Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.10.2019

(Nora) #1

SEITE 8·SAMSTAG, 19. OKTOBER 2019·NR. 243 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


M


anlasse sich nicht vom späteren
Dementi täuschen: Trumps
Stabschef Mulvaney wusste, was er tat,
als er zugab, dass Militärhilfe für die
Ukraine an wahltaktische Bedingun-
gen des Präsidenten geknüpft wurde.
Denn offenkundig fällt es den demokra-
tischen Abgeordneten leicht, genau die-
sen Verdacht zu erhärten. Just an dem
Tag, an dem Mulvaney mit der Presse
sprach, hatte ihnen etwa der EU-Bot-
schafter Sondland bestätigt, dass
Trumps privater Anwalt Giuliani in der
Ukraine-Diplomatie das Sagen gehabt
habe. Der will Kiew nötigen, den Demo-
kraten einen Strick aus Verschwörungs-
theorien zu drehen. Weil die Demokra-
ten so gut vorankommen, probte
Trumps Stabschef die Flucht nach
vorn: Er leugnete das anrüchige Tausch-
geschäft nicht mehr, sondern stellte es
als alltäglich dar. Wenn die Ermittler
nichts mehr aufzudecken haben, weil al-
les offen zutage liegt, so das Kalkül,
dann verlieren die Leute das Interesse
an ihren Erkenntnissen. Und das wäre
mehr als die halbe Miete für Trump.
Denn sein Verbleib im Amt entscheidet
sich nicht in einem Gerichtssaal, son-
dern in der politischen Arena. anr.


N


ordmazedonien und Albanien
sind weit davon entfernt, reif für
einen EU-Beitritt zu sein. Aber das
müssen sie am Anfang von Beitrittsge-
sprächen auch nicht sein – für deren
Beginn ist entscheidend, dass sie die
Voraussetzungen für die Aufnahme
von Verhandlungen erfüllen. Und das
ist der Fall, sie haben die von der EU
dafür aufgestellten Bedingungen er-
füllt. Die Brüsseler Entscheidung,
trotzdem nicht mit den Gesprächen zu
beginnen, ist nicht nur gegen die Inter-
essen der beiden Länder, sondern auch
gegen die der EU. Wie wertvoll politi-
sche und wirtschaftliche Stabilität auf
dem Balkan für ganz Europa sind, dar-
an erinnert gerade die Debatte über
die Kriege der neunziger Jahre, die an-
gesichts des Literatur-Nobelpreises für
den Milošević-Sympathisanten Peter
Handke entbrannt ist. Es drohen der-
zeit keine neuen Kriege, aber die Annä-
herung der Region an die EU ist doch
langfristig die beste Konfliktpräventi-
on. Das gilt freilich nur, wenn die EU
ein verlässlicher Partner bleibt. Mit der
Entscheidung vom Freitag hat sie ihr
Wort gegenüber Nordmazedonien und
Albanien gebrochen. rve.


D


as Erstaunliche an dem jüngsten
Gewaltspektakel in Mexiko ist
nicht, dass die Sicherheitskräfte einen
der Söhne des in den Vereinigten Staa-
ten inhaftierten Rauschgiftkriminellen
Joaquín „El Chapo“ Guzmán wieder
freigelassen haben. Angesichts der Feu-
erkraft der mit Waffen aus den Vereinig-
ten Staaten ausgerüsteten Killerkom-
mandos des Sinaloa-Kartells blieb ih-
nen nichts anderes übrig. Andernfalls
wäre noch mehr Blut unbeteiligter Zivi-
listen geflossen. Erstaunlich ist viel-
mehr, dass die Patrouille des jungen
Mannes überhaupt habhaft werden
konnte. Vielleicht hatte Kommissar Zu-
fall seine Hand im Spiel. Wahrscheinli-
cher ist es, dass der junge Mann ande-
ren im Weg war und die Sicherheitskräf-
te einen Hinweis bekommen hatten.
Dann aber stünde es nicht gut um das
Kartell. Denn Guzmán wäre aus den ge-
wöhnlich durch und durch korrupten Si-
cherheitskräften heraus nicht rechtzei-
tig gewarnt worden. Das Ende der Ge-
schichte aber stimmt wieder. Die ganze
Welt wurde wieder einmal Zeuge, dass
die Narcokriminellen in Mexiko nicht
ein Staat im Staat sind, sondern in vie-
len Regionen der Staat selbst. D.D.


