Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.10.2019

(Axel Boer) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019·NR. 245·SEITE 11


W


oauch immer triumphierend
oder wehmütig das Fehlen
zeitgenössischer Dramatik
beschworen, der Schwund
dialogischer Texte von der Bühne beklagt
wird, kann man nun froh entgegnen:
Fahrt nach München! Zum Residenzthea-
ter. Schaut euch das neue Stück von
Ewald Palmetshofer an. Und überlegt
euch, ob ihr dann immer noch sagen
wollt, es gebe heute keine Dramatiker
mehr. Hier beweist einer das Gegenteil.
Indem er für die große Bühne schreibt,
fürs Ensemble, das damit lustvoll spielen
kann vor einem Publikum, das die Erzäh-
lung schätzt und Sprachkunst auch in un-
seren fortgeschrittenen Theatertagen
nicht für minderwertig hält.
„Die Verlorenen“ heißt das neue Stück
von Ewald Palmetshofer, das er für sei-
nen langjährigen Intendanten Andreas
Beck – seit dieser Spielzeit Leiter des
Münchener Residenztheaters – geschrie-
ben hat. Nach seinem großen Erfolg mit
einer aktualisierten Bearbeitung von
Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ im
letzten Jahr ist das nun wieder eine eige-
ne Produktion, im unverwechselbaren Pal-
metshofer-Stil, mit seiner uneigentlichen
Diktion und herrlich verkünstelten Satz-
führung. Im dramatischen Brennpunkt
steht Clara, eine ewig Verlorene. Ohne
Mann und Geld, von ihrem Sohn verach-
tet und sich selbst verhasst, streift sie
durchs Leben, als wäre sie der Welt ab-
handengekommen. Schon in der Schule
war sie aus Prinzip die Ausgeschlossene,
nur um sich dann mit der Zeit immer
mehr „eingeschlossen im Leben-Sein“ zu
fühlen. Und ständig abzurutschen, hin-
zugleiten, umzufallen, wie um zu bewei-
sen, dass es nichts anderes über ihr gibt,
keinen Schutz, kein Drunten, Droben,
Drüben, nur das Hier und Jetzt und die
Überzeugung: „Uns hält sonst keiner.“
Nach einem Prélude dichter chorischer
Beschreibungen steht Clara in einem
streng-schlichten weißen Bühnenraum,
mit nichts als einem Holzkreuz an der
Hinterwand, und verhandelt mit ihrem

Ex über ein Aussetzen ihrer Sorgepflicht.
Sie will ein paar Wochen in den Wald, ins
Haus der Großmutter, ohne Netzempfang
und vor allem ohne Verantwortung für
den gemeinsamen Sohn. Die neue Frau
des alten Mannes gibt vorwurfsvoll Erzie-
hungsratschläge, während das Kind unter
der Bettdecke mit dem Gesicht nah am
Bildschirm bleibt. Eine Alltagsszene, Ent-
wurf eines gewöhnlichen Lebens, so wie
es Millionen führen, ohne zu merken, wie
viel Schaden sie dabei nehmen, wie aus-
weglos sie gerade verlorengehen.
Das sich verändernde Licht ist der ein-
zige offensive Einfluss, den Nora Schlo-
ckers ruhige, sehr feinfühlende Regie auf
das Textgeschehen nimmt. Es trennt die
verschiedenen Szenen voneinander, gibt
den Takt vor für die rhythmisch geformte
Sprachpartitur. Dadurch, wie die Worte
zueinanderkommen und sich voneinan-
der abstoßen, entsteht eine Spannung,
die sich dann kraftvoll auf das Gesagte
überträgt. So kann beispielsweise ein The-
kengespräch in der Dorftanke zum ge-
heimnisvollen Orakelspruch für eine Ge-
sellschaft von Geschundenen werden.
Ein Mann, den sie „den alten Wolf“ nen-
nen, erzählt der „Frau mit dem krummen
Rücken“ und dem „Mann mit der Trichter-
brust“ davon, wie er nachts mit seinem
Auto schlaflos durch den Wald gefahren

