Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.10.2019

(Nora) #1

SEITE 30·SAMSTAG, 19. OKTOBER 2019·NR. 243 Sport FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Balakow tritt zurück


Bulgariens Fußball-Nationaltrainer
Krassimir Balakow ist vier Tage nach
dem Rassismus-Eklat beim EM-Quali-
fikationsspiel gegen England (0:6) zu-
rückgetreten. Auch die gesamte Füh-
rung des nationalen Verbandes (BFU)
reichte laut offizieller Mitteilung vom
Freitag ihren Rücktritt ein. „Ich bin
aus einer moralischen Verantwortung
heraus zurückgetreten“, sagte Bala-
kow der Bild-Zeitung. Der langjährige
Bundesliga-Profi hatte nach dem Ab-
pfiff am Montag behauptet, von den
Affenlauten und noch schlimmeren
Vorfällen in Sofia nichts mitbekom-
men zu haben. Später bat er in einer
Mail um Entschuldigung. Die Begeg-
nung hatte mehrmals vor dem Ab-
bruch gestanden, die englischen Stars
wurden mit Affenlauten, höhnischen
Gesängen und dem Hitlergruß belei-
digt. Die bulgarische Polizei hat in die-
sem Zusammenhang fünf weitere Per-
sonen vorläufig festgenommen. Das
teilte die Behörde am Freitag mit,
nachdem zwei Tage zuvor sechs mut-
maßliche Täter in Gewahrsam genom-
men worden waren. (sid)

Videobeweis gegen Fans
Angesichts anhaltender Diskriminie-
rungen in Stadien will der italienische
Fußballverband nun mit Hilfe des Vi-
deobeweises gegen das rassistische
Verhalten von Fans vorgehen. Mit
dem VAR sollen in Zukunft nicht nur
Schiedsrichterentscheidungen über-
prüft werden, sondern auch auffällig
gewordene Zuschauer identifiziert
werden. „Es ist ein weit verbreitetes
Phänomen. Das muss aufhören, und
dafür werden wir den Videobeweis
nutzen“, sagte Verbandspräsident Ga-
briele Gravina dem italienischen Fern-
sehsender Sky Sport. In den vergange-
nen Monaten waren in Italien mehre-
re Spiele wegen rassistischer Vorfälle
unterbrochen worden. (sid)

Zwanzig Spiele Sperre
Der russische Eishockeyprofi Walen-
tin Sykow ist wegen eines Doping-Ver-
stoßes in der nordamerikanischen Pro-
filiga NHL für zwanzig Spiele gesperrt
worden. Welche verbotene Substanz
der Stürmer der Vegas Golden
Knights eingenommen hat, wurde
nicht bekannt gegeben. Während die
Golden Knights erklärten, Sykow
habe das Mittel wissentlich genom-
men, betonte der Spieler, er habe noch
nicht herausgefunden, wie es zur posi-
tiven Probe kommen konnte. (sid)

US Palermo wird aufgelöst
Der frühere italienische Europapokal-
teilnehmer US Palermo wird aufge-
löst. Ein Gericht in der sizilianischen
Stadt erklärte am Freitag den Bank-
rott des in die Viertklassigkeit abge-
stürzten Fußballklubs. Zuvor hatte der
langjährige Klubchef Maurizio Zampa-
rini, der 2017 zurückgetreten war, ver-
geblich versucht, mit einem Angebot
von zehn Millionen Euro die Auflö-
sung abzuwenden. (sid)

