Wolke, die wie ein Spiegel ihr eigenes langsames
Auslöschen durch die Hand des Winds destilliert.

Die ganze Nacht flattert dein Motten-Atem
Bei den flachen rosafarbenen Rosen.
Ich wache und höre: Ein fernes Meer weht in mein Ohr.

Ein einziger Schrei und ich stolpere aus dem Bett,
kuhschwer und blumig
In meinem viktorianischen Nachthemd.

Dein katzenreiner Mund öffnet sich.
Der Fensterrahmen
Wird heller und schluckt seine dumpfen Sterne.

Und jetzt probierst du
Deine Handvoll Musiknoten;
Die klaren Vokale schweben wie Luftballons.

Aus dem Amerikanischen von Ruth Klüger


Frankfurter Anthologie Redaktion Hubert Spiegel


Ruth Klüger


Über das Geborenwerden


Sylvia Plath


Morgenlied


A


m 8. September 1919 erschien
in der „New York Times“ auf
Seite sechs unter der Über-
schrift „Ukrainische Juden
wollen Pogrome stoppen“ ein
kurzer Artikel über die Ermordung von
127 000 Juden in der Ukraine seit Beginn
des Jahres. „6 000 000 sind in Gefahr“ lau-
tete der Untertitel. Der Bericht über eine
Versammlung in New York, in der über die
brutalste Gewalt gegen Juden seit den tie-
rischen Überfällen der Truppen Bohdan
Chmelnyzkyjs im Jahr 1648 berichtet wur-
de, schloss mit den Worten Joseph Seffs:
„Die Tatsache, dass sechs Millionen See-
len in der Ukraine und in Polen in Wort
und Tat davon in Kenntnis gesetzt wur-
den, dass sie völlig vernichtet werden sol-
len – diese Tatsache steht heute der Welt
vor Augen als wichtigstes Anliegen unse-
rer Zeit.“
Nur 22 Jahre sollten vergehen, bis die
deutsche Besetzung der Ukraine die Um-
setzung der Auslöschungsdrohung ermög-
lichte. Die 1200 Pogrome der Jahre 1918
bis 1921, bei denen, konservativ ge-
schätzt, 100 000 ukrainische Juden auf
entsetzliche Weise ermordet wurden,
sind nach 1945 von der kaum begreif-
lichen Dimension der Schoa so weit in
den Schatten gestellt worden, dass sie ge-
legentlich schon der „vergessene Geno-
zid“ genannt wurden. Im jüdischen Be-
wusstsein aber waren diese Pogrome im-
mer präsent, denn sie fanden just zu einer
Zeit statt, als die jiddische Kultur in der
Ukraine nach der Befreiung vom zaristi-
schen Joch einen alle mitreißenden kreati-
ven Aufschwung genommen hatte.
Dieser Freisetzung fulminanter intel-
lektueller und kreativer Energien ent-
sprach in der seit Jahrhunderten geknech-
teten ukrainischen Bevölkerung die Frei-
setzung einer bislang herrschaftlich kon-
trollierten Gewaltbereitschaft (so der His-
toriker Felix Schnell schon 2008). Sie ent-
lud sich in Hunderten von Dörfern und
kleinen Städten, sobald bewaffnete Män-
ner auftauchten, egal ob sie zu Simon Pet-
juras ukrainischen Nationalisten, zur mo-
narchistischen Weißen Armee Anton De-
nikins, zur anarchistischen Schwarzen
Armee Nestor Machnos oder zu den „grü-
nen“ Bauernarmeen und Banden unab-
hängiger Warlords (Atamane) gehörten.
In weniger als zehn Prozent der Fälle war
die Rote Armee an Pogromen beteiligt.
Die Ankunft von Bewaffneten (in der
zweiten Welle von Februar 1919 an häu-
fig mit der Eisenbahn) aktivierte oft
einen lokalen Mob, der mit Säbeln und
landwirtschaftlichen Geräten auf die als
Christusmörder, Ausbeuter und Juden-
Bolschewiken dämonisierten unbewaffne-
ten jüdischen Nachbarn losging. Die Män-
ner wurden erschlagen, erstochen oder er-
schossen, Kinder mit Bajonetten getötet,
Mädchen und Frauen zu Zehntausenden
vergewaltigt. Es war, so der amerikani-
sche Politologe Daniel Pipes, das größte
Morden vor dem Holocaust.
Die Reaktion der jüdischen Intellektu-
ellen auf diese quantitativ und qualitativ
neue Gewaltentfesselung, war, wie im-
mer nach Katastrophen, Zeugenschaft
und Dichtung – allerdings schon nicht
mehr in der Ukraine, sondern im Exil. In
Warschau, Moskau und Berlin schufen Pe-
retz Markisch, Leib Kwitko und David
Hofstein erschütternde lyrische Zyklen:
„Di kupe“ (Der Haufen, 1921) und
„1919“ (1923), beide illustriert von Iosif
Tschaikow, und „Troier“ (Trauer, 1922),
illustriert von Marc Chagall. Im Jahr
1926 folgte noch Itsik Kipnis’ formal raf-
finierter und emotional verstörender Ro-
man „Chadoschim un teg“ (Monate und
Tage), der Liebe und Tod, Flitterwochen
und Blutrausch als Pas de deux inszenier-
te. Dichtung würde die Mörder überle-
ben und die Toten verewigen.

