Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.10.2019

(Nora) #1

SEITE 2·SAMSTAG, 19. OKTOBER 2019·NR. 243 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


W


as ist bloß mit Kim Jong-un los?
Um den nordkoreanischen Dikta-
tor war es zuletzt so still geworden wie
um einen Schlagersänger, der nur noch
beim Räumungsverkauf in Teppichhäu-
sern auftritt. Sind ihm die Verwandten
ausgegangen, die er vor eine Kanone
binden kann? Sogar die Böllerei über
dem Japanischen Meer scheint ihm kei-
nen rechten Spaß mehr zu bereiten.
Und nun fängt er auch noch das Reiten
an! Wie Putin, allerdings noch mit be-
kleidetem Oberkörper. Kim legt sein
Exoskelett in Mantelform wohl nicht
einmal zum Schlafen ab.
Die Bilder, die den jungen Herrscher
auf einem Schimmel und dem heiligs-
ten Berg seines Landes zeigen, geben,
obwohl sie entfernt an „Ferien auf Im-
menhof“ erinnern, Anlass zu größter
Sorge. Dieser Aufgalopp war nicht ein
Notbehelf, weil der Panzerzug die Stei-
gung nicht mehr geschafft hätte. Der
Ritt auf dem Vulkan, so hieß es in der
Staatspropaganda, sei „ein großes Er-
eignis von gewichtiger Bedeutung in
der Geschichte der koreanischen Revo-
lution“. Üblicherweise wird in Pjöng-
jang mit solchem Geschwurbel ein dra-
matischer Kurswechsel angekündigt.
Will Kim Jong-un aus seinem Land
etwa einen Ponyhof machen? Wenn ja,
dann könnte ihm das nur der eingere-
det haben, der ständig vom unglaubli-
chen Potential Nordkoreas faselte. Es
ist durchaus vorstellbar, dass Donald
Trump auch seinem alten Freund Kim
einen Brief wie den schrieb, den er nun
an Erdogan schickte. Die bemerkens-
werten Formulierungen in dem Schrift-
stück deuten darauf hin, dass es sich
um ein Standardschreiben mit Textbau-
steinen handelt, in denen nur die Na-
men ausgetauscht werden müssen.

Auch Trump beruft sich in seinem
Brief auf die Geschichte. Sie werde Er-
dogan „für ewig als Teufel betrachten,
wenn nicht gute Dinge passieren“.
Und weiter: „Sie wollen nicht für das
Abschlachten von Tausenden Men-
schen verantwortlich sein, und ich will
nicht für die Zerstörung der türkischen
(nordkoreanischen, chinesischen, deut-
schen usw.) Wirtschaft verantwortlich
sein – und ich werde es tun.“
Trotz des auch inhaltlich überra-
schenden Rats in diesem Schreiben
(„Seien Sie kein Narr!“) kann es an der
Authentizität des Briefs keinen Zwei-
fel geben. Denn außer Trump hätte der-
zeit nur noch Boris Johnson glaubhaft
versichern können, nicht für die Zerstö-
rung einer Wirtschaft verantwortlich
sein zu wollen – und es trotzdem dar-
auf anzulegen. Der britische Premier-
minister bekam jetzt jedoch im aller-
letzten Moment kalte Füße.
Warum aber hat Trump sich nicht
auf Twitter an Erdogan gewandt? Das
ist sein üblicher Weg, wenn er drittklas-
sigen Politiker/innen mitteilen will,
dass sie nicht mehr ganz richtig im
Oberstübchen seien. Doch Erdogan
hatte erklärt, dass er es nicht mehr
schaffe, den Tweets Trumps zu folgen