In Kürze


STRAUBING. „Donnerstagsspiele ab-
schaffen!“ stand auf dem Transparent im
Straubinger Fanblock; der ungeliebte vor-
gezogene Termin ist gerade das emotiona-
le Thema bei Zuschauern in der Deut-
schen Eishockey Liga (DEL). Aber diesen
Donnerstagabend genossen dann auch die
Anhänger der niederbayerischen Tigers,
denn ihrer Mannschaft gelang, worauf die
gesamte Liga gewartet hatte: Sie beendete
die historische Serie des EHC München
von elf Siegen zu Saisonbeginn am zwölf-
ten Spieltag mit einem resoluten 5:1. Da
kam dann auch ein zweites, kleineres Ban-
ner auf den Stehwällen zum Einsatz: „Bay-
erns wahre Nummer eins“. Wenn man so
will: Das direkte Duell hat Straubing ge-
wonnen. In der Tabelle sind sie Zweiter.
Gegen München hatte Straubing die
letzten neun Male nichts ausrichten kön-
nen, schon daher war der Sieg ein süßer.
Geschmacksverstärker ist die Rivalität,
die die beiden Standorte leben. In Mün-
chen ist der EHC Straubing schon öfter als
„Straubingen“ begrüßt worden, weswegen
die DEL den Stadionsprecher erst mit ei-
ner Ermahnung, dann mit einer Geldstra-
fe belegte. Wenn sie bei den Eisbären Ber-
lin spielten, waren sie auch schon „unsere
Gäste aus Straubingen“, doch da war es
nicht als Provokation gedacht, sondern
der geographischen Unwissenheit geschul-
det. Aber nicht nur von der Hauptstadt aus
gesehen ist Straubing eben klein und am
Rande gelegen.
Dabei spielt der EHC bereits seine 14.
Saison in der DEL, erreichte 2012 das
Play-off-Halbfinale und war voriges Jahr
ziemlich gut. Achter, aber nur fünf Punkte
entfernt vom dritten Platz. Doch der sport-
liche Eindruck, den die Tigers hinterlie-
ßen, verschwand hinter anderen Bildern,

die der Klub schuf und deretwegen die
Straubinger eher als die Nervensägen aus
der Provinz wahrgenommen wurden. Sie
fühlten sich bei Entscheidungen der DEL-
Disziplinarkommission, die gröbere Fouls
einer Nachbetrachtung unterzog, benach-
teiligt und ließen daraufhin ihr Tiger-Mas-
kottchen einen Sarg aus Pappe aufs Eis
schleppen, einen Grabstein aufstellen und
die Fairness zu Grabe tragen. Zu lesen wa-
ren dabei die Initialen T.B., die unzweifel-
haft für den damaligen Disziplinarchef

der Liga, Tino Boos, standen. Einer der
Straubinger Gesellschafter, ein örtlicher
Stahlbauunternehmer, richtete noch zwei
offene Briefe an die DEL, in denen er zum
Ausdruck brachte, dass er an eine Ver-
schwörung gegen kleine Vereine wie die
Straubing Tigers glaube. Die DEL ver-
hängte eine Geldstrafe. Straubing insze-
niert sich gerne als das gallische Dorf, das
es mit den finsteren Großmächten aufneh-
men muss. Auf sportlicher Ebene ist es da-
bei durchaus erfolgreich. Die Tigers leben
von einer lokalen Gesellschafterstruktur,
an deren Spitze eine Frau steht: Gaby Sen-

nebogen führt die Geschäfte der Tigers,
die mit einem Etat von mehr als sechs Mil-
lionen Euro zum unteren Mittelfeld der
DEL gehören. Straubing kann sich den-
noch einige Spieler leisten, die schon bei
der Düsseldorfer EG oder den Kölner Hai-
en waren, Torhüter Jeff Zatkoff kann auf
50 Spiele in der National Hockey League
zurückblicken. Außerdem verfügt das
Team über die gefährlichste Sturmreihe
der Liga: Über die vergangenen drei Jahre
gesehen, schoss kein Spieler so viele Tore
wie Jeremy Williams und bereitete keiner
so viele vor wie Mike Connolly. Der dritte
Mann in dieser Formation ist Stefan Loibl,
der Stolz Straubings, der zum National-
spieler wurde. Kommende Saison wird er
für die Adler Mannheim spielen, diese Sai-
son will er zeigen, „dass ich mit dem Her-
zen noch da bin“.
An der Arbeitsmoral der Tigers besteht
kein Zweifel. In den Heimspielen am „Pul-
verturm“, der noch ein Stadion ist und we-
nig vom Wohlfühlambiente einer Arena
hat, wird jeder Gegner mit Wucht ange-
gangen. Am vergangenen Sonntag spürte
das Meister Mannheim beim 1:3, am Don-
nerstag nun München. Dessen Sturmfüh-
rer Mark Voakes musste anerkennen: „Die
Straubinger haben mehr gearbeitet als
wir.“ Dafür verantwortlich ist Tom Pokel.
Der Amerikaner ist bereits 52, es dauerte
20 Jahre, bis er in der höchsten Liga in
Deutschland ankam. Sein langer Anlauf
begann am Timmendorfer Strand und
führte über Trier, Bietigheim-Bissingen
und Stationen in Österreich und Italien
nach Straubing. Beim Olympia-Qualifika-
tionsturnier für 2014 bezwang er als Natio-
naltrainer Italiens das deutsche Team. Die
Geschichte vom Außenseiter, der die Favo-
riten nervt, kann er also erzählen. Jetzt ist
Straubing sein Italien. GÜNTER KLEIN