und plötzlich mit einer Hirschkuh zusam-
mengetroffen sei. Schnaubend hätte die
sich nicht vom Fleck gerührt, sei stattdes-
sen langsam auf ihn zu spaziert, hätte die
Vorderhufe auf die Motorhaube gestellt,
den Kopf weit hervorgestreckt und ihren
Atem auf die Windschutzscheibe schla-
gen lassen. Und als er dann zurücksetzen
wollte, so der „alte Wolf“, sei die Hirsch-
kuh auf einmal losgaloppiert, als ob „es
auf mein Auto aufgeritten ist, das Teufels-
vieh, als ob’s es ficken wollt“.
So wie Steffen Höld die Ereignisse er-
zählt und Nicola Kirsch und Max Mayer
ihm zuhören, gespannt, ungläubig und
dann doch wieder zweifelnd, ob nicht viel-
leicht doch ein größerer Sinn hinter dem
Gesagten stecken könnte, im Sinne eines
Verschwimmens der gewohnten Unter-
scheidung zwischen Mensch und Tier, so
düster komisch, wie das Erzählte wirkt,
hat man das Gefühl, hier würde Sprache
zum bilderbildenden Wert. Immer wieder
bricht Palmetshofer die sogenannte Wirk-
lichkeit mit Phantasie-Einsprengseln auf:
Einhörner spießen dummplappernde
Mütter am Rand eines Kinderspielplatzes
auf, ein Mann sitzt auf einer einsamen In-
sel und besitzt die ganze Welt. Das Stück
ist durchzogen von der alten Wunschvor-
stellung, dass der Mensch ganz er selbst
sei, und von der düsteren Vorahnung,
dass er viel mehr gefangen sein könnte,
„in eine Körperkapsel eingeschlossen“,
von hohen Mauern umgeben, die sein Ich
vom Du der anderen trennen: „man kann
den Menschen sich durch einen andern
Menschen zuführn nicht“, lässt Palmets-
hofer seine Protagonistin sagen. Aber Cla-
ra, so wie Myriam Schröder sie spielt,
klagt nicht, sie bäumt sich nicht auf gegen
das Schicksal, sondern ist ganz und gar
von der Immanenz überzeugt. Ihre Ein-
samkeit ist unausweichlich und kein Ver-
handlungsgegenstand mehr, denn „am
Ende hat noch jeder jede aufgegeben“.
Palmetshofers Stück funkelt, ist ko-
misch, abgründig, unberechenbar, es hat
Sätze von bernhardschem Grimm und
horváthscher Traurigkeit und Figuren,
die, auch wenn sie nur kurz auftreten, aus-