In Geschichtsbüchern wird das Foto
von Thornton Manor, aufgenommen
am 10. Oktober 2019, vielleicht einmal
den Wendepunkt in der Brexit-Saga il-
lustrieren. Der Ire Leo Varadkar schlen-
dert mit dem Briten Boris Johnson eine
Allee im Nordwesten Englands ent-
lang, beide ins Gespräch vertieft. Ernst-
haftigkeit liegt in dem Bild, gegenseiti-
ges Verständnis, auch eine gewisse Läs-
sigkeit. Johnson wusste, dass der
Schlüssel zu einem Deal in Dublin liegt


  • und Varadkar, dass sein Land unter ei-
    nem Deal weniger leiden würde als un-
    ter einem No-Deal-Brexit.
    Es waren dieser Spaziergang und ein
    langes Mittagessen, die die Stimmung
    in Brüssel drehten. Bis dahin war die eu-
    ropäische Kritik an Johnsons Vorschlä-
    gen harsch, fast unversöhnlich gewe-
    sen, besonders in Dublin. Aber in dem
    privaten Gespräch müssen sich die bei-
    den Regierungschefs darüber klarge-
    worden sein, dass zu viel auf dem Spiel
    steht, um an alten Positionen festzuhal-
    ten. Das Verhältnis der Nachbarn ist
    eng und historisch aufgeladen. Es droh-
    te, Schaden zu nehmen in einer fort-
    schreitenden Konfrontation.
    Natürlich waren auch persönliche Be-
    rechnungen im Spiel. Beide Politiker
    führen eine Minderheitsregierung und
    stehen innenpolitisch unter Druck.
    Johnson war vom Unterhaus so in die
    Ecke gedrängt worden, dass ein neuer
    Deal mit Brüssel zum einzigen Ausweg
    geworden war. Auch Varadkar brauch-
    te eine Wende. Seine Zustimmungsra-
    ten waren in den Monaten vor dem
    Parkspaziergang kontinuierlich gesun-
    ken. Viele Iren zeigten sich unzufrie-
    den mit seiner zuweilen sturen Ver-
    handlungsstrategie. Insofern war der
    Kompromiss mit Johnson auch ein
    Durchbruch in eigener Sache. In den Ta-
    gen nach Thornton Manor schnellten
    seine Sympathiewerte empor. Es gilt
    nun als wahrscheinlich, dass er Neu-
    wahlen ausrufen wird, sobald der Bre-
    xit über die Bühne ist.
    Dass sich Varadkar seit mehr als
    zwei Jahren im Amt halten kann, hat
    viel mit dem Brexit zu tun. Der Austritt
    des großen Nachbarlandes wird seiner
    möglichen Auswirkungen auf die iri-
    sche Wirtschaft wegen als nationale
    Krise wahrgenommen, was Neuwahlen
    nicht opportun erscheinen ließ. Gelän-
    ge der Austritt Ende Oktober, könnte
    Varadkar, ähnlich wie Johnson, als Bre-
    xit-Macher in die Wahlen gehen, als je-
    mand, der einen vernünftigen Deal mit
    herbeigeführt und so den Schaden für
    Irland eingehegt hat.
    Varadkar wurde 1978 in Dublin gebo-
    ren. Sein Vater, ein Hindu aus Mumbai,
    ist in den sechziger Jahren ins Vereinig-
    te Königreich eingewandert, um dort
    als Arzt zu arbeiten, und später mit sei-
    ner Frau, einer irischen Kranken-
    schwester, nach Dublin umgezogen.
    Leo folgte der Mutter in religiösen Be-
    langen und dem Vater in beruflichen.
    Er nahm den katholischen Glauben an
    und studierte Medizin. Als Arzt trieb er
    seine politischen Ambitionen in der
    konservativen Fine Gael voran. Er ge-
    langte rasch aus der Lokalpolitik in das
    Parlament. Nach dem Machtwechsel
    von 2011 nahm ihn Enda Kenny ins Ka-
    binett auf, sechs Jahre später wurde er
    Regierungschef.
    JOCHEN BUCHSTEINER