  • wobei er offenließ, ob dieses Unver-
    mögen zeitlichen oder inhaltlichen
    Gründen geschuldet ist. Bei diesem
    Paar wäre beides möglich.
    O je, das hätten wir jetzt wieder
    nicht schreiben dürfen! Denn das ver-
    stößt gegen ein Gebot der Political Cor-
    rectness, dessen Beachtung kein Gerin-
    gerer als der AfD-Chef Gauland forder-
    te. Seine Frage „Wo bitte soll das hin-
    führen, wenn die Medien nicht ganz
    ohne Beteiligung der Politik die Regie-
    rungschefs von immerhin verbündeten
    und mächtigen Staaten als Clowns dar-
    stellen?“ beantwortete er auch gleich
    selbst: im Falle Trumps zur Flucht der
    amerikanischen Truppen aus Syrien.
    Im Klartext behauptet Gauland da-
    mit: Kolumnen wie diese, die im Auf-
    trag des Bundespresseamts oder Aus-
    wärtigen Amts geschrieben würden,
    hätten Trump dazu gebracht, die ameri-
    kanischen Stützpunkte so schnell zu
    räumen, dass die Cola noch kalt war,
    als die Russen in die Baracken einrück-
    ten.
    Wer diese Zeitung kennt, weiß: Ein
    solches Geschenk für Putin hätten wir
    nie gewollt! Dass uns solcher Einfluss
    auf die Weltpolitik zugeschrieben wird,
    schmeichelt uns aber natürlich schon et-
    was. Zudem wäre das Ganze, wenn
    Gaulands Behauptung stimmte, ein
    spektakulärer Beleg dafür, wie groß die
    „soft power“ der deutschen Außenpoli-
    tik ist. Unser Außenminister ein Dilet-
    tant? Also wenigstens das müsste Erdo-
    gan dann doch zurücknehmen. Und na-
    türlich sollte Ankara im selben Atem-
    zug Trump dafür danken, dass dieser
    Türken und Kurden immerhin „kurze
    Zeit kämpfen“ ließ wie raufende Kin-
    der, bevor er sie trennte. Damit hat
    Trump, wie er twitterte, Millionen Le-
    ben gerettet und der Zivilisation einen
    großartigen Tag beschert. „Clown“
    wäre also wirklich nicht der passendste
    Begriff für ihn. bko.


Johnson hat nichts mehr zu befürchten
Die konservative Pariser Tageszeitung „Le Figaro“
schreibt zum Brexit-Abkommen:
„Der Kompromiss muss am Samstag noch das Votum
im britischen Unterhaus überstehen. Boris Johnson hat
jedoch nichts mehr zu befürchten. Obwohl er in Rich-
tung eines ,No Deal‘ zu drängen schien, hat er eine gütli-
che Einigung ausgehandelt, mit der niemand mehr ge-
rechnet hat. Die britischen Abgeordneten, die zuletzt zu
allem nein gesagt haben, verdanken ihm die letzte Chan-
ce, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Wenn sie
sich abermals drücken, wird Großbritannien die EU am


  1. Oktober ohne Abkommen verlassen. In jedem Fall
    wird sich ,BoJo‘ vor den Wählern als derjenige präsentie-
    ren, der sein Brexit-Versprechen gehalten hat.“


Freihandel mit Großbritannien ist erstrebenswert
Die konservative tschechische Zeitung „Lidové novi-
ny“ kommentiert:
„Premierminister Boris Johnson strebt ein umfassen-
des Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union

an. Und zwar ein so weitgehendes, dass man davon aus-
gehen muss, dass Großbritannien nicht mehr über seine
eigene Zollpolitik entscheiden können wird. Dabei war
doch die Erneuerung der Souveränität in diesem Bereich
eines der Hauptargumente Johnsons für den Brexit. Soll-
te es dem Premier gelingen, dies seinen Abgeordneten
als einen harten Schlussstrich unter die EU-Mitglied-
schaft zu verkaufen, wäre er ein politisches Genie. Wir
sollten ihm diesen Erfolg wünschen, denn ganz Europa
würde davon profitieren.“

In London ist es schwieriger als in Brüssel
Die italienische Zeitung „La Repubblica“ sieht die ei-
gentliche Hürde im britischen Parlament:
„Und so hat ,General Brexit‘, Boris Johnson, endlich
Frieden mit Europa geschlossen. Nun bleibt abzuwarten,
ob er das auch mit seinem eigenen Parlament erreichen
kann. Johnson hatte eine andere Waffe als Theresa May.
Seine Vorgängerin, die beim Referendum 2016 für einen
Verbleib in der EU gestimmt hat, hat ihn deshalb nie ge-
mocht. Johnson dagegen ist der Schöpfer des Brexits:

Ohne ihn hätte er sich in der Volksbefragung nicht durch-
gesetzt. Er konnte der EU sogar größere Zugeständnisse
machen, und doch gibt es keine Vorwürfe gegen ihn we-
gen ,Heimatverrats‘. Aber General BoJo ist noch nicht
aus dem Labyrinth heraus, in das er Großbritannien mit
hineingetrieben hat. Es wird viel schwieriger sein, seine
Parlamentarier zu überzeugen, die Mays Abkommen
schon dreimal abgelehnt haben, als Brüssel.“