drucksstark gezeichnet sind. So wie Cla-
ras Mutter – mit stiller Sorge: Sibylle Ca-
nonica – , die nicht verstehen will, warum
ihre Tochter „so anders sein“ muss, oder
Kevin, Claras jugendlicher Liebhaber,
den sie in einer Großraumdisko mit Na-
men „X-perience“ kennenlernt und der
von Johannes Nussbaum unangestrengt
verführerisch gespielt wird, aber mit ei-
ner Stimme spricht, die sich nach Bedeu-
tung sehnt. „Was werden wir gewesen
sein?“, fragt er ins stille Publikum hinein
und fährt kurz in die Stadt, um Milch zu
holen. Der Ex-Mann kommt, mit neuer
Frau und verlorenem Sohn im Gepäck,
der von der Schule suspendiert ist wegen
eines Videos, das ihn bei einer Kindes-
misshandlung zeigt. Aber was – als der
junge Liebhaber wieder plötzlich in der
Tür steht – noch kurz als klassische Bezie-
hungsfinte wirkt, fällt jetzt rasend schnell
zum tragischen Ende hin ab. Der Sohn,
„entwest“ von seiner Mutter, rangelt mit
ihr am Fenster, und Clara, die immer
schon zum Fallen Neigende, stürzt rück-
lings hinaus auf einen spitzen Zaunpfahl.
Als Schmerzensfrau lässt Schlocker sie
am Ende aufgespießt an der weißen
Wand hängen, während das Blut langsam
nach unten rinnt.
Der Ausgang ist vielleicht zu konstru-
iert, zu klassizistisch, es braucht die gro-
ße Schreckenstat gar nicht, die vielen klei-
nen Szenen der Zerstörung sind ein-
drucksvoll genug. Was könnte denn auch
beunruhigender auf uns wirken als die
einschneidende Frage: „Wer soll das sein,
das Ich?“ Mit Palmetshofers Eröffnungs-
stück steigt München über Nacht wieder
an die Spitze des literarischen Theaters
auf. Mit großer Eigenart und poetischer
Lust wird hier auf hohem dramaturgi-
schen Niveau ein Beweis gegen Gott ver-
sucht. Dass der am Ende doch scheitert,
kann nur Zufall sein. Oder eben doch die
Strafe für so stolze Sätze wie diese: „In
der Hinterhand verborgen, hältst du
nichts zurück, du Welt, gespielt sind alle
Karten schon, was man in Händen hält,
es wurde schon gegeben, mehr erhält
man nicht.“ SIMON STRAUSS

Am Ende hat noch jeder jede aufgegeben

Einen seiner witzigsten Texte schrieb
Manfred Trojahn als eine kleine literari-
sche Begleitmusik zu seiner Arbeit an den
Rezitativen von Wolfgang Amadeus Mo-
zarts Oper „La clemenza di Tito“, die er
2002 für die Nederlandse Opera neu kom-
ponierte, textlich aber nicht antastete.
Die Handlung, so denkt er sich, wird wei-
tergehen, „wenn wir alle, nach der Oper,
beim Essen sitzen. Ich stelle mir eine Sze-
ne vor, in der Tito trotz allem Vitellia ge-
heiratet hat. Sie wird ein strenges Regi-
ment führen, und wenn ein Haufen Staats-
feinde sich im Colosseum mit den Löwen
balgen darf, höre ich ihn sagen: ‚Ach Vi-
tellchen, dass du an so was Freude hast‘,
und dann zieht er sich zurück und geht
nicht mit, sondern bleibt zu Haus und
denkt darüber nach, wie die Welt zu ver-
bessern wäre.“ Ebendie Figur der Vitellia
habe ihn angestachelt, das gewagte Pro-
jekt in Angriff zu nehmen. Schnatternde
Klarinetten sollen ihr Signal werden.
Mit überbordender szenischer Phanta-
sie, die sich am Mechanismus der Figu-
ren entzündet und diese immer weiter in
einen tollen Wirbel treibt, überraschte
Trojahn 1991 in Schwetzingen sein Publi-
kum, als er in der konventionellen Hülle

einer Opera buffa seinen Enrico auftre-
ten ließ, jene verrückte Pirandello-Figur,
die – von ihrer Verrücktheit geheilt – den
Verrückten weiter spielt. Das war das
endlich gefundene Sujet für den sich
selbst dabei entdeckenden Ironiker Tro-
jahn. Die Musik nahm ein bisher unge-
ahntes Tempo auf. Es war ein Ausbruch
aus den letzten Hemmnissen einer Avant-