LSamstag
DRITTE PROGRAMME:Fußball, 3. Liga, WDR
und BR, 14 Uhr: TSV 1860 München – KFC Uer-
dingen; MDR und NDR, 14 Uhr: 1. FC Magde-
burg – Hansa Rostock.
SERVUS TV:5.25 Uhr: Motorrad, Großer Preis
von Japan in Motegi, Qualifikation.
PRO7 MAXX:9 Uhr: Rugby, WM. 17.45 Uhr: Ame-
rican Football, NCAA College Football: Clemson
Tigers – Louisville Cardinals.
EUROSPORT1:10.30 Uhr: Tischtennis, Weltcup
in Chengdu, Viertelfinale. 13.45 Uhr und 19.45
Uhr: Snooker, Turnier in Crawley, Halbfinale.
SPORT1:19.45 Uhr: Fußball, Socca-WM auf Kre-
ta, Viertelfinale.
LSonntag
SERVUS TV:5 Uhr: Motorrad, Großer Preis von
Japan in Motegi, die Rennen aller Klassen.
PRO7 MAXX:9 Uhr: Rugby, WM. 18.55 Uhr und
22.10 Uhr: American Football, NFL: Oakland Rai-
ders – Green Bay Packers und Baltimore Ravens


  • Seattle Seahawks.
    EUROSPORT1:9.20 Uhr: Leichtathletik, Mara-
    thon in Amsterdam. 13.45 Uhr und 19.45 Uhr:
    Snooker, Turnier in Crawley, Finale.
    SPORT1:14 Uhr und 16 Uhr: Volleyball, Super
    Cup, Finale in Hannover, Männer: Berlin Recy-
    cling Volleys – VfB Friedrichshafen. Frauen: MTV
    Stuttgart – SSC Palmberg Schwerin. 18.30 Uhr
    und 20.45 Uhr: Fußball, Socca-WM auf Kreta,
    Spiel um Platz drei und Finale.


Straubing außer Rand und Band:
DieTigersbeenden die
Münchner Siegesserie. Foto dpa

Eishockey,DEL, 12. Spieltag: Adler Mann-
heim – Augsburger Panther 8:3, Düsseldor-
fer EG – Eisbären Berlin 4:0, Krefeld Pinguine


  • Grizzlys Wolfsburg 2:3, Kölner Haie –
    Schwenninger Wild Wings 2:1, Iserlohn Roos-
    ters – ERC Ingolstadt 0:3, Nürnberg Ice Tigers

  • Pinguins Bremerhaven 6:2.
    Fußball,Dritte Liga, 12. Spieltag:: MSV Duis-
    burg – 1. FC Kaiserslautern 3:1.
    Bundesliga, Frauen, 7. Spieltag: Bayer Lever-
    kusen – 1899 Hoffenheim 1:3.
    Tennis,WTA-Tour in Luxemburg, Damen,
    (226750 US-Dollar), Viertelfinale: Görges (Bad
    Oldesloe) – Puig (Puerto Rico) 1:6, 6:2, 6:3; Ry-
    bakina (Kasachstan) – Siegemund (Metzin-
    gen) 6:0, 6:4, Ostapenko (Lettland) – Lottner
    (Stuttgart) 6:1, 6:1.
    Volleyball,Bundesliga, Männer: VC Eltmann

  • United Volleys Frankfurt 1:3.