Britische Wähler sollten das letzte Wort haben
Die liberale schwedische Tageszeitung „Dagens Nyhe-
ter“ spricht sich für ein weiteres Referendum aus:
„Ein ,großartiger Deal‘ sei geschlossen worden, ver-
meldete Boris Johnson. EU-Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker bestätigte, man habe eine ,faire
und ausgewogene‘ Übereinkunft erzielt. Wenn das briti-
sche Parlament Johnsons Abkommen nun am Samstag
annimmt, bedeutet das, dass Großbritanniens EU-Aus-
tritt am 31. Oktober Fakt ist. Und es ist wahr, dass der
Brexit nicht in alle Ewigkeit verschoben werden kann.
Aber: Die britischen Wähler haben den Prozess in Gang

gesetzt. Nur sie können einen Punkt setzen – vorausge-
setzt, dass sie die Chance bekommen, ihre Meinung dazu
zu äußern. Das Hauptproblem ist, dass die Alternative
,Leave‘ vor drei Jahren ein Mysterium gewesen ist. Jetzt
wissen die Briten, wie die Scheidung aussehen soll. Am
besten wäre es, wenn sie in einem neuen Referendum
wählen könnten, ob sie das unterschreiben oder in der
EU bleiben wollen.“

Nordirland bleibt Achillesferse des Brexits
Die belgische Zeitung „De Standaard“ meint zur Eini-
gung:
„Nordirland bleibt die Achillesferse des Brexit-Deals.
Der blutige Konflikt zwischen den nordirischen Katholi-
ken, die eine Vereinigung mit Irland anstreben, und den
nordirischen Protestanten, die Teil Großbritanniens blei-
ben wollen, ist zwar offiziell beendet worden. Aber in
den Köpfen und selbst faktisch dauert der Konflikt wei-
ter an. Das Karfreitagsabkommen brachte die Waffen
zum Schweigen, aber es bedarf nicht viel, um die Gewalt
wieder aufleben zu lassen.“

FRAKTUR


STIMMEN DER ANDEREN


Clowns


FRANKFURT, 18. Oktober. Politische Ei-
nigkeit ist auf der irischen Insel selten,
aber die Brexit-Ängste aller Akteure in
Dublin und Belfast hatten meist den glei-
chen Ausgangspunkt: dass die heute oft
nicht einmal markierte Grenze zwischen
dem zum Vereinigten Königreich gehören-
den Nordirland und dem EU-Staat Irland
befestigt werden müsste. Selbst wenn statt
Schlagbäumen nur Kameras montiert wür-
den, gäbe es wieder ein materielles Sym-
bol der Teilung – ein Angriffsziel.
Die einen unken, dass bewaffnete IRA-
Splittergruppen Anschläge auf eine neue
Grenz-Infrastruktur verüben würden, um
das Joch der britischen „Besatzer“ doch
noch im Kampf abzuschütteln – oder um
ihre Schmuggelrouten zu retten. Die ande-
ren meinen, dass ganz normale Bürger
den Banden noch zuvorkämen. Denn für
Zigtausende Iren ist es Alltag, sich in bei-
den Ländern zu bewegen. Wer aber im
Norden lebt und im Süden arbeitet; wer an
einem normalen Tag vielleicht zehnmal
die unsichtbare Grenze passiert, der will
sich nicht plötzlich aufhalten lassen.
Sobald aber der Staat (ob der britische
oder der irische) für zerstörte Kameras,
Kontrollposten oder Ähnliches Ersatz be-
schafft, wird er diese Infrastruktur besser
schützen wollen. Das könnte sich hoch-
schaukeln und die Bilder eines Konflikts
heraufbeschwören, der fast jede irische Fa-
milie betroffen und unzählige Menschen
traumatisiert hat. Daher die allfällige War-
nung vor „britischen Soldaten an unserer
Grenze“. Weder die britische Premiermi-
nisterin Theresa May noch ihr Nachfolger
Boris Johnson haben bestritten, dass die
Grenze deshalb offen bleiben müsse.
Schwierig würde das, wenn nach dem
Ende der Brexit-Übergangszeit kein um-
fassendes Handelsabkommen zwischen
der EU und dem Königreich vorläge, das
Warenkontrollen überflüssig machte. Für
den Fall war einst der „Backstop“ erfun-
den worden, wonach entweder Nordirland
oder das ganze Königreich in der EU-Zoll-
union geblieben wäre. Das wollte Johnson
verhindern. Herausgekommen ist eine Mo-
gelpackung: Nach dem neuen „Deal“ schei-
det auch Nordirland offiziell aus der EU-
Zollunion aus – doch bleibt faktisch vor-
erst drin. Auf Waren, die etwa im Hafen
von Belfast ankommen, müssten also zu-
nächst EU-Zölle erhoben werden. Nur
wenn die Produkte nachweislich nördlich
der irischen Grenze verbleiben, würden
die Gebühren erstattet. Nordirische Wirt-
schaftsvertreter fürchten zwar den büro-
kratischen Aufwand. Es überwiegt aber
die Erleichterung, dass das Risiko eines
ungeregelten Brexits geschwunden ist. Zu-
mal sich die Unternehmen im Norden in
einer privilegierten Lage wiederfinden
könnten, in der sie freien Zugang zum bri-