garde-Doktrin, welcher der Parameter
von Metrum und Rhythmus über allen
konstruktiven und Klangflächen-Experi-
menten abhandengekommen war.
Einen anderen Ausbruch hatte er drei-
zehn Jahre zuvor inszeniert, mit der für
Donaueschingen komponierten zweiten
Symphonie, die alles das tat, was die ge-
strengen Theoretiker eines linearen Fort-
schritts verboten hatten: mit einer empha-
tischen Hommage an Gustav Mahler, ver-
packt in eine harsche Tritonus-imprä-
gnierte Harmonik, die am Schluss des
Werks mit gnadenlosen Tuttischlägen Tro-
jahns Vertreibung aus dem Avantgarde-
Paradies geradezu herausforderte. Und
mit dem bald darauf folgenden ersten See-
bild, das sich unter anderem an Jean Sibe-
lius orientierte, legte er noch eins drauf.
Ungeschützter subjektiver Ausdruck
war wohl in diesen Jahren in den Augen
vieler sein größtes Sakrileg. Dass dann
sehr bald, spätestens mit der dritten Sym-
phonie von 1984/85, eine Zeit der medi-
terranen Transparenz, der Leichtigkeit
und der Distanzierung vom gewaltsamen
Ausdruck begann, hat bis heute der Ex-
pressivität keinen Abbruch getan. Eines
der schönsten Beispiele dafür ist wohl die

„Lettera amorosa“ von 2007, komponiert
zur Wiedereinweihung der Anna Amalia
Bibliothek in Weimar, mit ihren so glä-
sern entrückten und zugleich fiebrigen
Gesängen der Schlaflosigkeit.
Noch einmal gab es eine Wendung in
Trojahns Werk, die niemand sich so vor-
zustellen vermocht hätte: Auf die Opere
buffe, die in einem bizarren Italien spie-
len, folgte 2011 in Amsterdam mit
„Orest“ ein tragisches antikes Sujet, des-
sen Neudeutung die Frage nach der „Ak-
tualität“ solcher Stoffe verblassen lässt:
Der am Ende freigesprochene Mutter-
mörder kündigt seinen Göttern und tritt
den Weg ins Ungewisse an, in eine neue
Ordnung, die noch keiner kennt.
Dass sein „Orest“ die Erfolge der vier
früheren Opern noch überflügelt hat,
dürfte die größte Genugtuung für den
Komponisten gewesen sein, dessen ei-
gensinniger Weg ohne eine im besten
Sinn konservative Überzeugung von der
Autonomie der Kunst, auch gegenüber
ihren eigenen Ideologen, wohl so nicht
möglich gewesen wäre. Er arbeitet gegen-
wärtig an seiner sechsten Symphonie
und feiert heute seinen siebzigsten Ge-
burtstag. KLAUS HEINRICH KOHRS

Nicht allen Beobachtern der Ausschreitun-
gen in Katalonien gelingt es in diesen Ta-
gen, die komische Seite der Dinge zu ent-
decken, was bei vielen Dutzend Verletzten
und Inhaftierten auch nicht weiter verwun-
dert. Aber für Satiriker wäre die verfahre-
ne Kommunikation zwischen Spaniens Mi-
nisterpräsidenten Pedro Sánchez und dem
katalanischen Ministerpräsidenten Quim
Torra ein gefundenes Fressen. Es ist näm-
lich so: Torra würde gern mit Sánchez tele-
fonieren. Er möchte ihm sagen, dass man
miteinander reden müsse, um den Kon-
flikt endlich zu lösen. So kann das nicht
weitergehen, würde er vielleicht sagen,
wir brauchen Dialog! Sánchez aber nimmt
nicht ab. Warum? Weil Torra die Gewalt-
exzesse der letzten sieben Tage nach dem
Urteilsspruch im Madrider Separatisten-
prozess nicht verurteilt.
So geht das jetzt schon seit längerem:
Torra lässt sein Sekretariat Sánchez’ Tele-
fonnummer im Madrider Regierungspa-
last Moncloa wählen – und dort wird ihm
laut Medienberichten immer wieder be-
schieden, Sánchez befinde sich „in einer
Sitzung“. Am Sonntag war sogar zu lesen,
Torra habe auch Sánchez’ Privatnummer.
Doch auch dort geht Sánchez offenbar
nicht dran, weil er weiß, was für ihn auf
dem Spiel steht – am 10. November sind in
Spanien schon wieder Parlamentswahlen.
Es kostet nicht viel Phantasie, sich das
Ganze als Sketch vorzustellen: Das Mobil-
telefon brummt, klingelt oder fiept, Sán-
chez schaut darauf und sagt: „Das ist wie-
der Quim Torra, die Nervensäge.“ Und zu
seinen Leuten: „Habt ihr ihm nicht gesagt,
er soll sich erst wieder melden, wenn er
die Gewalt in den Straßen von Barcelona
verurteilt hat?“
Während es also mit der unverurteilten
Gewalt noch ein bisschen weitergeht, ist
es mit dem Angebot zum „Dialog“ so eine
Sache. Einen Dialog über die katalani-
sche Unabhängigkeit wird es weder mit
Sánchez noch mit irgendeinem anderen
spanischen Politiker geben, also kann
man sich das Gespräch auch schenken.
Abspaltung ist in der demokratischen Ver-
fassung von 1978 nicht vorgesehen, und
der Oberste Gerichtshof hat dazu das Sei-
ne gesagt. Um es auf den kleinsten ge-
meinsamen Nenner zu bringen: Etwa die
Hälfte der Katalanen wünscht sich einen
eigenen Staat, die andere Hälfte lehnt ihn
ab, weil sie zugleich spanisch und katala-
nisch empfindet. Dieses Verhältnis ist
ziemlich stabil geblieben, obwohl die Se-
paratisten ein attraktiveres Narrativ ha-
ben, seit vielen Jahren Regierungsgelder
für Propaganda ausgeben und eine deut-
lich geschicktere Außendarstellung betrei-
ben. Friedliche Demonstranten mit schö-
nen Fahnen sind und bleiben halt ein er-
hebendes Bildmotiv.