pwe. TOKIO. Die Gouverneurin von To-
kio, Yuriko Koike, ist bekannt dafür, dass
sie kein Blatt vor den Mund nimmt. Sarkas-
tisch kommentierte sie den Beschluss des
Internationalen Olympischen Komitees
(IOC), die Marathonwettbewerbe der
Olympischen Spiele im kommenden Jahr
nicht im heißen Tokio, sondern im kühle-
ren Sapporo auf der nördlichen Hauptin-
sel Hokkaido stattfinden zu lassen. Wenn
man sich über kalte Orte unterhalte, kön-
ne man die Sportereignisse doch auf den
nördlichen Territorien abhalten, sagte Koi-
ke am Tag nach der Ohrfeige des IOC für
Tokio aus dem fernen Doha. Die nördli-
chen Territorien sind vier Inseln der südli-
chen Kurilen, die Japan als Territorium be-
ansprucht, die seit dem Zweiten Weltkrieg
aber von Russland regiert werden. Sie lie-
gen noch ein wenig weiter nördlich als
Hokkaido und sind entsprechend noch
kühler.
Der scharfe Kommentar der Gouver-
neurin zeigt, wie sehr die Entscheidung
des IOC die Verwaltung der Hauptstadt Ja-
pans getroffen hat. Dass es im Sommer in
Tokio sehr heiß und sehr schwül ist, war
den IOC-Mitgliedern schon bekannt, als
sie 2013 der Metropole den Zuschlag ga-
ben. Tokio und die Organisatoren haben
sich bemüht, die damit verbundenen
Schwierigkeiten zu lindern. Die Startzeit
des Marathons und der Geher-Wettbewer-
be wurde auf 6.00 und 5.30 Uhr morgens
vorverlegt, und die Strecken sollen mit Hit-
ze-reduzierendem Belag ausgestattet wer-
den. Unter anderem sollen Befeuchtungs-
anlagen feinen Nebel erzeugen, um Zu-
schauer vor Hitzschlag zu schützen. Noch
im Juli hatte IOC-Präsident Thomas Bach
die Vorbereitungen Tokios als außerge-
wöhnlich gut gelobt. Die plötzliche Umver-
legung der Marathon- und Geher-Wettbe-
werbe kam deshalb für Tokio wie ein Blitz

aus heiterem Himmel. „Es gab keine Dis-
kussion“, klagt Koike. Ende Oktober soll
darüber mit dem IOC in Tokio gesprochen
werden. Koike verlangt eine Erklärung.
Ebenso überraschend kam das Glück,
zur Sommer-Olympiastadt zu werden, für
Sapporo. Der erfreute Bürgermeister Ka-
tsuhiro Akimoto erfuhr von der Entschei-
dung des IOC nach eigener Aussage aus
den Medien. Natürlich sagt er nicht nein
und bietet Tokio, wo man gerne auf das
provinzielle Hokkaido herabblickt, sofort
Hilfe an. Sapporo richtet jährlich einen be-
liebten Marathonwettbewerb aus. 1972
trug die Stadt die Olympischen Winter-
spiele aus und erwägt, sich für die Winter-
spiele 2030 zu bewerben. Da kann ein in
Rekordzeit ausgerichteter olympischer Ma-
rathon nicht schaden.
Für die Athleten wird das Laufen und
Gehen in Sapporo angenehmer. Das IOC
erklärte, dass die Sommertemperaturen
dort 5 bis 6 Grad niedriger seien als in To-
kio. Doch Sapporo biete nicht die Kulisse
der japanischen Hauptstadt, klagt der japa-
nische Marathonläufer Yuma Hattori.
1964, als Tokio erstmals Olympische Spie-
le ausrichtete, war die Hitze kein Problem.
Das Sportereignis fand im Oktober statt.
Die Sendepläne der großen Fernsehanstal-
ten verlangen mittlerweile aber olympi-
sche Termine im Sommer.
Die verärgerten Kommentare Koikes
werden das IOC nicht mehr von Sapporo
abbringen. Mori, der Chef des japani-
schen Vorbereitungskomitees, erklärte
schon, dass man sich den Wünschen des
IOC und der Fachverbände nicht entgegen-
stellen könne. Der Ärger der Gouverneu-
rin liegt wohl auch darin begründet. Koike
war zu einem früheren Zeitpunkt mit ihrer
Idee, manche Wettbewerbe kostenspa-
rend aus der Hauptstadt heraus zu verle-
gen, auf Widerstand gestoßen.

Die Nervensägen aus der Provinz


Der EHC Straubing nimmt es mit den Eishockey-Großmächten auf


Sport live im Fernsehen


D


asInterview mit einem erfahre-
nen türkischen Sportjournalis-
ten musste angesichts seines
persönlichen Risikos anonymi-
siert werden. Sein Name ist der Redak-
tion bekannt.