tischen Markt wie zum EU-Binnenmarkt
hätten.
Arlene Foster, deren DUP den Ton im
Belfaster Unionistenlager angibt, wirft
Johnson dagegen vor, Nordirlands wirt-
schaftliche Interessen verraten zu haben.
Der Premierminister, so schrieb sie am
Freitag in der Zeitung „Belfast Tele-
graph“, hätte sich in Brüssel nicht auf so
weitreichende Warenkontrollen im „Ost-
West-Handel“ einlassen dürfen, also zwi-
schen Nordirland auf der einen Seite und
Schottland, England sowie Wales auf der
anderen. Womöglich hätte sich die DUP-
Chefin dennoch darauf eingelassen, wenn
nicht auch ihre andere Forderung aufge-
weicht worden wäre: dass die neue Auf-
fanglösung nur mit Billigung des nordiri-
schen Parlaments in Kraft treten könne.
Brüssel hatte sich in der Frage zwar be-
wegt, für die DUP aber nicht weit genug.
Erst vier Jahre nach dem etwaigen Inkraft-
treten der neuen Zollregeln darf das nord-
irische Parlament entscheiden, ob die
Übergangsregelung beibehalten wird.
Nun handelt es sich dabei um ein sehr
spezielles Parlament, in dem sich jeder
Abgeordnete entweder als (protestanti-
scher) Unionist, als (katholischer) Natio-

nalist oder als „Anderer“ registrieren
muss. Das Karfreitagsabkommen billigt
beiden Volksgruppen in heiklen Fragen
ein faktisches Vetorecht zu. Die Versamm-
lung ist ferner verpflichtet, eine unionis-
tisch-nationalistische Einheitsregierung
zu wählen. Da sie das nicht schafft, seit die
vorige Regierung 2017 über einen Skandal
um Energiesubventionen zerbrach, ist das
Parlament suspendiert; beide Lager schaf-
fen es nicht, Differenzen etwa über die Ho-
moehe oder die Förderung der irischen
Sprache zu überwinden.
Dieses Parlament soll nach der Brüsse-
ler Brexit-Einigung frühestens Ende 2024
mit einfacher Mehrheit entscheiden, ob
die Zwitterlösung beim Zollregime weite-
re vier Jahre in Kraft bleibt – sollte dann
mangels Handelsabkommen überhaupt
noch Bedarf dafür bestehen. Ein Veto-
recht gibt es nicht; nur für eine Verlänge-
rung um acht Jahre wäre die Zustimmung
aus beiden Volksgruppen erforderlich.
Unionisten schimpfen nun, dass die EU da-
mit selbst das Karfreitagsabkommen aus-
höhle, das sie immer hochhielt. Doch da
es sich bei der Zollpolitik um eine interna-
tionale Angelegenheit handelt, für die das
Belfaster Parlament eigentlich gar nicht

zuständig wäre, konnten Brüssel und Lon-
don andere Abstimmungsregeln festlegen.
Wie ein Parlament, das seit fast drei Jah-
ren nicht tagt, im Herbst 2024 abstimmen
würde, ist freilich nicht abzusehen. Aus
der Wahl von 2017 gingen das unionisti-
sche und das nationalistische Lager exakt
gleich stark hervor; die DUP-Fraktion hat
nur noch eine Stimme Vorsprung vor der
republikanischen Sinn Féin. In Brüssel
dürfte man auch wissen, dass eine einfa-
che Mehrheit der Abgeordneten gegen
den Brexit plädierte.
Und in der nordirischen Gesellschaft,
besonders in der Wirtschaft, hat sich im
Zuge des Brexit-Zanks die Ansicht verfes-
tigt, dass sich London um Nordirland
nicht schere. Auch deshalb glaubt nach ei-
ner Umfrage vom September eine klare
Mehrheit der Nordiren, dass sich bei ei-
nem Referendum über eine Wiedervereini-
gung die Befürworter durchsetzen würden