Dieses Image hat nach der Urteilsver-
kündung der vergangenen Woche einen
ziemlichen Riss bekommen. Ein harter
Kern von fünfhundert glänzend organi-
sierten und schnell agierenden Leuten –
mit einer Reserve von etwa dreimal so vie-
len Aktivisten im Hintergrund – hat die
Polizei zum Kampf gefordert, Kommuni-
kationswege lahmgelegt, Autos abgefa-
ckelt und Sachschäden in Millionenhöhe
angerichtet, vom Ansehensverlust für die
Touristenstadt Barcelona gar nicht zu re-
den. Dass die autonome Szene der katala-
nischen Großstädte zum separatistischen
Lager gehört, war seit langem klar, doch
noch nie hat sich dieser Teil der Anhän-
gerschaft so ungehindert ausgetobt. Als
Ministerpräsident Sánchez jetzt in Barce-
lona war, traf er sich deshalb nicht mit
Quim Torra (der in den Gewalttätern
„Eingeschleuste“ und „Provokateure“
sieht), sondern besuchte verletzte Polizis-
ten im Krankenhaus.
Wie es weitergehen könnte, weiß nie-
mand. Die Fronten sind verhärtet, die ka-
talanische Gesellschaft ist tief gespalten.
Auch die Kulturszene hat sich in zwei
Hälften geteilt. Oft geht der Riss zwi-
schen Unabhängigkeitsbefürwortern und
-gegnern mitten durch die Familien. Bei-
de Seiten berufen sich auf demokrati-
sches Recht, bieten juristische Experten
auf und werben um internationale Unter-
stützung. Dass es nicht einmal in grund-
sätzlichen Fragen Einigkeit gibt – etwa
über Begriffe wie Demokratie, Gerechtig-
keit oder Gewaltenteilung –, spricht für
eine geschwächte Identifikation mit dem
Institutionenstaat und einen Machtge-
winn des Plebiszitären. Geht es nach den
Separatisten, reicht es schon, große De-
monstrationen mit Unzufriedenen zusam-
menzutrommeln, um den spanischen
Staat in die Knie zu zwingen.
Die linke Feministin Lidia Falcón, in-
zwischen 83 Jahre alt, hat angemerkt, hin-
ter dem katalanischen Separatismus ste-
cke das Kapital, also das nackte Wirt-
schaftsinteresse. Klar ist jedenfalls, dass
der Separatismus sich bis auf weiteres
sämtliche anderen gesellschaftlichen The-
men einverleibt oder als nutzlos beiseitege-
schoben hat. Mann oder Frau, arm oder
reich, grün oder schwarz – nichts davon
zählt angesichts der nationalen Identitäts-
frage. Und da der katalanische Minister-
präsident Quim Torra als Führungsfigur
der Separatisten so gründlich diskreditiert
ist, dass wirklich niemand mehr mit ihm
sprechen will, hat längst die Suche nach
neuen politischen Köpfen begonnen. Ei-
ner von ihnen, so berichten katalanische
Medien, könnte der zurzeit in Manchester
tätige Fußballtrainer Pep Guardiola sein.
Kein Witz. PAUL INGENDAAY