Leo VARADKAR Foto Reuters


Flucht nach vorn


BERLIN,18. Oktober


I


nsgesamt nicht schlechter geworden
zu sein ist für die Kultusminister, die
sich weder auf einen Staatsvertrag für
mehr Vergleichbarkeit noch den Bildungs-
rat einigen konnten, beim Bildungstrend
2018 für Mathematik und die Naturwissen-
schaften des Instituts zur Qualitätsent-
wicklung im Bildungswesen (IQB) schon
ein Erfolg. Doch der Schein trügt. Die
deutlich schwächeren Ergebnisse als im
Bildungstrend 2012 in Brandenburg,
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen,
Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz,
aber auch im Saarland und in Sachsen-An-
halt werden nur durch die herausragenden
Leistungen Bayerns und Sachsens ausge-
glichen. Auch die verbesserten Leistungen
in Baden-Württemberg und Nordrhein-
Westfalen (dort verbesserten sich in Ma-
thematik vor allem die Mädchen) trugen
zur Stabilisierung der Gesamtwerte bei.
„Dass Bayern und Sachsen so robust daste-
hen, liegt vielleicht auch daran, dass diese
Länder so wenig an ihren Schulsystemen
herumexperimentieren“, sagte die für die
Studie verantwortliche Bildungsforsche-
rin Petra Stanat, die Direktorin des IQB.
Im Bildungstrend geht es darum, die
von der Kultusministerkonferenz (KMK)
festgelegten Lernziele (Kompetenzziele)
in den Ländern zu testen, dabei ein hohes
Niveau und möglichst geringe Unterschie-
de zwischen den Ländern zu erzielen.
Überprüft werden die Anforderungen des
mittleren Schulabschlusses (10. Klasse)
ein Jahr bevor er erreicht ist.
Erschreckend hoch sind die Anteile der
Schüler, die in Mathematik unterhalb des
Mindeststandards bleiben, die nach der
Grundschule nichts mehr dazugelernt ha-
ben und selbst mit einfachen Rechnungen
Probleme haben. Im Bundesdurchschnitt
sind es 24,2 Prozent, in Bremen aber alar-
mierende 40,6 Prozent, in Berlin 33,9, im
Saarland 31,2, in Hamburg 28,8 Prozent
und in Schleswig-Holstein 28,5 Prozent.
In Sachsen indessen bleiben nur 14 Pro-
zent unterhalb des Mindeststandards. Ent-
sprechend hoch ist hier wie auch in Bay-
ern der Anteil der Schüler, die mindestens
den Regelstandard (wünschenswerte
Norm) erreichen (Bayern 55,2 Prozent,
Sachsen 56,6 Prozent). Auch die Spitzen-
gruppe, die Bestleistungen aufweist, liegt

in beiden Ländern mit mehr als sechs Pro-
zent am höchsten. In Bremen erreichen
nur klägliche 1,8 Prozent und in Mecklen-
burg-Vorpommern sogar nur 1,5 Prozent
Bestleistungen.
Von ungünstigen Entwicklungen sind
Jungen häufiger betroffen als Mädchen.
Obwohl sie nur in Mathematik bessere
Leistungen als Mädchen erzielen, schät-
zen sie ihr eigenes Können in Mathema-
tik, Chemie und Physik höher ein. „Insbe-
sondere die Tatsache, dass Jungen im ver-
gangenen Jahr geringere Kompetenzen
als noch 2012 nachweisen konnten und
ihr Interesse an den getesteten Fächern ge-
sunken ist, sollte uns wachrütteln“, sagte
der Präsident der KMK, Hessens Kultusmi-
nister Alexander Lorz (CDU), am Freitag
in Berlin. Insgesamt erreichen zwar 45 Pro-
zent der Neuntklässler die Regelstandards
für den mittleren Schulabschluss, doch in
keinem Land gibt es signifikant positive
Veränderungen. Das ist ein niederschmet-
ternder Befund, zumal in den vergange-
nen Jahren viel über Unterrichtsqualität
in Mathematik geforscht wurde. In fünf
Ländern haben sich die Ergebnisse beson-