  • wenn das Votum in zehn Jahren stattfän-
    de. Würde schon jetzt ein Referendum ab-
    gehalten, dann würde zwar eine knappe
    Mehrheit der befragten Nordiren für einen
    Beitritt zur Republik stimmen. Viele von
    ihnen glauben aber, dass im Moment noch
    die Gegner obsiegen würden.


Ein Zwitter für alle Ewigkeit?


Nordirlands Unionisten könnten den Brüsseler Zoll-Kompromiss allein nicht aushebeln / Von Andreas Ross


LONDON, 18. Oktober


W


enn sich das Unterhaus an die-
sem Samstag zu einer außeror-
dentlichen Sitzung zusammen-
findet, könnte es den Brexit-Prozess nach
dreieinhalb Jahren schwerster politischer
Verwerfungen beenden. Der mit der EU
ausgehandelte Vertragsentwurf, den Bo-
ris Johnson zur Abstimmung stellen will,
würde den Weg für einen Austritt am 31.
Oktober frei machen. „Jetzt ist der Mo-
ment, um den Brexit zu erledigen“, sagte
der Premierminister, aber viele erinnern
sich daran, dass seine Vorgängerin mit
fast denselben Worten – vergeblich – an
die Abgeordneten appelliert hatte. Drei-
mal schon hat das Parlament über einen
„Deal“ mit der EU abgestimmt, über ein
Austrittsabkommen und eine „Politische
Erklärung“ über die künftigen Beziehun-

gen. Dank Nachbesserungen, die Theresa
May in Brüssel erreichen konnte, wuchs
die Zahl der Befürworter von Mal zu Mal.
Aber auch beim dritten Versuch war die
Mehrheit gegen den Deal noch erheblich.
286 Abgeordnete stimmten am 29. März
dafür, 344 dagegen.
Die Regierung geht davon aus, dass sich
diese 286 Abgeordneten – unter ihnen
fünf Labour-Abgeordnete und vier Unab-
hängige – auch diesmal wieder für einen
Deal aussprechen. Allerdings sind mehr
als zwanzig Tories nicht mehr Mitglied
der Fraktion; sie wurden aus der Partei ge-
worfen, nachdem sie im September gegen
die eigene Regierung gestimmt hatten.
Die meisten dieser „Rebellen“, die nun
überwiegend als Unabhängige im Unter-
haus sitzen, dürften den Premierminister
dennoch unterstützen. Einer ihrer Wort-
führer, Nicholas Soames, sagte, er hätte es
Johnson nicht zugetraut, einen Deal in
Brüssel zu erreichen. „Ich ziehe den Hut
vor ihm“, fügte Soames hinzu und signali-
sierte seine Zustimmung. Viele sehen eine
Unterstützung Johnsons auch als Schritt
zurück in die Partei. Aber einige wenige,
wie der frühere Generalstaatsanwalt Do-
minic Grieve, wollen gegen den Vertrag
stimmen. Er hatte allerdings auch schon
den May-Deal abgelehnt.
Die Vorsitzenden aller Oppositionspar-
teien wiesen ihre Fraktionen an, gegen
den neuen Vertragsentwurf zu stimmen.
Die schottischen Nationalisten und die Li-
beraldemokraten dürften dem Befehl ge-
schlossen folgen; sie sind gegen jede
Form von Austritt. Auch die zehn Abge-