GENF, 21. Oktober
Dass Peter Handke in der Schweiz Parla-
mentswahlen beeinflusste, wird auch
nach dem Erdbeben niemand behaupten.
Im neutralen Kleinstaat hielt sich die Pole-
mik über seinen Nobelpreis in Grenzen.
Vladimir Dimitrijević, der seinen hochan-
gesehenen Verlag L’Age d’Homme in Lau-
sanne zu Milošević’ frankophoner Propa-
gandazentrale gemacht hatte, ist tot. Ihm
ging es um den serbischen Nationalismus.
Handke aber „bedauerte das Auseinander-
fallen dieses Vielvölkerstaats“.
Diesen Befund formulierte Gerhard
Pfister, Präsident der Christlichen Volks-
partei CVP, in der „Weltwoche“. Als eine
„Art Friedensprojekt“ betrachte er Hand-
kes Literatur. Der Abgeordnete und Ger-
manist Pfister, der Handke seine Doktor-
arbeit gewidmet hatte, will ihm durchaus
recht geben: „Weil Jugoslawien für ihn
auch ein Modell des Zusammenlebens ver-
schiedener Sprachen und Ethnien verkör-
perte.“ Die Parole, mit der Pfister und sei-
ne CVP in die Wahl zogen, lautet: „Wir
halten die Schweiz zusammen.“ Keines-
wegs erfolglos. Von den vier Regierungs-
parteien verlor die CVP am wenigsten: ge-
rade einmal 0,2 Prozent.
In helvetischen Dimensionen sind ein
paar Prozente schon ein Erdrutsch. Weil
aber die Grünen und die Grünliberalen
gleich um 5,9 und 3,3 Prozente zulegen
konnten, ist die allseits gebrauchte Meta-
pher vom Erdbeben durchaus zutreffend.
Zusammen sind die Grünen doppelt so
stark wie die CVP, deren Sitz in der Regie-
rung gefährdet ist. Einen „grünen“ Bun-
desrat gab es noch nie. Die „Zauberfor-
mel“ – die Verteilung der sieben Ministe-
rien – wackelt. Doch einfach so nach ei-
ner Wahl wird das System nicht verän-
dert.
Geht hingegen mit dem Triumph der
Grünen die dreißigjährige Hegemonie
der Schweizerischen Volkspartei SVP zu
Ende? Sie hatte mit dem Kampf gegen die
Annäherung an Europa begonnen und ei-
nen tiefen Graben zwischen Deutsch-
und Westschweiz aufgerissen. Als Jugosla-
wien auseinanderbrach, wurde in der
Schweiz der Bürgerkrieg zumindest rheto-
risch geführt. Es kam zu Spannungen fast
wie 1914, als die Landesteile mit ihren
kulturellen Mutterländern sympathisier-
ten. Carl Spitteler hielt damals die mutige
Rede „Unser Schweizer Standpunkt“, für
die er in Deutschland einen hohen Preis
bezahlen musste. 1919 bekam er dafür als
bisher einziger Schweizer den Literatur-
nobelpreis.