ders ungünstig entwickelt. Das gilt für
Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern
sowie Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt
und Schleswig-Holstein. In diesem Län-
dern liegt der Leistungsabfall in Mathema-
tik zwischen 13 und 35 Kompetenzpunk-
ten, was etwa dem Kompetenzzuwachs
von einem Viertel bis drei Vierteln eines
Schuljahrs am Ende der Sekundarstufe I
entspricht.
Interessant ist, dass der Unterricht aus
Sicht der Schüler an nichtgymnasialen
Schulformen im Jahr 2018 strukturierter
und kognitiv aktivierender verläuft als im
Jahr 2012, wohingegen sich die mittleren
Kompetenzwerte an den Gymnasien seit
damals ungünstig entwickelt haben. Das
Ergebnis zeige die Vernachlässigung der
Schulform in vielen Ländern, die sich an
einer zu knappen finanziellen und perso-
nellen Ausstattung für die Begabungsför-
derung festmache, sagte der Präsident des
Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter
Meidinger. Das gilt in besonderem Maße
für Baden-Württemberg. Bisher waren es
die Gymnasien, die das Niveau steigerten
oder aufrechterhielten, doch das scheint

sich geändert zu haben. Während die Be-
suchsquote der Gymnasien sich in vielen
Ländern nicht geändert hat, sind die nach-
lassenden Leistungen in Baden-Württem-
berg nach Auffassung der dortigen Kultus-
ministerin Susanne Eisenmann (CDU),
der Koordinatorin der unionsregierten
Länder, mit dem Wegfall der Grundschul-
empfehlung zu erklären. In Baden-Würt-
temberg gehen über zehn Prozent mehr
Schüler als 2012 auf das Gymnasium.
Längst nicht alle von ihnen haben eine ent-
sprechende Empfehlung.
Beim IQB-Ländervergleich wurden erst-
mals auch die Flüchtlingskinder aus den
Jahren 2015 und 2016 erfasst, die etwa
zwei Prozent der Schülerschaft ausma-
chen. Insgesamt ist der Anteil der Schüler
mit Migrationshintergrund um 6,8 Pro-
zent gestiegen. Inzwischen sind es 33,
Prozent der Schüler, das sind sieben Pro-
zentpunkte mehr als 2012. In einzelnen
Ländern wie in Baden-Württemberg ist
der Migrantenanteil an den Schulen um
14 Prozent gestiegen; dort liegt der Ge-
samtanteil jetzt bei 43,2, in Hessen bei
44,7, in Berlin bei 47,1 und in Bremen bei
49,9 Prozent. Nach wie vor gibt es in den
ostdeutschen Ländern nur wenige Schüler
mit Migrationshintergrund.
Auffällig ist, dass es Berlin, Bremen,
Hessen, Niedersachsen und auch dem
Saarland besonders schlecht gelingt, Ein-
wandererkinder in Mathematik ausrei-
chend zu fördern. Am schwächsten schnei-
den Schüler mit zwei im Ausland gebore-
nen Elternteilen ab. Bei Schülern mit ei-
nem im Ausland geborenen Elternteil gibt
es keine bedeutsamen Unterschiede zu
deutschen Schülern. Auch Förderschüler
waren einbezogen. Der Anteil der inklusiv
beschulten Kinder und Jugendlichen liegt
deutschlandweit bei 32,6 Prozent. In Bre-
men besuchen 87,8 Prozent der Schüler
mit Förderbedarf eine Regelschule, in
Schleswig-Holstein 72,5 Prozent. Es fol-
gen Berlin mit 66,2 Prozent und Hamburg
mit 62,5 Prozent. Hamburgs Schulsenator
Thies Rabe, Koordinator der sozialdemo-
kratisch regierten Länder, zeigte sich unzu-
frieden mit den Ergebnissen seines Lan-
des. Er erhofft sich Verbesserungen da-
durch, dass nur noch ausgebildete Mathe-
matiklehrer an Gymnasien und Stadtteil-
schulen unterrichten dürfen, was bis vor
kurzem nicht der Fall war.