ordneten der nordirischen Democratic
Unionist Party (DUP), die zwar den Bre-
xit begrüßen, aber Mays Deal dreimal ab-
lehnten, werden gegen Johnsons Abkom-
men stimmen. Sie sehen die Interessen
Nordirlands gefährdet, weil die vereinbar-
te Handelsgrenze in der Irischen See Ab-
stand zu Großbritannien schaffe.
Die Schlüsselrolle kommt daher den
Abweichlern in der Labour Party sowie
den bisherigen Deal-Verweigerern bei
den Tories zu. Wenn die 286 Unterstützer
des May-Deals auch Johnsons Entwurf ih-
ren Segen geben, muss der Premierminis-
ter noch mehr als dreißig Abgeordnete
überzeugen. Gute Chancen hat er, die
meisten der 28 Erz-Brexiteers, die im
März gegen Mays Deal gestimmt hatten,
auf seine Seite zu ziehen. Einer ihrer
Wortführer, Andrew Bridgen, kündigte
schon an, sich diesmal für den Deal auszu-
sprechen. Andere, wie Priti Patel oder
Theresa Villiers, sind inzwischen Minis-
ter und damit ebenfalls an Bord. Einige
könnten sich allerdings an ihr Wort ge-
bunden fühlen, in dieser Frage immer mit
der DUP zu stimmen.
Selbst wenn Johnson alle 28 Erz-Brexi-
teers überzeugen könnte, brauchte er
noch mindestens sechs neue Stimmen aus
der Labour Party, wenn er auf der siche-
ren Seite sein will. Am Donnerstagabend
wagte sich der Labour-Abgeordnete Ron-
nie Campbell als Erster aus der Deckung
und sprach sich für Johnsons Deal aus –
die Wähler hätten den unendlichen Bre-
xit-Prozess „satt“, sagte er. Aber die Par-
teiführung machte am Freitag deutlich,

dass sie auf der Fraktionsdisziplin be-
steht. John McDonnell, der starke Mann
hinter Jeremy Corbyn, kündigte an, mit
Campbell und anderen unsicheren Kanto-
nisten vor der Abstimmung „ein Wort zu
reden“. Nach diesem Gespräch sagte
Campbell, er plane noch immer, den Deal
zu unterstützen, stehe aber unter „gro-
ßem Druck“ der Parteiführung, sich we-
nigstens zu enthalten.
Schon May soll versucht haben, schwan-
kenden Labour-Abgeordneten mehr oder
weniger unsittliche Angebote zu machen,
etwa öffentliche Gelder in ihre Wahlkrei-
se zu schleusen. Auch Johnson dürfte es
nicht dabei bewenden lassen, in seinen
Gesprächen auf politische Überzeugung
zu setzen oder das Versprechen, die Sozi-
al- und Umweltstandards nach dem Brexit
nicht zu senken.
Die möglichen Abtrünnigen sind na-
mentlich bekannt, seit sie Anfang des Mo-
nats einen Brief an die EU-Kommission ge-
schrieben haben, der für intensive Ver-
handlungen mit Johnson warb. Zu einigen
dieser 19 Labour-Abgeordneten soll John-
son am Freitag Kontakt aufgenommen ha-
ben. Aber viele der Schwankenden dürften
sich erst an diesem Samstag, unter dem
Eindruck der Unterhaus-Debatte, entschei-
den. Diese könnte Wendungen nehmen,
sollten Ergänzungsanträge zur Abstim-
mung kommen. Mehrere Abgeordnete wol-
len einen dreimonatigen Aufschub des
Austrittstermins erreichen, selbst wenn
der neue Deal angenommen wird.Auch
ein zweites Referendum könnte mal wie-
der zur Abstimmung kommen.