Es ist darum nicht verwunderlich, dass
in jüngster Zeit amerikanische Literatur-
wissenschaftler und Historiker, deren
Gebiet die jiddische und russisch-jüdi-
sche Kultur ist, damit begonnen haben,
die Pogrome von 1918 bis 1921 aus den
reichlich vorhandenen Zeugenaussagen
zu rekonstruieren und den zeitgenössi-
schen Hinweisen auf den Genozid-Cha-

rakter der Morde nachzugehen. Der Histo-
riker Jeffrey Veidlinger (University of Mi-
chigan) untersucht derzeit die vorberei-
tende Rolle, die das Blutvergießen zwi-
schen 1917 und 1921 dabei spielte, „die
Ermordung von Juden zu normalisieren
und die Bedingungen für den Genozid zu
schaffen. Als Wehrmacht und Einsatz-
gruppen im Sommer 1941 in die ukraini-

schen Städte rollten, um mit der Auslö-
schung der europäischen Juden zu begin-
nen, besetzten sie ein Gebiet, in dem der
Massenmord an Juden seit Jahrzehnten
ein bekanntes Muster war.“ Veidlinger
weist darauf hin, dass viele Täter noch
nicht einmal zwanzig Jahre alt waren.
Also waren sie im Sommer 1941 erst An-
fang vierzig. „Gewalt gegen Juden war für