Brexit-Macher


EL ALTO,18. Oktober
Zwischen den Backsteinhäusern von El
Alto wehen unzählige blaue Fahnen im
Wind, der eisig über die bolivianische
Hochebene weht. Zehntausende sind auf-
geboten worden, um den letzten Akt des
Wahlkampfes ihres Präsidenten zu unter-
stützen. Boliviens Präsident Evo Morales
will zum vierten Mal die Präsidentenwahl
gewinnen, doch seit seinem ersten Sieg
2006 war der Ausgang nie so offen wie
jetzt. Alle Umfragen deuten darauf hin,
dass er zum ersten Mal in eine Stichwahl
gehen muss. Wie in alten Zeiten wettert
Morales in seiner Rede gegen Privatisie-
rungen, den Internationalen Währungs-
fonds, seine konservativen und wirt-
schaftsliberalen Gegner. Morales ist unge-
wohnt nervös und aggressiv. Die ruhige
Aura, die ihn lange umgeben hatte, ist ver-
flogen.
Morales hat den Ort seines letzten Kam-
pagnenauftritts gezielt gewählt. El Alto ist
ein Symbol der wirtschaftlichen Dynamik
des vergangenen Jahrzehnts und des sozia-
len Aufstiegs der Indigenen unter seiner
Regierung. Aus einem ländlichen Stadtteil
von La Paz ist El Alto die zweitgrößte
Stadt Boliviens geworden, mit rund einer
Million Einwohnern größer als La Paz
selbst. Viele indigene Zuwanderer aus
dem armen Hochland haben sich hier nie-
dergelassen. Die Bevölkerung ist jung und
aufstrebend. Viele der Neuankömmlinge
haben eigene Geschäfte aufgebaut und
sind aus der Armut in eine bescheidene
Mittelschicht aufgestiegen. Einige sind gar
reich geworden. Die Stadt spiegelt gewis-
sermaßen den Aufstieg von Evo Morales
wider, des aus bescheidenen Verhältnis-
sen stammenden Indigenen, der es vom
Koka-Pflanzer ganz nach oben geschafft

hat. Bis zur Wahl von Morales war Boli-
viens indigene Bevölkerung ausgegrenzt
und überwiegend arm. Morales gab ihr
mehr Rechte. Die Distanz zwischen der
weißen und der indigenen Kultur hat sich
verringert.
Kein Präsident in Südamerika ist länger
im Amt als Morales. Wie andere linkspo-
pulistische Präsidenten der Region profi-
tierte er von einem Boom der Rohstoff-
preise. Er nutzte den Staat als Wachstums-
motor, schuf Staatsbetriebe und leitete das
Geld aus dem Export von Erdgas in Sozial-
programme. Am stärksten profitierte da-
von die indigene Bevölkerungsmehrheit.
Eine neue mittlere Einkommensschicht
entstand.
In keiner anderen Stadt zeigt sich der
Wandel so deutlich wie in El Alto. Die in-
digenen Aufsteiger stellen ihren Erfolg
stolz zur Schau. In den vergangenen Jah-
ren sind viele sogenannte „Cholets“ ent-
standen: bunte mehrstöckige Häuser mit
reich dekorierten Fassaden. Oftmals verfü-
gen die Gebäude über prunkvolle Festsäle
und ein Penthouse, in dem die Besitzer-
familie lebt. Futuristische Varianten mit
abenteuerlichen Stahl- und Glasfassaden
nennen sich „Transformer“. Die protzigen
Gebäude sind die Statussymbole der neu-
reichen indigenen Unternehmerfamilien
von El Alto.
Lidia Ticona gehört zu ihnen. Sie wuchs
auf dem Land auf, wo ihre Familie etwas
Kaffee anbaute. Im Alter von zwanzig Jah-
ren zogen ihr Mann und sie nach El Alto
und gründeten ein Transportunterneh-
men. Heute werden ganze Sojaladungen
in ihrem Auftrag durch Bolivien verfrach-
tet. Sie kauften Land in El Alto und ver-
kauften es mit Gewinn. Schließlich bau-
ten sie ihr „Cholet“. Irgendwann soll dar-

aus ein Hotel werden. Die Tochter des Ehe-
paars geht in La Paz auf die beste und teu-
erste Universität. Ticona stuft sich selbst
nicht als reich ein. „Wir haben unsere Be-
scheidenheit behalten“, sagt sie. Ein brei-
tes Grinsen bringt ihre mit Gold eingefass-
ten Zähne zum Vorschein.
El Alto ist ein Symbol für die Emanzipa-
tion der indigenen Bevölkerung – auch für
ihre Emanzipation von Morales. Denn
trotz aller Identifikation mit dem Präsiden-
ten stehen gerade die Unternehmer ihm
kritisch gegenüber. Mit der Politik wollen
sie so wenig wie möglich zu tun haben.
Die Bevölkerung von El Alto sei nicht so-
zialistisch, sondern äußerst kapitalistisch
und habe ein ausgeprägtes Konsumverhal-
ten entwickelt, sagt die Soziologin Paola
de la Rocha. „Staatliche Regulierung er-
achten viele als ein Hindernis für mehr Er-
folg und Wohlstand.“ Über Politik will Ti-
cona lieber nicht sprechen. Sie wolle nicht
schlecht reden vom Präsidenten.
Boliviens Gesellschaft hat sich unter
Evo Morales verändert. Doch auch Mora-
les selbst hat sich verändert. Er war vor
dreizehn Jahren mit einem revolutionären
Ansatz angetreten: als Kämpfer für die In-
digenen, als Feind der Oligarchen und als
Freund der „Mutter Natur“. „Heute ist er
genau das Gegenteil“, sagt der Politologe
Franklin Pareja. Die Regierung regiere
mehr für die Agrarindustrie, die Baubran-
che, die Banken und die Bergbaukonzerne
statt für die Armen. Hinzu kommen Kor-
ruptionsvorwürfe und ein zunehmender
Autoritarismus. Deutlich zeigte sich das,
als sich die Bolivianer 2016 in einem Refe-
rendum gegen eine unbeschränkte Wieder-
wahl des Präsidenten stellten. Das von Mo-
rales kontrollierte Verfassungsgericht eb-
nete später dennoch den Weg für seine