In Deutschland sind viele Menschen
schockiert darüber, dass türkische Natio-
nalspieler nach den Spielen gegen Alba-
nien und gegen Frankreich salutiert ha-
ben – und auch nach Toren. Wer hatte
die Idee zu einer solchen Geste?
Wir müssen viel weiter zurückgehen,
um das nachzuvollziehen. Nach dem
Putsch von 1980 war Fußball fast immer
ein recht ideales Werkzeug, um die Inter-
essen der Regierenden und ihre Politik zu
fördern. Der Nationalismus wurde zur
Ideologie, vor allem in den neunziger Jah-
ren. Eine neutrale Ideologie, nicht links,
nichts rechts. So wurde es behauptet,
auch wenn Politikwissenschaftler das wi-
derlegen. Aber in der Türkei ist die Wahr-
nehmung anders. Gäbe es eine Cham-
pions League des Nationalismus auf dem
Gebiet der Uefa, würden die Türkei, Isra-
el und Serbien ständig gewinnen, sonst
niemand.

Und das Salutieren ist nun Ausdruck des-
sen?
Das Level an Nationalismus ist stets
noch höher als erwartet. Dieses Salutie-
ren gab es in den frühen Neunzigern das
erste Mal. Damals gab es auch Militärope-
rationen (gegen die PKK; d. Red.). Der da-
mals erfolgreichste Torschütze war dafür
bekannt, bei jedem Tor zu salutieren: Bü-
lent Uygun, Spitzname „Soldat Bülent“.
Die Atmosphäre jetzt ist sehr ähnlich.
Dieses nationalistische Verhalten ist üb-
lich. Leider, muss ich sagen. Wenn es die-
se Militäroperationen gibt, sind die Sicht-
weisen eigentlicher politischer Gegner in
der Türkei kaum mehr auseinanderzuhal-
ten. Die Kemalisten waren zuletzt eher
links der Mitte, jetzt sind sie mittendrin
in der nationalistischen Begeisterung. Es
gibt nur noch eine Partei in dieser Angele-
genheit.

Gibt es, abgesehen von der kurdischen
HDP, eine Partei, die den Einmarsch ab-
lehnt?
Nein. Das ist eine „gemeinsame“ Ope-
ration. Wie in einem totalitären Regime
sollten die Leute ihre Unterstützung des
Krieges zeigen. Stille reicht nicht. Du
sollst unterstützen. Was ist der Unter-
schied zwischen einem totalitären und ei-
nem autoritären Regime? Beim autoritä-
ren Regime heißt es: still sein. Im totalitä-
ren Regime sollst du jubeln. In dieser At-
mosphäre ist Fußball immer das stärkste
Instrument des Nationalismus.

Weil sie es müssen? Weil sie einen emo-
tionalen Zwang verspüren? Oder kontrol-
liert das jemand?
Leider sind das alles Freiwillige. Ich
wünschte, es würde sie jemand zwingen.
Das Bildungsniveau der Fußballspieler ist
sehr durchschnittlich. Kaum einer kann
etwas über den Krieg sagen, sie denken
einfach: Unsere geliebte Regierung, unser
geliebter Staat führt eine Friedensoperati-
on aus, das unterstützen wir. Und das sind
nicht nur Fußballspieler. Auch eine Welt-
meisterin im Boxen, ein Turner haben sa-
lutiert. Leider ist das Verhalten einfach
allgemein üblich. Ein bisschen Unterstüt-
zung wird erwartet.

Innerhalb des türkischen Fußballverban-
des hat niemand die Spieler aufgefordert
oder ermuntert?
Vielleicht hat jemand etwas gesagt,
aber das muss niemand diktieren. Leider.
Das ist alles freiwillig.

Alle sind also stolze Nationalisten. Und
dann verweigert sich der Torschütze in

Paris, Kaan Ayhan, dem Salut. Sein
Klub, Fortuna Düsseldorf, hatte über
das herrschende Unbehagen in Deutsch-
land informiert. Was bedeutet das für
ihn? Ist er jetzt ein Verräter?
Es wurde über Kaan Ayhans Verhalten
keine Zeile geschrieben. Auf den Bildern
sind nur die Spieler zu sehen, die salutie-
ren. Aus meiner Sicht soll er nicht zum Ju-
das werden, weil er ein Star ist. Er hat ge-
troffen. Also wurde das verschwiegen. Im
Moment ist er unangreifbar.