sie nichts Außergewöhnliches. Es ent-
sprach ihrem Vorstellungsmuster“, zumal
die deutschen Besatzer die Juden eben-
falls als Bolschewisten dämonisierten
und damit die Rechtfertigungsstrukturen
der Jahre 1917 bis 1921 reaktivierten. Die
Handlungen der Deutschen bestätigten
den ukrainischen Tätern die Richtigkeit
des eigenen Handelns in der Jugendzeit.
In Deutschland sind die Pogrome des
Russischen Bürgerkriegs schon seit
einem Jahrzehnt Gegenstand der Gewalt-
forschung. In seiner wegweisenden Analy-
se der Pogrome im podolischen Städtchen
Gajsin im Frühjahr 1919, bei denen vier-
tausend Menschen starben, arbeitete Fe-
lix Schnell die fundamentalen psycho-
dynamischen Strukturen der Pogrome
und die Bedeutung kollektiver Gewaltaus-
übung für Kohäsion und Identität eines
Kollektivs im staatsfernen Raum heraus.
Schnell fand in den Memoiren Govo-
ruchins, eines Offiziers der Armee des Za-
ren, eine Beschreibung der Vorgehenswei-
se des dreiundzwanzigjährigen Ataman
Ananij G. Volynec, eines Bauernsohns
aus Gajsin: Nachdem Volynec sich vor
den Bolschewiken in ein nahes Dorf zu-
rückgezogen hatte, begann er dort, gegen
die „‚Juden-Bolschewiken‘ zu agitieren.
Bald kochte der Bezirk vor Hass, und Vo-
lynec gelang es, fast zehntausend Bauern
um sich zu sammeln. Im März 1919 konn-
te er Gajsin kampflos einnehmen, da das
jüdische Bataillon und die Sowjetmacht
angesichts der numerischen Über-
legenheit der Bauern geflohen waren.
Die Eroberung wurde sofort durch Ge-
waltausübung rituell bestätigt. „Volynec“,
so erinnert sich Govoruchin, „rechnete
grausam mit den Juden ab: die Bauern ver-
anstalteten einenPogrom. Alle Geschäfte
und Läden wurden verwüstet. Ungefähr
eintausend Juden wurden am ersten Tag
der Herrschaft von Volynec ermordet. Es
litten vor allem die Frauen, die Alten und
die Kinder, weil alle jungen waffenfähi-
gen Juden in das jüdische Bataillon gegan-
gen waren. Ich habe selbst auf der Straße
eine Jüdin mit einem ungeheuren Pfahl
im Unterleib gesehen. Die Misshand-
lungen ließen keinen Juden aus. Das
bäuerliche Wesen wirkte sich auf die
Söhne der Ukraine aus und brachte aus ih-
nen all ihre Erniedrigungen heraus. Am
anderen Tag gingen die Bauern in ihre
Dörfer zurück, nachdem sie die Stadt aus-
geraubt hatten – nur zweitausend Bauern
blieben in Gajsin. Der Pogrom hörte auf.
Man muss hinzufügen, dass einzelne Per-
sonen zu den Häusern der Juden gingen,
sie ausraubten und manchmal auch um-
brachten.“

D


er junge Volynec blieb und er-
richtete ein Terrorregime.
Schnells Fazit lautet: „Der
Mord an den Gajsiner Juden
hatte seinen Grund nicht so
sehr in Antijudaismus oder Antisemitis-
mus. Er baute vielmehr auf diesen Versatz-
stücken der Alltagskultur in den Westgou-
vernements des Zarenreichs auf und hatte
eine symbolische und regelrecht rituelle
Bedeutung für die Kriegergemeinschaft
und ihren Anführer Volynec selbst. Wie-
derholtes grenzüberschreitendes Handeln


  • das Töten und Quälen wehrloser Opfer,
    an denen man sich vermeintlich vergehen
    durfte – stärkte die Fähigkeit der Gewalt-
    ausübung, indem es moralische Schran-
    ken schrittweise abbaute. Der Kult der Ge-
    walttätigkeit wurde auch durch äußere At-
    tribute unterstrichen.“
    Zu den frühesten Atamanen dieser Art
    gehörte Oleksei Kozyr-Zirko, der im Ja-
    nuar 1919 in Owrutsch drei Wochen lang
    ein groteskes Regime der Gewalt errichte-
    te. Die Juden mussten vor ihm tanzen,
    während er mit der Peitsche knallte. Sie
    wurden mit Narrenkappen auf den Köp-