Die Beschäftigung mit Spittelers Erbe
nach hundert Jahren macht deutlich, wie
engagiert sich die Schriftsteller inzwi-
schen zur Neutralität – die im Kalten
Krieg als unpolitisch und unsolidarisch
kritisiert wurde – bekennen. „Dass wir als
Unbeteiligte manches klarer sehen, richti-
ger beurteilen als die in der Kampfleiden-
schaft Befangenen, versteht sich von
selbst“, zitiert der Genfer Daniel de Rou-
let Spitteler und kommentiert: „Man
könnte meinen, er spreche vom Hand-
werk des Schreibens: von der Parteinah-
me für die Nichtparteinahme.“
Sie ist das Dogma der SVP, die nach der
Jahrtausendwende auch in der Romandie
und im Tessin Fuß fassen konnte. Bezüg-
lich Europas verläuft der Graben nicht
mehr zwischen den Landesteilen, sie le-
ben friedlich nebeneinander. Die Verluste
der SVP haben sich im Westen und in den
Städten angekündigt, landesweit belau-
fen sie sich auf vier Prozent. In Genf wur-
de „die grüne Welle zum Tsunami“, so die
Lokalzeitung: 25 Prozent für die Grünen,
fünf für die Grünliberalen. Ist es das Ende
des Populismus?
Die SVP nimmt für sich in Anspruch,
die Schweiz vor Europa gerettet zu haben.
Jetzt verweigert sie sich der Rettung der
Welt. Kehrt damit das Land in die Ge-
schichte zurück, aus der es sich, wie der
Historiker Jean Rudolf von Salis befand,
1989 verabschiedet hatte? Man muss da
etwas skeptisch bleiben.
Drei Tage vor der Wahl hat der Schrift-
steller E. Y. Meyer in der „NZZ“ eine „Me-
gacity Switzerland“ beschrieben. Als
„Global Hub“ und „globales Drehkreuz“
erscheint ihm der Klein- und Stadtstaat
mit den Nationalparks Wallis, Graubün-
den, Tessin. Schonungslos fällt E.Y. Mey-
ers Diagnose aus. Er zitiert „grünliberale
Politikerinnen (ja Frauen, nicht Männer),
die unverfroren erklären, dass das Woh-
nen in der Schweiz zu billig sei und wir in
diesem Land alle (also auch sie?) zu viel
Wohnraum in Anspruch nehmen wür-
den“. Er zitiert weiterhin eine Studie, die
besagt, „dass die Schweiz stärker als jedes
andere Land auf Kosten der anderen Län-
der lebe“. Jetzt ist das Land grün. Ob aus
Zukunftsangst, Hoffnung oder gutem Ge-
wissen bleibe dahingestellt. Der Poet ver-
spottet die Wohlstandsverwahrlosung
eines Landes, das nach wie vor um den
Verlust seiner Sonderstellung und der da-
mit verbundenen historischen Verscho-
nung fürchtet: „Statt: hütet euch am Mor-
garten, wie in der alten Schweiz, sollte es
wohl besser heißen: Hütet euch im Schre-
bergarten.“ JÜRG ALTWEGG

Fiebrige Gesänge der Schlaflosigkeit


Ungeschützter Ausdruck des Subjekts: Dem Komponisten Manfred Trojahn zum siebzigsten Geburtstag


Kommt Pep Guardiola?


Nach den Gewaltexzessen: In Barcelona ist alles möglich


Beben im Schrebergarten


Nach der Wahl: Kippt die Schweizer „Zauberformel“?


Manfred Trojahn Foto Picture Alliance


Endlich wieder


Sprachkunst für die


große Bühne: Das


Residenztheater in


München eröffnet unter


neuer Leitung mit der


Uraufführung von


Ewald Palmetshofers


„Die Verlorenen“.


Stramm gestanden für Ewald Palmetshofers rhythmische Sprachpartitur „Die Verlorenen“: Das Ensemble des Münchner Residenztheaters Foto Birgit Hupfeld

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