abermalige Kandidatur. „Die Bevölkerung
akzeptiert das nicht“, sagt Pareja.
Auch dieses Jahr ging die Entzaube-
rung von Evo Morales weiter. Brände zer-
störten riesige Waldgebiete im Osten Boli-
viens. Die Regierung reagierte erst zöger-
lich, dann hilflos. Noch schädlicher für
Morales’ Ansehen war aber die Tatsache,
dass er kurz vor den Bränden ein Dekret
unterzeichnet hatte, das die „kontrollierte
Brandrodung“ zur Gewinnung von Acker-
flächen erlaubt.
Laut einer Umfrage verschiedener Uni-
versitäten kommt Morales nur noch auf
knapp über dreißig Prozent. Bei der Wahl
2014 siegte er noch mit mehr als 60 Pro-
zent im ersten Wahlgang. „Morales hat
den Mythos der Unbesiegbarkeit verlo-
ren“, sagt Pareja. Die urbane Mittelschicht
und junge Wähler ohne enge Bindung zu
Morales hätten sich von ihm abgewandt.
Für einen Sieg im ersten Wahlgang
braucht er wenigstens vierzig Prozent der
Stimmen bei gleichzeitig zehn Prozent-
punkten Vorsprung auf den Oppositions-
kandidaten Carlos Mesa. Sollte es im De-
zember zu einer Stichwahl kommen, hätte
Morales die schlechteren Karten, da sich
die Opposition hinter Mesa vereinen wür-
de. Deshalb will Morales eine Stichwahl
um jeden Preis vermeiden. Die Oppositi-
on fürchtet deshalb Betrug. Die Regierung
kontrolliert wichtige Medien und hat öf-
fentliche Gelder für den Wahlkampf von
Morales verwendet. Das Wahlgericht ist
nicht unabhängig. Die Justiz war während
des Wahlkampfes zudem zur Einschüchte-
rung von Oppositionspolitikern instru-
mentalisiert worden. Gefährlich könnte es
jedoch auch werden, wenn am Sonntag
ein Sieg von Morales im ersten Wahlgang
verkündet wird: Beobachter halten die
Stimmung im Land für explosiv.

Wortbruch der EU


Mexikos Geißel


Niederschmetternde Befunde


Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends für Mathematik und Naturwissenschaften / Von Heike Schmoll


Der verflogene Zauber des Evo Morales


BoliviensPräsident muss am Sonntag erstmals um die Wiederwahl fürchten / Von Tjerk Brühwiller


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Quelle: IQB-Bildungstrend 2018 F.A.Z.-Grafik Walter

Das Leistungsniveau in Mathematik ist gesunken
Anteil der Schüler, die im Fach Mathematik in der 9. Klasse den Mindeststandard verfehlen (in Prozent)

Bremen

2018 2012

Berlin
Saarland
Mecklenburg-Vorpommern
Hamburg

Hessen

Schleswig-Holstein
Nordrhein-Westfalen

Rheinland-Pfalz
Sachsen-Anhalt
Deutschland
Brandenburg
Niedersachsen
Baden-Württemberg
Thüringen
Bayern
Sachsen

40,
33,
31,
29,
28,

27,

28,
27,

27,
24,
24,
24,
23,
22,
19,
17,
14,

38,
32,
28,
19,
28,

27,

23,
30,

24,
21,
25,
18,
24,
23,
17,
20,
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