Aber die zurückgenommenen Likes von
Ilkay Gündogan und Emre Can waren
ein Thema in den türkischen Medien?
Ja. Aber das größere Thema war die
Suspendierung von Cenk Sahin beim FC
St. Pauli. Ilkay und Emre standen auch
auf der Agenda. Das wird als Diktat der
deutschen Klubs und des Verbandes prä-
sentiert, die die Türkei hassen. Das dop-
pelgesichtige Europa. Die Spieler würden
das gerne unterstützen, aber in Europa er-
lauben die Klubs das nicht, weil es keine
Meinungsfreiheit gibt für Türken.

Es wird also behauptet, Gündogan und
Can sind ebenso stolze Türken wie alle
anderen, dürfen es aber nicht zeigen.
Ja. Wegen des Drucks. Da wird auch
kein Unterschied gemacht angesichts der
Tatsache, dass Sahin selbst etwas gepos-
tet hat und Gündogan und Can ein Like

gesetzt haben. Für alle drei gilt das Glei-
che. Sie werden als türkische Spieler gese-
hen, genau wie Mesut Özil. Er flucht auf
Türkisch, das macht alle stolz. Keiner
macht ihnen groß Vorwürfe wegen der
Wahl, für Deutschland zu spielen. Sie hat-
ten die Wahl. Wenn Ilkay für Deutschland
trifft, sind die Türken stolz.

Und deshalb wird erwartet, dass sie sich
in den nationalistischen Stolz einreihen?
Was wäre passiert, wenn sie nicht das
Bild nicht gelikt hätten, das Thema nie
erwähnt worden wäre?
Ich weiß nicht, ob es in derselben Art
und Weise von den „Expats“ erwartet
wird. Sie können still bleiben. Aber ein
türkischer Spieler, der in einem interna-
tionalen Wettkampf diese Haltung nicht
unterstützt, wird verantwortlich gemacht.
Wenn du den Nationalismus nicht unter-
stützt, wird es schwieriger für dich, für die
Türkei zu spielen. Es geht nicht so weit
wie die Vorwürfe gegen Hakan Sükür, der
die Gülen-Bewegung unterstützt und des-
halb nicht mehr zurückkehren kann. Aber
Deniz Naki, Kapitän des kurdischen
Klubs Amedspor, wurde angegriffen und
bedroht. Wahrscheinlich würden sich 65
bis 70 Prozent der Türken als Nationalis-
ten definieren. Im Stadion, unter Spielern
und Fans, sind es 95 Prozent und mehr.
Nationalstolz ist das definierende Ele-
ment der Atmosphäre. In Deutschland

sind in manchen Stadien auch viele Natio-
nalisten und Neonazis. In der Türkei do-
minieren sie weit mehr als anderswo.

Muss die Uefa reagieren?
Ganz sicher. Es muss eine Sanktion ge-
ben, eine Sperre, meiner Meinung nach.
Aber ich bin ganz und gar gegen Nationa-
lismus, gegen die türkische Hysterie.
Aber eine Strafe wird kommen. Und dann
wird es heißen: Das sind die Vorurteile
der falschen Europäer. Ein Klassiker.

Das spricht gegen eine Sanktion: der Fu-
ror würde wachsen.
Das stimmt. Je mehr das thematisiert
wird, umso stärker wird der Nationalis-
mus. Niemand hält die Uefa für neutral.
So geht das immer.

Präsident Erdogan hat schon auf An-
toine Griezmann verwiesen und beklagt,
dass dem Franzosen niemand das Salu-
tieren verbietet. Er stellt die Türkei als
Opfer dar.
Das ist seine Kunst. Seit fünfzehn Jah-
ren ist er an der Macht, und sie sind im-
mer bei allem und jedem die Opfer. Das
ist die wesentliche Strategie der AK-Par-
tei. Wirtschaft im Eimer? Sie sind das Op-
fer fremder Mächte. Ein Politiker stirbt
oder ein Journalist? Fremde Agenten wol-
len dem Ruf der Türkei schaden. Der we-
sentliche Treibstoff des türkischen Politik-

betriebs sind Paranoia und Verschwö-
rungstheorien. Einen Verdacht gibt es im-
mer, und immer sind sie das Opfer, auch
beim Fußball.