fen und Kerzen in den Händen auf Stühle
gesetzt und mussten jiddische Lieder
nachsingen, deren Worte man ihnen vor-
sprach, während Kozyr-Zirko mit einem
Freund im Bett lag und sich vor Lachen
schüttelte. Als einer der Juden in seiner
Erniedrigung zu weinen begann, wurde
er zu 120 Peitschenhieben verurteilt.
Erschießungen gaben Kozyr-Zirko Wor-
ten Autorität. Aus den Blusen der Frauen
ließ er Schals für sich schneidern.
Aber das waren Kindereien im Ver-
gleich zu dem, was sich etwa vom 2. bis
zum 20. Mai 1919 in der Domäne des Ata-
man Grigorjew abspielte, in Slatopol, Sna-
menka, Lebedin, Gorodische, Orlowets,
Solotonoscha, Rotmistrowka, Matusowo,
Bjeloserja, Smela, Jelisawetgrad, Nowo-
Mirgorod, Tscherkassy, Raigorod, Alexan-
drowka, Stepanowka, Semjonowka, Gros-
sulow und anderen Orten. Nachzulesen
ist das in einem Bericht, den Elias Hei-
fetz, der Vorsitzende des in Kiew gegrün-
deten „Allukrainischen Jüdischen Öffent-
lichen Komitees für die Unterstützung
von Opfern der Pogrome“ 1920 in New
York und 1921 in London veröffentlichte.
Sein Komitee beriet am 16. September
1921 über einen Antrag David Hofsteins,
Schriftsteller einzustellen, um von ihnen
in Tagebüchern und Chroniken das Aus-
maß der Pogrome dokumentieren zu las-
sen. Es ist möglich, dass Hofsteins Antrag
von der gerade aufkommenden sowjeti-
schen Technik der Faktografie inspiriert
war. Doch als Hofstein in Moskau selbst
mit der Komposition eines Werks über
die Pogrome begann, wählte er (wie
Puschkin und Mandelstam) als seinen
Ausgangspunkt die „Tristia“, Ovids elegi-
sche Reflexion über sein bitteres Exil am
Schwarzen Meer. Die Pogrome, so legt
Hofsteins „Troier“ nahe, machen ihn zum
Exilierten im eigenen Land.
Es war dann Hofsteins Protegé Kipnis,
der in seinen Roman „Chadoschim un teg


  • A Chronik“ literarische Zeugenschaft
    ablegte. Im Juli 1919 durchlebte der junge
    Kipnis, der gerade geheiratet hatte, ein Po-
    grom in seiner Heimatstadt Slowetschno.
    Er arbeitete in der Gerberei seines Vaters,
    die Familie lebte problemlos am Stadt-
    rand, Zaun an Zaun mit Ukrainern, die
    sie seit Jahrzehnten kannten. So war es
    Kipnis unbegreiflich, dass sein gleichaltri-
    ger Nachbar Marko Luchtans am 16. Juli
    plötzlich Pistole und Säbel ergriff, um die
    Juden der Stadt zu töten. Ihre Häuser wur-
    den geplündert (auch das von Kipnis),
    Juden, die in die umliegenden Dörfer
    flohen, wurden dort ermordet.
    Kipnis’ Roman ist faktografisch. Er
    nennt die Namen wirklicher Personen
    und beschreibt wirkliche Ereignisse. Dar-
    über hinaus aber ist er intensiv auf der Su-
    che nach den Gründen, die Marko Luch-
    tans über Nacht in einen Dieb und Mör-
    der verwandelt hatten. „Chadoschim un
    teg“ ist eine jüdische Innenansicht der Po-
    grome. Ein ukrainisches Pendant gibt es
    nicht. Dass „Chadoschim un teg“ als
    erstaunliches Kunstwerk der Avantgarde
    unbekannt blieb, hat natürlich mit der
    Auslöschung der jiddischen Kultur zu
    tun. Jiddische Autoren, die Pogrome und
    Holocaust überlebten, gerieten nach 1948
    als „reaktionäre Nationalisten“ in die GU-
    Lags. Yizchok Nusinow, der 1926 ein wer-
    bendes Vorwort zu Kipnis’ Roman verfass-
    te, starb 1950 in einem Moskauer Gefäng-
    nis Lubjanka, Kipnis selbst verbrachte die
    Jahre 1949 bis 1956 im Lager. Hofstein
    wurde am 12. August 1952 im Keller ei-
    nes Moskauer Gefängnisses exekutiert.
    Am 20. Juli 1921 erschien in der „New
    York Times“ auf Seite zwei unter der Über-
    schrift „Bittet Amerika 6 000 000 in Russ-
    land zu retten“ ein kurzer Artikel über
    Hungersnot und Pogrome in der Ukraine.
    „Massaker droht allen Juden“ lautete der
    Untertitel. SUSANNE KLINGENSTEIN


Wer legt Zeugnis ab?

Erschienen 1923 in Berlin: Leyb Kvitkos lyrisches Epos „1919“ über die Pogrome Foto Klingenstein


Vor hundert Jahren tobten in der Ukraine Pogrome gegen Juden:


Schon damals stellte sich die Frage, wie man davon erzählen könnte.

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