Focus - 12.10.2019

(Ron) #1

KULTUR KOLUMNE


Fotos: Jeffrey Hornstein/Home in Canada Magazine Illustrationen: KAFI, Matthias Seifarth/FOCUS-Magazin

110 FOCUS 42/2019


Nach Norden in Urlaub zu fahren galt
früher als exotische Idee. Das lag am
zuverlässig verregneten deutschen
Sommer, von dem schon Heinrich Heine
sagte, er sei nur ein grün angestrichener
Winter. Also wollten Touristen vor allem
Sonnengarantie, und die war nur im
Süden zu kriegen.
Seit uns der Klimawandel mit Hitze-
rekorden einheizt, hat sich das geändert.
Plötzlich schwärmt alles von den
Reizen finnischer Wälder oder islän-
discher Gletscher. Höchste Zeit also
für Bernd Brunners Buch „Die Erfindung
des Nordens“ (Galiani Berlin, 24 Euro),
das die Kulturgeschichte dieser Him-
melsrichtung erzählt.
Der Norden hatte, seien wir ehrlich,
kein gutes Image. Die Welt jenseits des
Polarkreises war im allgemeinen Be-
wusstsein bevölkert von Eisbären und

verirrten Forschern, die ihre Schlitten-
hunde fraßen. Das Hohelied der Kultur
dagegen wurde rund ums Mittelmeer
gesungen: Hier traten sich Philosophen,
Religionsstifter, Welteroberer auf die
Fersen, hier erfand man Kunst, Mode,
Wein und regelmäßiges Duschen im
Thermalbad.
Doch das ist vorbei. Inzwischen
kommen die schlechten Nachrichten
aus dem Süden: afrikanische Flüchtlin-
ge, türkische Autokraten, italienische
Populisten, islamistische Islamisten.
Wohin kann man da entspannten
Gewissens reisen? Der Norden dagegen
ist die politische Ideal-Destination. In
Schweden wurde der klimarettende
Schulstreik erfunden, die Schotten
kämpfen gegen Brexit-Bär Boris, die
Kanadier haben den hübschesten
Premierminister. Kein Wunder, dass
Trump Grönland kaufen wollte: Der
Immobilienfuchs ahnt, wo bald neue
Traum-Resorts hochgezogen werden.
Vermutlich beruhte der schlechte
Ruf des Nordens von Anfang an auf
der Selbstverliebtheit des Südens.
Als Alexander der Große von Mazedo-
nien bis Indien alles kurz und klein
schlug, nannte man das die Errich-
tung eines Weltreichs und feiert
ihn dafür bis heute. Zur gleichen
Zeit reiste der Grieche Pytheas als
erster Mensch des Mittelmeers bis
nach Island. Dort gebe es, berichte-
te er, ein Meer, in dem das Wasser
fest werde (Packeis), grünes Feuer
am Himmel (Polarlichter) und Tage,
an denen die Sonne nicht untergehe
(Mittsommernacht). Spätestens
nach der letzten Behauptung waren
sich seine Landsleute sicher, einen Irren
vor sich zu haben, und benutzten seinen
Namen jahrhundertelang als ein anderes
Wort für Betrüger.

seien ein Skandal, langweilige Stühle mit
Spindelrücken, die an Shaker-Möbel aus
dem 19. Jahrhundert erinnerten, obwohl
sie eindeutig erst wenige Jahre alt sei-
en. Man sieht fast, wie der Designer am
anderen Ende der Leitung fassungslos
den Kopf schüttelt. Es trifft sich in dem
Zusammenhang gut, dass Rashid sich vor
Aufträgen nicht retten kann. Das Arbeits-
pensum macht ihm mitunter zu schaffen,
aber so kann er zumindest etwas dazu
beitragen, dass die Welt zu einem besse-
ren Ort wird. Kürzlich hat er ganz ohne
Auftrag eine Kirche entworfen. Das in die
Zukunft weisende Gotteshaus sieht aus
wie ein schief gestelltes, strahlend weißes
Ei und ist über und über mit Kreuzen per-
foriert. Weil ihm die Kirche so viel Freude
bereitete, versuchte er sich gleich danach
an einer Synagoge und einer Moschee.
Jedes Mal kam er zu dem gleichen Ergeb-
nis: weiße Eier, die stolz in den Himmel
ragen und mit Halbmonden und Sternen
dekoriert sind wie ein Koffer von Louis
Vuitton mit den Buchstaben LV.
„Darin spiegelt sich meine Philosophie
wider“, sagt er. „Man braucht im Grunde
nur eine Religion, die dann aber eigentlich
keine Religion mehr wäre, sondern nur ein
Glaube an die Menschheit. Ich nenne sie
die Kirche der weltweiten Liebe.“ Leider
hat sich bislang noch niemand bei ihm
gemeldet, um das Projekt zu realisieren.
Doch kein Problem, es gibt ja noch viele
andere Dinge, die dringend Rashids Auf-
merksamkeit verdienen.n


HARALD PETERS

Captain Future Den babyblauen Sessel „Koop“
entwarf Rashid 2010 für die Firma Martela


Buch & Welt


FOCUS-Autor Uwe Wittstock
über das sensationelle Pech,
wenn die größten Entdeckungen
für Fake News gehalten werden

Warum kam Alexander der Große


nie auf die Idee, Island zu erobern?


Hoch hinaus
Bernd Brunner beschreibt
die Erfindung des Nordens
als Sehnsuchtsziel

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