Im deutschen Amateurfußball häufen
sich die Salutierenden ebenfalls, die Re-
gionalverbände haben angekündigt, je-
den einzelnen Fall verfolgen zu wollen.
Oder sollten die deutschen Funktionäre
die Augen zumachen und hoffen, dass
sich die Aufregung legt – weil dahinter ja
auch die Opferstrategie stecken könnte?
Es ist ein Dilemma. Lässt man das zu,
wird Nationalismus zur neutralen Hal-
tung. Ist er aber nicht. Das ist eine Ideolo-
gie, das ist im Stadion verboten. Jeder soll
seine Meinung haben, wenn es nicht ras-
sistisch oder gewalttätig wird. Aber hier
geht es um Militarismus. Das hat im
Sport nichts verloren. Wenn man das
durchgehen lässt, akzeptierst du die türki-
sche Ideologie, dass Nationalismus unpro-
blematisch ist.

Und deutsche Neonazis werden sich an-
gestachelt fühlen.
Ganz genau. Das ist der Anknüpfungs-
punkt. Und es gibt Leute in der Türkei,
die den Nationalismus ablehnen. Sie wür-
den nur ein klein wenig Unterstützung
brauchen. Viele linke, viele progressive
Türken haben sich über die Haltung von
St. Pauli sehr gefreut, weil sie sich unter-
stützt sehen. Sie wollen eine Stimme und
irgendwo auf der Welt ein Echo. Jemand,
der für seine Werte einsteht, auch unter
Druck.

Also gibt es nicht nur einen Empfang
durch den Sportminister für Cenk Sahin
in der Türkei, sondern auch Applaus für
Sankt Pauli für dessen Rauswurf.
Nicht explizit. Aber in den sozialen Me-
dien habe ich viele Unterstützer gesehen.

Was würde passieren, wenn jemand die-
se Meinung oder ein Interview wie die-
ses geben würde, ohne anonym zu blei-
ben?
Es gibt Websites mit diesen Diskussio-
nen, aber das sind Oppositionskanäle. In
den Massenmedien, deren Mehrheit von
der AKP kontrolliert wird, würde er we-
nigstens rausgeworfen. Es könnte auch
mehr passieren. Als die Operation in Sy-
rien begann, wurden Leute, die sie in so-
zialen Medien kritisiert haben, in Haft ge-
nommen. Es ist nicht einfach. Es ist gar
nicht einfach.

Gab es je einen kurdischen Nationalspie-
ler für die Türkei?
Niemand hat je explizit gesagt, dass er
Kurde ist. Du kannst nicht sagen: Ich bin
kurdischer Spieler und laufe für die Tür-
kei auf. Ich kenne einen Armenier, der
seine Identität verschwiegen hat, als er
für Fenerbahce und die Türkei gespielt
hat. Nur seine engsten Angehörigen
wussten das. Weil Armenier von türki-
schen Nationalisten gehasst werden. Ar-
menien ist wahrscheinlich das verhasstes-
te Land.

Werden sie mehr gehasst als Kurden?
Kurden gelten nicht als Ausländer, sie
gelten als Verräter. Deshalb sagt keiner,
dass er ein kurdischer Spieler ist. Würde
ein Spieler, der für die Türkei spielt, öf-
fentlich Kurdisch sprechen nach einem
Spiel, würde das Leben für ihn sehr
schwer. Die Kurdenpartei HDP ist nicht
verboten, wird aber behandelt, als wäre
sie es. Nach der Wahl im Juni 2015 wurde
der AKP klar, dass ihre wirtschaftliche
Unterstützung der Kurdenregionen nicht
das Vertrauen der Bevölkerung gewinnt.
Also haben sie sich wieder der alten, offi-
ziellen türkischen Ideologie des Nationa-
lismus zugewandt. Back to the Nineties,
das ist das Motto. Jeder weiß das jetzt. Je-
der hat das Salutieren im Stadion gese-
hen.

Ergebnisse


Ohrfeige durch das IOC


Marathon-Verlegung: Tokios Gouverneurin verärgert


„Champions League


des Nationalismus“


Feiert man so angemessen ein Tor?Der Fußball als ideales Spielfeld für Nationalismus Foto dpa


Schon in den frühen neunziger Jahren salutierte der türkische Fußballer


Bülent Uygun, genannt „Soldat Bülent“. Niemand hat den aktuellen Spielern


diese Geste diktiert. „Das braucht es nicht, leider“, sagt ein kritischer


türkischer Sportjournalist.

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