BRÜSSEL, 18. Oktober. Es waren be-
merkenswerte Bilder, die am Donners-
tagabend aus dem Sitzungssaal der
EU-Staats- und -Regierungschefs der
Europäischen Union übertragen wur-
den. Sie zeigen, wie sich der britische
Premierminister Boris Johnson jovial
lächelnd durch die Reihen der anschei-
nend ebenfalls gutgelaunten übrigen
Teilnehmer bewegt. Ob sich die kurz
zuvor doch noch erreichte Brexit-Ver-
einbarung zwischen London und den
27 EU-Staaten tatsächlich verwirkli-
chen lässt, hängt allerdings von der Ab-
stimmung des britischen Unterhauses
an diesem Samstag ab.
Die Feierlaune in Brüssel schien
durch die angekündigte Ablehnung des
Abkommens durch die zehn Abgeord-
neten der nordirischen Partei DUP, wel-
che der konservativen Regierung 2017
überhaupt erst ins Amt verholfen hat,
schon am Donnerstag getrübt. Dabei
waren die Unterhändler zuvor sichtlich
stolz auf das, was nicht nur Bundes-
kanzlerin Angela Merkel mit der sprich-
wörtlichen Quadratur des Kreises ver-
glichen hat: So soll Nordirland formal-
rechtlich weiter der gemeinsamen Zoll-
union mit dem Rest des Vereinigten Kö-
nigreichs angehören. In der Praxis je-
doch soll es eine faktische Zollgrenze
zwischen Nordirland und der briti-
schen Hauptinsel geben, um Grenzkon-
trollen zwischen Irland und Nordirland
zu vermeiden und das Karfreitagsab-
kommen von 1998 zur Befriedung
Nordirlands nicht zu gefährden.
Die Vereinbarung tritt an die Stelle
der Notfalllösung („Backstop“). Sie
sollte gemäß der ursprünglichen Fas-
sung des dreimal im Unterhaus abge-
lehnten Austrittsvertrags unbefristet
für das gesamte Vereinigte Königreich
gelten – zumindest so lange, bis statt
der aus heutiger Sicht unvermeidlich
erscheinenden Grenzkontrollen „alter-
native Vereinbarungen“ zur Verfügung
stehen, also (bisher nicht praxistaugli-
che) neuartige technische Lösungen.
Dass die „Backstop“-Vereinbarung kei-
ne Befristung vorsah, begründete EU-
Chefunterhändler Michel Barnier ger-
ne damit, dass es sich um eine Art Ver-
sicherung handele, für die es keine zeit-
liche Begrenzung gebe.
Von diesem Modell wurde schließ-
lich überraschend Abstand genom-
men. In Brüssel wurde der Verzicht der
27 EU-Partner auf das Modell einer un-
befristeten Versicherung am Freitag so
begründet: „Es ist nun ein dauerhaftes
System, das demokratische Unterstüt-
zung benötigt.“ Es gehe darum, das
Ziel eines Verzichts auf Grenzkontrol-
len zwischen Nordirland und Irland
und der Unversehrtheit des EU-Bin-
nenmarkts mit dem britischen Bestre-
ben zu versöhnen, Nordirland weiter
im Zollterritorium des Vereinigten
Königreichs zu belassen, hatte Barnier
zuvor gesagt.
Der EU-Chefunterhändler hatte
auch den „Schlüsselmoment“ der
jüngsten Gespräche benannt: das Tref-
fen Johnsons mit dem irischen Minis-
terpräsidenten Leo Varadkar Ende ver-
gangener Woche vor den Toren Liver-
pools. Danach kam Bewegung in die
Verhandlungen. Anfang Juli, kurz vor
seinem Amtsantritt als Regierungs-
chef, hatte Johnson noch erklärt, er
werde es unter keinen Umständen „der
EU oder irgendjemand anderem erlau-
ben, irgendeine Trennungslinie in der
Irischen See zu schaffen oder unsere
Union zu schwächen“. Während in
London über innenpolitische und wahl-
taktische Motive des jüngsten Sinnes-
wandels von Johnson spekuliert wird,
dürfte für die EU-Partner entschei-
dend gewesen sein, einen auch für die
Wirtschaft der 27 Partnerländer schäd-
lichen ungeregelten Brexit Ende Okto-
ber zu vermeiden. Eine Rolle gespielt
haben dürfte dabei auch, dass die EU-
Partner nach dem Treffen Varadkars
mit Johnson offenbar den Eindruck ge-
wannen, dass der irische Ministerpräsi-
dent mit einer solchen Vereinbarung le-
ben könne. Irland wäre unter den EU-
Ländern der Hauptleidtragende einer
harten Grenze zu Nordirland, die im
Falle eines ungeregelten Brexits unver-
meidlich wäre.

Freie Fahrt ohne Kontrollen:Die Grenze zwischen Irland und Nordirland Foto AP


Raufende Kinder:Wie Trump Türken
und Kurden sieht Zeichnung Wilhelm Busch

Schwankende Labour-Abgeordnete ködern


Unerwartetes


Zugeständnis


Warum Brüssel in der


Nordirland-Frage nachgab


Von Michael Stabenow


Boris Johnson braucht


fürden neuen Deal


Stimmen aus der


Oppositionspartei.


Doch deren Führung


nimmt unsichere


Kantonisten ins Gebet.


Von


Jochen Buchsteiner

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